Neue Intendanzen, schwere Themen: So starten die Zürcher Theater in die Saison

Zahlreiche Zürcher Theaterhäuser starten dieser Tage in die neue Spielzeit – gleich zwei mit neuer Leitung. Auf den Bühnen erwartet das Publikum viel Originelles und ebenso manche schwere Kost. Eine Übersicht.

Theater Schauspielhaus
In «Die Stille» werde zwar gesprochen, jedoch kein Dialog geführt, sagt Michel Rebosura vom Theater Neumarkt. (Bild: Régis Golay)

Jeanne d’Arc, die auf ihre Hinrichtung wartet, die Vergewaltigung der Medusa durch Poseidon, Foltergeschichten aus dem US-Gefängnis Abu Ghraib und industrielle Fleischproduktion: Die Zürcher Theaterhäuser trauen und muten ihrem Publikum zum Saisonauftakt so einiges zu – und bringen dabei viele starke Frauenfiguren auf die Bühne. 

Im Verlauf der Saison werden aber auch leichtere Töne angeschlagen und neben viel Innovativem dürfen auch kanonische Theaterstücke von Shakespeare oder Max Frisch nicht fehlen. 

Sprünge über den Röstigraben

Sowohl das Schauspielhaus als auch das Theater Neumarkt haben eine neue Intendanz: Im Schauspielhaus übernehmen ab dieser Spielzeit Pinar Karabulut und Rafael Sanchez die Verantwortung, im Neumarkt leitet der gebürtige Walliser Mathieu Bertholet die Geschicke und ein brandneues, 13-köpfiges Ensemble. Nach dem Sprung über den Röstigraben widmet er sich in seiner ersten Inszenierung denn auch direkt: der Rösti.

Der Schweizer Kartoffelklassiker spielt im Stück «Gilberte de Courgenay» eine zentrale Rolle. Das Theaterwerk handelt von der gleichnamigen Schweizer Kellnerin, die in Zeit der Weltkriege zu einer patriotischen Kultfigur wurde. Sie ist nach dem ersten Weltkrieg, wie der neue Intendant Bertholet, von der Welschschweiz nach Zürich gezogen. 

Ruhigere Töne werden in «Die Stille» angeschlagen. «Das ist ein Stück, in dem zwar geredet wird, aber kein Dialog stattfindet», erzählt der Neumarkt-Sprecher Michel Rebosura. Es gehe um Verlust und Trauer, beziehungsweise die Unmöglichkeit zur Trauer. 

Im Oktober folgen die Premieren von «Am Rand», das sich mit den Folterfotos aus dem berüchtigten US-Gefängnis Abu Ghraib auseinandersetzt, und von «Hasenbein», basierend auf einem Text der deutschen Dramatikerin Rebekka Kricheldorf. In dem boulevardesken Stück stehen Spass und Unterhaltung an erster Stelle, ähnelt einer Sitcom und ist «beinahe ein Schwank», so Rebosura. 

Ensemblö Schauspielhaus
«Ensemblö» nennt Mathieu Bertholet vom Theater Neumarkt sein neues Ensemble. (Bild: Régis Golay)

Der Schwank geht schon beim Titel los, denn in ganzer Länge lautet dieser: «In ein nacktes Ohr am Hasenbein der Liebe, oder wie man wider Willen Klötze floht».

Des Weiteren dürfen sich Besucher:innen auf Piet Baumgartners Stück «Schwuler Lehrer» freuen, das den realen Fall eines Lehrers im Zürcher Oberland behandelt, der aufgrund des Drucks freikirchlicher Eltern entlassen wurde. Im Verlauf der Spielzeit kommen auch noch ein Stück über Romy Schneider und eine Adaption des Silvester-Klassikers Dinner for One auf die Bühne. 

Generell werden viele Stücke mit französischer oder Welschschweizer Textgrundlage aufgeführt, der französische Schriftsteller Guillaume Poix wirkt als auteur associe. «Ausserdem arbeitet das Theater Neumarkt neu mit einem modularen Einheits-Bühnenbild», erzählt Rebosura. Dieses bleibe je für eine halbe Spielzeit gleich. Die Idee dahinter sei, nachhaltig mit Materialien und mit dem Fundus umzugehen.

Eine weitere Neuerung: Vor und nach den Aufführungen können sich Zuschauer:innen mit dem «Ensemblö» (so die von Mathieu Bertholet eingeführte Schreibweise) austauschen.

Und wer dem Leserat beitritt, kann sogar mitentscheiden, welche Texte künftig auf die Bühne kommen sollen – aber keine Sorge: «Am Ende ist noch immer der Intendant Schuld», sagt Rebosura.  

Gessnerallee: Schwerpunkt Barrierefreiheit 

Die Produktionen der Gessnerallee stehen in den kommenden Jahren ganz im Zeichen der Barrierefreiheit. Die Dramaturgin Isabel Gatzke, die für das Programm mitverantwortlich ist, erzählt, der Saisonstart stehe unter dem Motto «(un)gentle learning». «Damit wollen wir uns den alltäglichen und auch radikalen Momenten der Veränderung widmen.»

Es gehe um das Zurücklassen von Lebensphasen, Beziehungen und Identitäten, und um die Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit. 

Konkret empfiehlt Gatzke den Zuschauer:innen die intime Performance und Installation «Sleight of Hand» (auf Deutsch: Taschenspielertrick) der sehbehinderten Künstlerin Jo Bannon. «Bannons Gastspiel thematisiert, wie sich blinde und sehbehinderte Menschen durch die Welt bewegen», erzählt sie. 

Für den kommenden Sonntag legt die Dramaturgin Cemile Sahins Lesung aus ihrem Roman «Kommando Ajax» ans Herz, der die Geschichte einer kurdischen Familie im Exil in den Niederlanden behandelt.

Im Anschluss daran folgt die Performance «When the Calabash Breaks». Darin bringen der Tänzer und Choreograf Tiran Willemse und die Komponistin Ngombe Kolonge Sound, spirituelle Kosmologien und Rituale aus der afrikanischen Diaspora auf die Bühne. 

Cemile Sahin
Cemile Sahin liest am Sonntag aus ihrem Roman «Kommando Ajax», der die Geschichte einer kurdischen Familie im Exil in den Niederlanden behandelt. (Bild: Miriam Marlene Waldner)

Ab Oktober ist auch noch die ivorische Choreografin Nadia Beugré für ein Gastspiel mit «Epique! (for Yikakou)» an der Gessnerallee. Beugré nimmt das Publikum auf eine Reise zurück in das Dorf ihrer Vorfahren mit.

Darüber hinaus bleibt der Schwerpunkt auf dem Thema Barrierefreiheit. So werden zahlreiche internationale Künstler:innen an die Gessnerallee eingeladen, es entstehen Produktionen für neurodivergente Menschen oder Menschen mit Sehbehinderung. 

Schauspielhaus: «Schmerzpunkte» und eine «queere Clubnacht»

Auch das Schauspielhaus startet mit einem vollen Programm in die neue Saison unter neuer Intendanz von Pinar Karabulut und Rafael Sanchez.

Am kommenden Eröffnungswochenende gibt es gleich drei Premieren: Die Neu-Indendantin Pinar Karabulut führt bei «Like lovers do (Memoiren der Medusa)» Regie. Das Stück wurde an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt und dreht sich um die Vergewaltigung der Medusa im Spezifischen und um das patriarchale Geschlechtermodell im Allgemeinen. 

«Rafael Sanchez beginnt mit dem sehr schweizerischen Stoff ‹Blösch›», erzählt Sascha Ehlert vom Schauspielhaus. «Das wird ein klassisches Eröffnungsstück, mit einem grossen Ensemble auf der Bühne, und die Stückfassung stammt von Mike Müller.»

Der Komiker ist neuerdings fixes Mitglied des Ensembles. «Blösch» dreht sich um das Schweizer Landleben und die industrielle Fleischproduktion.

Neue Intendanz Schauspielhaus
Pinar Karabulut und Rafael Sanchez, die zwei neuen Intendant:innen des Schauspielhaus Zürich. (Bild: Markus J. Bachmann)

Auch in der dritten Premiere des Eröffnungswochenendes werden die Themen nicht leichter: In «Are you read to die?» geht es um die Zeit zwischen den Jahren 1430 und 1431, die Jeanne d’Arc vor ihrer Hinrichtung im Gefängnis verbrachte.

Im Untertitel heisst das Stück «Liminale Zustände vor der Exekution» und nimmt sich vor, eine Lücke in Friedrich Schillers «Die Jungfrau von Orleans» zu schliessen. Dieser hat in seinem historischen Stoff nämlich das ganze Jahr, in dem Jeanne d’Arc auf ihre Hinrichtung warten musste, ausgelassen. 

Am 25. September folgt dann die Premiere von Max Frischs berühmten – aber ebenfalls makabren – Graf Öderland. «Unsere Eröffnungspremieren gehen an Schmerzpunkte», so Ehlert.

Doch im Verlauf der Spielzeit wird es auch leichtere Kost geben: So kehrt etwa die erfolgreiche Dragshow «Die kleine Meerjungfrau» zurück, ebenso wie das Comedy-Duo Ursus & Nadeschkin.

Im Dezember feiert zudem das Stück «(What you’ll find) on the way to becoming» des New Yorker Duos Ta-Nia Uraufführung – ein Stück, das Ehlert als eine «queere Clubnacht» bezeichnet. Und im nächsten März wird Pinar Karabulut Shakespeares «Ein Sommernachtstraum» auf die Bühne bringen.  

Im Übrigen startet auch das Theater im Seefeld am Donnerstag mit «Forever Young» in die Spielzeit, im Theater Winkelwiese wird seit dem 11. September «Herz aus Polyester» aufgeführt. So haben Theaterfans diesen Herbst die Qual der Wahl.

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