Öl, Fett und Amore: Ein Abend im «Napoli»
Im Restaurant Napoli trifft barockes Dekor auf lebendiges Treiben. Zwischen goldenen Engeln und wimmelndem Trubel verschwimmen Realität und Fantasie. Ein Protokoll eines unbeschreiblichen Abends.
Es gibt diese Orte in der Stadt, diese ganz speziellen Ecken, an denen man immer wieder vorbeikommt, sie aber nie richtig wahrnimmt. Vielleicht fährt man an ihnen vorüber, während man im Bus sitzt und unkonzentriert aufs Handy blickt. Vielleicht stolpert man über sie, nachdem man zu viel Glühwein am Firmenapéro getrunken hat.
Es sind Orte, die schon immer da waren und wohl immer da bleiben, und trotzdem verweilen sie meistens als flüchtiger Eindruck in unseren Köpfen. Orte, bei denen man sich denkt: «Das muss ich mir mal genauer anschauen!» und es dann doch nie tut. Das Restaurant Napoli in Wiedikon ist ein solcher Ort für mich. Hunderte, wenn nicht tausende Male bin ich am Napoli vorbeigefahren – und ich bin mir sicher, du auch schon.
Ein Juwel in Wiedikon
Seit Jahrzehnten strahlt es hell an der Ecke zwischen Sand- und Steinerstrasse. Vor allem zu Weihnachten, wenn tausende Lämpchen die Gegend in ein warmes Licht hüllen. Gäbe es einen Preis für Dekoration, wäre das Napoli immer auf dem Podest – auch im Frühling, Sommer oder Herbst.
Unzählige Statuen und Figuren säumen das Restaurant: goldene Engel, bronzene Löwen, üppiger Blumenschmuck, Ritter, Säulen, Uhren, Ornamente. Alles im Übermass, alles auf einmal. Eigentlich ist es ja kaum zu übersehen, dieses Juwel aus Italien, und trotzdem war ich noch nie dort. Das hat sich kürzlich geändert, als ich ein Weihnachtsessen mit Freunden im Napoli feierte. Es folgt ein Liebesgeständnis an einen der einzigartigsten Orte der Stadt.
«Benvenuti a Napoli!», ertönt es, wenn man das Restaurant betritt. Gerardo, der Wirt des Napoli, muss laut rufen, denn in seinem Restaurant ist es sehr lebendig. Schon am frühen Abend wird gelacht, gesungen, Korken knallen, Gläser klirren – 20.00 Uhr im Napoli fühlt sich an wie 2.00 Uhr nachts in anderen Restaurants. Kein Wunder, denn der Alkohol fliesst in Strömen. Als Begrüssung drückt Gerardo seinen Gästen ein Glas Prosecco in die Hand. Immer. Ausnahmslos. Im Napoli herrscht Chaos, doch das ist eines der Gesetze, die nie gebrochen werden.
Trotz überwältigendem ersten Eindruck versuche ich, mich vorzustellen: «Ich habe für neun Personen reserviert, mein Name ist Severin.» – «Ah, Severino! Wie schön, dass ihr da seid!», antwortet Gerardo und wird mich für den Rest des Abends mit italienischem Vornamen ansprechen.
Kunst, Kitsch und Kronleuchter
Ich, jetzt Severino, und meine acht Freund:innen nehmen Platz. Es ist heiss, es ist voll, und es ist viel. Sitzend können wir erstmals die Inneneinrichtung wahrnehmen – sofern das für ein menschliches Auge überhaupt möglich ist.
Tausende Stücke Schnickschnack stapeln sich vom Fussboden bis zur Decke. Säulen, Gemälde, goldene Rahmen, Kronleuchter und hunderte andere Unikate wetteifern um Aufmerksamkeit. Jedes einzelne Stück wohl mit einer eigenen Geschichte. Ein buntes Wimmelbild des Kitsches. Ein Jackson Pollock der italienischen Hochkultur.
Apropos Kunst, diese hängt auch umfassend übereinander, daneben, dazwischen. In Museen spricht man von Petersburger Hängung, hier im Napoli erinnert es eher an künstlerische Camouflage. Gerardo hat früher lange in der Kronenhalle gearbeitet und war fasziniert von den Gemälden dort. Im Napoli findet man zwar keinen Miró oder Picasso, dafür aber Schweizer Künstler:innen wie Alois Carigiet, Alberto Giacometti oder Mario Comensoli – alles neben, zwischen und über goldenen Engeln und florentinischen Säulen. Betrachtet man dieses Gesamtkunstwerk, bleibt es unvorstellbar, dass es von menschlicher Hand geschaffen wurde. Nein, diese Perfektion muss sich von selbst manifestiert haben. Quasi ein Geschenk des Universums wie die Sonne oder der Mond.
Ungesprochene Gesetze
Unser Staunen wird unterbrochen. Bruschetta wird serviert. Das ist das zweite Gesetz im Napoli. Nach dem Prosecco folgt Bruschetta. Immer. Ausnahmslos.
Billy, unser Kellner, hat sie uns auf die Teller gelegt. Er fragt (und merkt sich!) alle unsere Namen – meinen, Severino, kenne er bereits. Mit einem Blick zur Proseccoflasche vermittle ich Billy wortlos, dass wir Nachschub brauchen. Billy, unser aufmerksamer Begleiter des heutigen Abends, versteht sofort und huscht davon. Die zweite Flasche kommt prompt, dicht gefolgt von der dritten, vierten und fünften. Im Napoli wird nicht lange gefackelt, Billy weiss, was seine Gäste wollen, und liefert schnell.
Vertrauen in den Maestro
Irgendwann taucht Gerardo wieder auf. Wie ein Dschinn zaubert er sich aus der Luft: «Tutto bene?», fragt er, und natürlich ist alles bene – wie könnte es an einem Ort wie diesem denn nicht sein? Seine Anwesenheit erinnert uns daran, dass wir eigentlich zum Essen hier sind und nicht nur zum Gläser leeren.
Gerardo erklärt, dass er mehrere Spezialgerichte hat, die nicht auf der Karte stehen: Pasta mit Trüffeln und Schokolade, Pasta mit Limone und Pasta mit Orangen – wir nehmen alle drei als Primi. Als Secondo empfiehlt der Chef «La Tagliata di manzo al extravergine». Ich weiss nicht, was das ist, aber er versichert, dass es köstlich sei. Ich bin an einem Punkt angelangt, an dem ich Gerardo sogar eine Operation an meinem offenen Herzen anvertrauen würde. «Wollt ihr Wein dazu?», fragt er und erntet ein einstimmiges «Ja» – ein Kirchenchor ist nichts dagegen. Er rattert ein paar Empfehlungen herunter, doch wir winken ab und sagen, er solle entscheiden. Meine Augen sagen mittlerweile: «Gerardo, mach mit mir, was du willst.»
Die Stimmung im Raum steigert sich ins Unermessliche. In einem bisher verborgenen Teil des Napoli hat jemand Geburtstag, und das gesamte Restaurant stimmt in ein fröhliches «Happy Birthday» ein. Aus den Nachbartischen werden Freund:innen, aus Billy wird ein Teil der Runde. Währenddessen schwebt Gerardo wie ein Dirigent durch die Szenerie, schenkt Prosecco nach und lobt unsere Wahl des Hauptgangs. Danke, Gerardo, ich liebe dich auch.
Entweder es ist der Wein, die Liebe oder die tausend Tonnen Krimskrams, aber die Luft im Napoli ist aufgeheizt. Zum Glück gibt es noch Leute, die rauchen, denn was das Napoli nicht hat, ist frische Luft. An dieser Stelle also ein Hoch auf alle Nikotinsüchtigen, denen ich hinaus in die kühle Nacht folgen kann. Draussen gönne ich mir eine kurze Pause vom Chaos, hole tief Luft und stürze mich erneut ins Getümmel.
Prima, der Primi ist schon da! Mit der Pasta ist alles basta. Okay, genug schlechte Wortwitze, denn unsere Münder verstummen zeitgleich – diesmal nicht, weil uns die Worte fehlen, sondern weil wir essen wollen. An unserem Tisch herrscht plötzlich klösterliche Ruhe. Alle sind hoch konzentriert dabei, die Pasta aufzugabeln. Nur ein gelegentliches «Mhh» durchbricht die mediterrane Meditation. Ach, übrigens: «Billy, wir brauchen mehr Wein. Grazie!»
Feuer Frei!
Kurze Zeit später rollt ein kleiner Tisch zu uns. Darauf wird ein Feuer entfacht, nicht etwa als Showeinlage, sondern für den Hauptgang. «La Tagliata di manzo al extravergine» wird an Ort und Stelle über offener Flamme zubereitet. Unser Secondo ist, wie sich nun zeigt, ein dünnes Rindersteak mit Rucola, Parmesan und kaltgepresstem Olivenöl. Statt einer Pfanne dient dabei der Teller selbst als Kochfläche – das Feuer springt, das Öl spritzt, und unsere Kinnladen knallen auf die Tischplatte. Das Essen ist, selbstredend, köstlich.
Nach dem Secondo kommt der Dolce, und damit gleich noch das dritte Gesetz des Hauses. Wir bestellen Tiramisu, das mit einer Wunderkerze serviert und mit viel Applaus empfangen wird. Dazu gibt es Erdnüsse und Mandarindli. Immer. Ausnahmslos. Gerardo reicht uns zum Schluss noch einen Limoncello, zumindest glaube ich, mich daran zu erinnern. Das wird allerdings zunehmend schwieriger, denn an diesem Ort scheinen Realität und Fantasie zu verschwimmen. Wir bedanken uns, bezahlen und legen ordentlich Trinkgeld auf den Tisch, bevor wir diesen zauberhaften Ort verlassen. Als wir hinaustreten, frage ich mich: Habe ich das alles nur geträumt?
Zu Tisch mit Márquez und Bulgakow
Das Restaurant Napoli in Wiedikon existiert bereits seit rund 30 Jahren. Während sich die Zürcher Gastronomie zunehmend auf das Neue, Bessere, Schnellere konzentriert, geraten Originale wie das Napoli dabei oft ins Abseits. Als Kulturjournalist und Zürcher finde ich es bedauerlich, wenn statt echter Persönlichkeiten nur noch auf ein Minimum reduzierte Konzepte honoriert werden, die von Fokusgruppen bis ins kleinste Detail getestet wurden. Viele Lokale, die so lautstark auf ihre Individualität pochen, erweisen sich am Ende leider doch nur als belangloser Einheitsbrei.
Umso wertvoller sind jene Orte, die in ihrer ganz eigenen Art so unverwechselbar sind, dass man sie kaum beschreiben kann. Für mich ist das Restaurant Napoli genau so ein magischer Ort. Ein Lokal, das ebenso gut in einem Roman von Gabriel García Márquez oder Michail Bulgakow auftauchen könnte – ein Ort, der voller Krimskrams steckt, an dem aber dennoch stets die menschliche Erfahrung im Mittelpunkt steht. Ein Ort, der aus der Zeit gefallen scheint und dessen blosse Existenz in unserer durchoptimierten Welt fast an ein Wunder grenzt.
(Anmerkung: Ich danke meinen acht Freund:innen, die mich ins Napoli begleitet haben: Andrea Scherrer, Chris Gatsas, Claudia Sägesser, Elisa Hüttner, Kelly Nicole, Lydia Toth, Michael Koritschan und Raphael Weidmann.)
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