Raven bis der Pfarrer den Talar durchschwitzt

Die Kirche verliert laufend Mitglieder. Im Versuch, diesen Trend aufzuhalten, lädt die Wasserkirche an der Streetparade zum Raver Gottesdienst ein. Gottes Wort und Techno aus den Boxen – kommt das an? Und kommt das gut?

Streetparade, Raver Gottesdienst
Links und Rechts die Raver:innen und in der Mitte der Pfarrer im Talar. (Bild: Nina Graf)

Eigentlich sollte man in einer Kirche ja die Schultern bedecken, doch der junge Mann, der hier oben ohne, mit neongrüner Badehose und Sonnenbrille in der Wasserkirche seine Arme zum Beat bewegt, scheint dies vergessen zu haben.

Schon von draussen hört man, dass heute etwas anders ist. Keine Orgel: Ein harter Technobeat hallt etwas nach 11 Uhr morgens aus der Kirche aufs Limmatquai heraus.

Es ist Streetparade-Samstag und im Veranstaltungskalender der Reformierten Kirche wird das, was sich hier abspielt, als Anlass beschrieben, der «die Grenzen traditioneller Kirchenerfahrung sprengt». In der Wasserkirche bei der Münsterbrücke findet der dritte Raver Gottesdienst statt. Mit Predigt, Segen und einem gemeinsamen Gebet soll das Feiervolk auf die vermutlich grösste Technoparty der Welt eingestimmt werden.

Streetparade Rave Gottesdienst
Mit Badehose in der Kirche. What would Zwingli do? (Bild: Nina Graf)

Die Idee hatte Christoph Schneider vom Freundeskreis Grossmünster während der Streetparade 2018: «Ich habe die Menschenmassen beobachtet und dachte mir: ‹Hier sind eine Million Menschen, die Kirche ist mittendrin, und da kann es doch nicht sein, dass wir nicht dabei sind.›»

500 Besucher:innen

So ein Bild sieht man selbst zu Weihnachten selten: Die Kirche ist voll. Insgesamt seien es etwa 550 Personen, fast dreimal so viele wie 2023, sagt der Sigrist der Wasserkirche.

Er, der sich sonst um den Unterhalt des Gebäudes kümmert, ist heute für die Crowd Controll zuständig und muss für einmal dafür sorgen, dass nicht zu viele Leute in die Kirche kommen. Aus Feuerpolizeilichen Gründen dürfen nur 200 auf einmal rein. Der Andrang ist gross, einige Leute müssen draussen warten. 

Volles Haus in der Wasserkirche
Volles Haus in der Wasserkirche am Streetparade-Samstag. (Bild: Nina Graf)

In letzter Zeit gab es diesbezüglich bei der Kirche wenig Grund zum Feiern. Der Mitgliederschwund hält an, bei den Reformierten wie auch den Katholiken. 2024 machen die Konfessionslosen erstmals die grösste Gruppe in der Schweiz aus. Gemäss einer Erhebung von Statistik Stadt Zürich gibt es die meisten Kirchenaustritte bei den 25- bis 39-Jährigen. Neue Ideen sind gefragt. Gottes Wort und Techno? 

«Das Tanzen an sich ist ja bereits ein religiöser Akt.»

Johannes Block, Pfarrer Fraumünster

Für Pfarrer Johannes Block steht das nicht im Widerspruch: «Das Tanzen an sich ist ja bereits ein religiöser Akt. Es ist Bestandteil verschiedener Weltreligionen und so findet es sich auch in der Bibel. Die Verbindung von Gottesdienst und Streetparade ist also nicht so abwegig – wir sind das bloss nicht mehr gewohnt.»

Streetparade Raver Gottesdienst
Alle wollen ein Selfie mit dem Pfarrer. (Bild: Nina Graf)

Der Raver Gottesdienst findet bereits zum dritten Mal statt. Für Johannes Block ist es die zweite Streetparade als Stadtbewohner und die erste als Pfarrer. 

Der Deutsche ist seit zwei Jahren Pfarrer im Fraumünster und hier im Raver Gottesdienst Nachfolger des ehemaligen Grossmünster Pfarrers Christoph Siegrist. Dieser galt für viele als Brückenbilder. Einer, der die Kirche zugänglich machen wollte. Und so will es auch sein Nachfolger. «Es muss das Ziel der Kirche sein, dass wir mit der Zeit gehen, offene Türen haben und so mit unserem Angebot verschiedene Menschen erreichen, die ein Interesse an Spiritualität haben», sagt Johannes Block. Der Raver Gottesdienst steche diesbezüglich sicher hervor, passe aber ins vielfältige Angebot der Altstadt Kirchen.

Draussen drückt die Sonne schon am Vormittag. 30 Grad soll es später werden. Innerhalb der Kirchenmauern ist es zwar schattig, doch die tanzende Menge heizt den Raum auf.

Andreas Tröndle, der die Menge zum Tanzen animieren soll, trinkt einen Schluck Wasser. Die Flüssigkeit in den Bechern der Gruppe Raver:innen nebendran ist braun. Rum-Cola heisst es auf Nachfrage.

Streetparade, Raver Gottesdienst
Alessandra und Luiza sind aus Bergamo an die Streetparade gereist und per Zufall in der Kirche gelandet. (Bild: Nina Graf)

Mit Hasenohren in der Kirche tanzen

Das Publikum ist durchaus heterogen. Auf den Stühlen, die am Rand aufgestellt sind, sitzen auch einige ältere Menschen. Doch die grösste Gruppe machen die Raver:innen aus, die verteilt im Kirchenschiff tanzen.

Braungebrannte und knapp bekleidete Körper in Netz-Shirts, Badekleidern und Batik-Leggins.

Auf dem Kopf von Alessandra sind zwei Häschen-Ohren aus Plüsch festgemacht. Sie und ihre Freund:innen sind aus Bergamo angereist. «Als ich gehört habe, es gibt einen Rave in der Kirche, konnte ich das zuerst nicht glauben.» Als Kind hat sie eine Klosterschule besucht, doch heute hat sie mit der Kirche nicht mehr viel zu tun. «Wenn nicht irgendein Anlass stattfindet, gehe ich nicht mehr hin.»

Streetparade, Raver Gottesdienst
Diese zwei Besucher haben ihren eigenen Messwein mitgebracht. (Bild: Nina Graf)

Das Zürcher Duo Vogel + Borto, aus Andrea Vogel und Martina Bortolani bestehend, das neben der Kanzel das DJ-Pult aufgebaut hat, ist sonst im Charlatan anzutreffen. Beide sind konfessionslos. Wie ist es, in einer Kirche aufzulegen? «Wir stehen dem neutral gegenüber. Der Anlass richtet sich ja an alle Menschen, egal ob religiös oder nicht. Der Kirche tut es gut, wenn etwas Leben hineingebracht wird und der Streetparade kann etwas Segen ja nicht schaden.»

Es wäre illusorisch anzunehmen, dass diese 500 Besucher:innen alle aus religiöser Überzeugung da sind.

Organisator Christoph Schneider drückt es so aus: «Die Leute kommen heute nicht unseretwegen nach Zürich. Das ist klar. Aber die Kirche geht mit diesem Angebot auf die Menschen zu und wer will, kommt rein. Ganz ohne das Gefühl einer Verpflichtung, ich muss jetzt in die Kirche.» 

Kurze Predigt, laute Musik

Und so fällt der offizielle Teil der Feier bewusst auch eher kurz aus. Pfarrer Block muss sich am Anfang Gehör verschaffen, obwohl die Musik um halb zwölf kurz heruntergedreht wird, geht sein Psalm im Getön der Menge unter. Die Menschen wollen sich bewegen. Doch beim zweiten Anlauf funktioniert es schon besser. Block teilt zwei Zitate zum Thema Tanz mit der Gruppe, eines vom Choreografen Fred Astaire und eines von Sänger Herbert Grönemeyer.

Streetparade, Raver Gottesdienst
Pfarrer Johannes Block predigt zu einer bunten Gemeinde. (Bild: Nina Graf)

Als Animator Tröndle «Tanzen ist Beten mit dem ganzen Körper», «Tanzen ist Beten mit den Füssen» ins Mikrofon ruft, erinnert das etwas an Gottesdienste der Freikirche ICF oder amerikanische TV-Gottesdienste, doch die energiegeladene Menge verzeiht diese kitschigen Momente und nimmt johlend den Ruf auf.

Beim abschliessenden «Vater Unser» dann wird die Musik auf ein Minimum reduziert und die Lippen vieler Besucher:innen bewegen sich automatisch.

Als der offizielle Teil vorbei ist und sich Pfarrer Johannes Block im mittlerweile durchgeschwitzten schwarzen Talar vor der Türe Luft zufächelt, kommt eine Frau mit Glitzersteinen im Gesicht zu ihm. Ob er ihr den Segen sprechen kann?

Und während die letzten 60 Minuten wohl an der Grenze davon waren, was unter klassischem Pfarrdienst verstanden wird, ist das hier Kerngeschäft: Block hebt seine Hände neben den Kopf der Raverin und spricht ihr Schutz für den Tag aus.

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