Neubauprojekt «Letzigarten»: 735 Mietenden blüht die Verdrängung

In Zürich Altstetten soll ein Areal mit neuen Wohnungen und einem Hochhaus entstehen. Das Bauunternehmen spricht von einer sozial nachhaltigen Verdichtung, doch Fachleute kritisieren das Vorhaben – auch, weil 735 Menschen ihr Zuhause verlieren werden.

In eineinhalb Jahren werden die ersten Häuser an der Baslerstrasse abgerissen. (Bild: Isabel Brun)

In Altstetten hat man Angst. Um sein Zuhause, seine Zukunft. Daran können auch die Palmen nichts ändern, die den Letzipark zieren. Statt Ferienstimmung herrscht Schwermut an der Baslerstrasse. Bis in eineinhalb Jahren müssen die ersten Bewohner:innen ausgezogen sein, dann kreuzen die Bagger auf. Noch lässt sich erst erahnen, wie das Areal nach dem Abriss der 70er- und 80er-Bauten aussehen könnte: Eine der Aussteckungen ragt weit in den grauen Himmel. 

Das Generalunternehmen Halter will auf dem 17’000 Quadratmeter grossen Grundstück neben dem Letzipark 317 Wohnungen abreissen und 376 neue bauen – unter anderem ein 60-Meter-Hochhaus. Nachhaltig soll der «Letzigarten» werden, doch Stadtplaner:innen und Architekt:innen kritisieren das Projekt. Sie befürchten, dass das Versprechen nicht eingehalten wird und am Schluss nicht mehr Menschen Platz finden werden, als jetzt auf dem Gebiet wohnen.

735 Mieter:innen müssen ausziehen

Sie habe Glück, sagt eine der 735 Mieter:innen. Sie stellt ihre vollen Einkaufstaschen ab, zündet sich eine Zigarette an. Ihren Namen möchte die Frau nicht nennen, aber Auskunft über ihre Situation gibt sie gerne. Sie wohnt alleine und hat weder Kinder noch Haustiere. Ihre finanzielle Lage ermöglicht es ihr, eine Anschlusslösung zu finden. Ihre Nachbarin – eine Rentnerin, die seit fast vier Jahrzehnten in derselben Wohnung lebe –, werde mehr Mühe haben, ist sie sich sicher. Viele der Menschen in der Siedlung würden schon ihr halbes Leben hier wohnen. Sie alle erhielten Mitte Januar die Kündigung: Die einen müssen bis 2025 ausziehen, die anderen bis 2027.

Das Unternehmen würde seine soziale Verantwortung nicht wahrnehmen, kritisieren die Aktivist:innen von Mieten-Marta einige Wochen später in einem offenen Brief an die Halter AG. Hinter dem Neubauprojekt vermutet man ein System, denn in aller Regel könnten 40-jährige Liegenschaften gut instand gehalten werden. Aktuell sei Zürich von einer Stadtentwicklung geprägt, die «bisherige Bewohnende verdrängt und systematisch Mittel- und Geringverdienende von den neu erstellten Wohnungen ausschliesst».

Das Schreiben nehme man zur Kenntnis, so der Firmeninhaber und Grundstückseigentümer Balz Halter auf Anfrage. Mit der Kritik müsse er leben: «Verdichtungsprojekte, die einen Abriss der bestehenden Liegenschaften erfordern, haben in Zürich grundsätzlich einen schweren Stand», sagt Halter. Doch warum wird der Bestand nicht saniert oder aufgestockt, wie von den Aktivist:innen gefordert?

«Was die Personendichte angeht, müssen wir wieder zurück in die 70er-Jahre.»

Andreas Rupf, Raumplaner und ETH-Dozent

Man habe diesen Weg im Rahmen des Studienverfahrens geprüft, doch wieder verworfen, weil er weder ökologischer noch sozialer gewesen wäre als die neue Arealüberbauung. Eine grosse Rolle spielt auch die Rentabilität für den Unternehmer: «Der Nutzen stand nicht im Verhältnis zum Aufwand», sagt der Unternehmer. Wie hoch die Mieten im Ersatzneubau sein werden, kann er jedoch noch nicht sagen. Sie würden sich aber an den dann herrschenden «marktüblichen Preisen» orientieren.

Wie diese im Jahr 2028 aussehen werden, bleibt ein Blick in die Kristallkugel. Eine aktuelle Auswertung aller auf dem Markt verfügbaren 3-Zimmer-Wohnungen im Kreis 9 zeigt: Durchschnittlich müssen Neumieter:innen 2816 Franken pro Monat bezahlen. Mehr als doppelt so viel wie jene, die schon eine Mietwohnung haben.

Als der Letzipark unweit der Siedlung im Jahr 1987 eröffnet wurde, lag der Flächenverbrauch pro Kopf in der Stadt noch bei 39,5 Quadratmetern. (Bild: Isabel Brun)

Mehr Wohnungen, aber nicht mehr Menschen?

Den Vorwurf, dass sie ihrer Verantwortung für die Gesellschaft nicht nachkommen würden, weist Halter von sich: «Durch die bauliche Verdichtung von 20 Prozent mehr Wohnungen mit 50 Prozent mehr Zimmern auf gleicher Grundstücksfläche, werden künftig statt 735 rund 1100 Menschen auf dem Areal wohnen können.» Hinsichtlich der zunehmenden Wohnungsknappheit in Zürich durchaus ein wünschenswertes Ziel. 

Der Raumplaner Andreas Rupf von der ETH ist dennoch skeptisch. Zwar würde er es begrüssen, wenn tatsächlich so viele Menschen in der neuen Überbauung wohnen könnten, weil das eine hohe Dichte von 2,92 Personen pro Wohnung bedeuten würde. Doch der Trend geht ihm zufolge in eine andere Richtung: «In der Regel kommen in Ersatzneubauten mit 20 Prozent mehr Wohnungen nicht viel mehr Menschen unter als im Bestand.» Auch Statistiken zeigen: Lebten in der Stadt Zürich um 1970 noch 2,67 Personen in einer Wohnung, waren es 2022 lediglich noch 1,91. «Was die Personendichte angeht, müssen wir wieder zurück in die 70er-Jahre», so Rupf. 

Der Flächenkonsum lag pro Person und Wohnung in den letzten knapp 20 Jahren relativ stabil bei 41 Quadratmetern. Wobei diese Zahl in vielen Genossenschaftswohnungen deutlich tiefer ist. Grund dafür sind unter anderem Vorschriften, die vorgeben, wie viele Personen in wie vielen Zimmern wohnen sollen. Im privaten Wohnungsbau sind Belegungsvorschriften jedoch unüblich. Und auch sonst gebe es nur wenige Anreize oder Vorgaben, um kleinere Wohnungen anzubieten, so Rupf.

«Wir wollen den Menschen nicht vorschreiben, wie sie zu wohnen haben.»

Balz Halter, Geschäftsinhaber der Halter AG

Auch im «Letzigarten» sollen keine solchen Vorschriften gelten. Denn diese seien zu aufwändig und man will sich nicht zu stark einschränken. Dabei hätte Halter bereits Erfahrungen damit: In Bern entwickelte das Unternehmen eine Genossenschaft. Statt starre Regulierungen einzuführen, soll in Zürich der freie Markt regeln. Steuern will man die Belegungsdichte lediglich durch das Angebot von diversen Wohnformen und -grössen und die Vermietungspraxis: So sollen Einzelpersonen nicht in eine 4,5-Zimmer-Wohnungen einziehen. Eine Garantie kann der Geschäftsführer jedoch keine geben: «Wir wollen den Menschen nicht vorschreiben, wie sie zu wohnen haben.»

Die Frage nach der Verantwortung

Er werde sich wehren, bis zum letzten Tag hier wohnen bleiben, sagt ein älterer Herr. Langsam steigt er die Treppe hinunter. Sein Anzug sitzt perfekt, seine Hand zittert. Als er in den 70er-Jahren in die neu erbaute Siedlung an der Baslerstrasse einzog, befand sich an der Stelle, an der heute der Letzipark steht, noch Brachland. Vor ein paar Wochen informierte der Mieterinnen- und Mieterverband Zürich ihn und die anderen Bewohner:innen über ihre Rechte. Auf Anfrage bestätigt man, dass mehrere Mieter:innen gegen die Kündigungen vorgehen wollen. 

Noch muss das Projekt von der Stadt bewilligt werden. Halter hofft, dass 2028 die ersten Mieter:innen einziehen können. (Bild: Isabel Brun)

Balz Halter kann den Unmut verstehen: «Wohnungskündigungen können sehr einschneidend sein.» Trotzdem seien sie Teil der Realität in Zürich. Um in der dicht bebauten Stadt zukunftsfähige Bauprojekte realisieren zu können, müsse unter Umständen bestehender Wohnraum weichen. Und mit ihm wohl auch ein Teil seiner Bewohnerschaft. 

Den bisherigen Mieter:innen stehe ein eigens dafür zusammengestelltes Team bei der Suche nach einer neuen Bleibe zur Seite, erklärt Halter. Dass es in der Stadt kaum noch bezahlbaren Wohnraum gibt, ist dem Unternehmer bewusst, doch das liege nicht in seiner Verantwortung. Stattdessen sieht er die Politik in der Pflicht: Sie müsse baurechtliche Voraussetzungen schaffen, damit verdichteter gebaut und neuer Wohnraum für die bestehende Bevölkerung geschaffen werden könne.

Dass die Politik am längeren Hebel sitzt, dem pflichtet auch Andreas Rupf bei. «Wohnen ist ein Grundbedürfnis und Konsumgut gleichermassen. Das führt automatisch zu Konflikten», so der Raumplaner. Wie bei vielen anderen Dingen ist seiner Ansicht nach auch hier der Staat in der Pflicht, Menschen vor den Fehlentwicklungen des freien Marktes zu schützen. Er nennt das Beispiel des Gesundheitswesens, wo allen eine Gesundheitsversorgung garantiert wird.

«Ohne gesetzliche Vorgaben oder Anreize, kann man von privaten Unternehmer:innen wie Halter nicht erwarten, dass sie mehr machen, als sie müssen», sagt Rupf. Seine Kritik richtet sich deshalb an alle, die an der stadtplanerischen Zukunft von Zürich involviert sind. Nicht zuletzt auch die Stadt, die das Projekt auf dem Areal von Beginn an begleitet und das Ziel von Verdichtung aus seiner Sicht verfehlt hat.

Stadt sind die Hände gebunden

Dass die Stadt beratend am Planungsprozess teilnimmt, ist bei Arealüberbauungen nicht ungewöhnlich. Bei diesen dürfen Bauträger:innen auf Grundstücken von über 6000 Quadratmetern zehn Prozent mehr bauen, als es die Regelbauweise vorsieht. Im Gegenzug müssen die Wohnungen nach Minergie-Standard erbaut und erhöhte gestalterische Anforderungen erfüllt werden. Aufgrund der Grösse und Lage des Areals wäre in Altstetten auch ein Gestaltungsplan möglich gewesen. Dieser hätte möglicherweise noch mehr Ausnützung erlaubt, wurde aber von Halter wieder verworfen. Denn: Die Pläne hätten zuerst noch vom Stadtparlament bewilligt werden müssen. Zu unsicher, findet Balz Halter. 

«Die Stadt Zürich kann private Eigentümer:innen nicht dazu zwingen, zusätzliche Wohnungen auf ihrem Grundstück zu bauen.»

Anatole Fleck, Mediensprecher vom Amt für Städtebau

Diese Problematik kritisierte auch schon ETH-Forscherin Sibylle Wälty gegenüber Tsüri.ch. Die Baubranche würde oft das Verdichtungspotenzial nicht ausnutzen, weil die Grundordnung zu wenig Dichte zulasse und mit den Gestaltungsplänen zu wenig Rechtssicherheit vorliege. «Wer baut, tut dies meist nur noch innerhalb der Grundordnung, weil das Risiko, dass keine Baubewilligung erteilt wird, sonst zu hoch ist», sagt Wälty. Statt auf mehr Dichte setzt deshalb auch Halter lieber auf weniger Risiko.

Hätte die Stadt nicht mehr herausholen können? Nein, heisst es beim Amt für Städtebau. «Die Stadt Zürich kann private Eigentümer:innen nicht dazu zwingen, zusätzliche Wohnungen auf ihrem Grundstück zu bauen», so der Medienverantwortliche Anatole Fleck. Während nicht dichter gebaut werden dürfe, als die Bau- und Zonenordnung vorschreibe, existiere keine Mindestgrenze. Es gebe durchaus Parzellen, die die maximale Dichte nicht ausnutzen. Nicht so beim Projekt «Letzigarten»: Dort werde die Dichte ausgeschöpft, sagt Fleck.

Für die Bewohner.innen an der Baslerstrasse nur ein kleiner Trost. Kaum jemand von ihnen wird nach dem Abriss der Siedlung wieder zurückkehren können. Wohin sie die Reise führt, wisse sie noch nicht, sagt eine Mieterin. Sie spricht gebrochenes Deutsch, in den Händen hält sie zwei Tüten mit leeren PET-Flaschen. Die Frau wirkt verzweifelt: Bis 2025 muss sie eine neue Wohnung gefunden haben. Ihr Haus gehört zu den ersten, die dem Erdboden gleichgemacht werden sollen. Die Aussteckung mitten in der Siedlung erinnert sie täglich daran.

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