Nationalrat Islam Alijaj: «Ich fühle mich pudelwohl im Parlament»

Islam Alijaj (SP) wurde am Montag in Bern als Nationalrat vereidigt. Er ist der erste Politiker im Parlament mit Zerebralparese, einer Nervenkrankheit, die seine Sprache einschränkt. Tsüri.ch hat den ehemaligen Gemeinderat an seinem ersten Tag von Albisrieden nach Bern begleitet.

Islam Alijaj sitzt im Rollstuhl und hat eine Sprechbehinderung. Damit er sich im Bundeshaus verständigen kann, braucht er Carla Ruckstuhl, seine Assistenz. (Bild: Lara Blatter)

«Wie willst du mit deinen Fingern die Schwurhand machen? Islam, du kannst den Eid nicht ablegen. Du kannst nicht schwören.»

«Ich schwöre auch nicht, ich werde das Gelübde auf die Verfassung ablegen.»

«Für den Schwur hättest du vorher in die Physio müssen.»

Islam Alijaj sitzt mit seinem langjährigen Freund und Fussballtrainer der Familie, Marco Previtali, im Tram Richtung Hauptbahnhof. Danach geht es weiter nach Bern ins Bundeshaus, denn dort startet um 14.30 Uhr die 52. Legislatur der Bundesversammlung. Knapp 50 Nationalrät:innen erlebten gestern ihren ersten Sessionstag, darunter Alijaj.

Die neuen Parlamentarier:innen haben die Wahl, entweder schwören sie auf Gott oder geloben die Verfassung. Später am Tag wird Alijaj im Bundeshaus das Gelübde ablegen und vereidigt. 

Aber noch sitzen Alijaj und Previtali im 3er-Tram. Welches Tram der Politiker nimmt, spielt eine Rolle und ist sogleich Politikum. Als Rollstuhlfahrer muss er jeweils ein Cobra- oder Flexity-Tram abwarten. Denn in Zürich sind längst nicht alle Trams rollstuhlgängig. Auch wenn sie es laut Behindertengleichstellungsgesetz eigentlich sein müssten. Viele Menschen mit Behinderungen können in der Schweiz kein selbstbestimmtes Leben führen und das, obwohl es in der Verfassung ein Verbot der Diskriminierung aufgrund von Behinderung gibt.

Ein Grund von vielen, weshalb Alijaj in die Politik ging. Aber noch sind politische Inhalte nicht Thema an diesem Morgen im Tram. Die beiden witzeln über Alijajs Finger, die aufgrund seiner Behinderung verbogen sind. Sie sprechen über Gott und schwärmen vom Bundeshaus. «Ich bewundere Islams Willen. Er beugte sich nicht seinem Schicksal. Und es gelang ihm, mich zu politisieren – früher interessierte mich Politik wenig. Er erreicht und berührt Menschen», sagt Previtali über seinen Freund, der jetzt Nationalrat ist. Alijaj reagiert verlegen, die beiden lachen.

Nur mit Assistenz auf Augenhöhe

Alijaj lebt seit seiner Geburt mit Zerebralparese: Eine Nervenerkrankung, die seine Beweglichkeit und seine Sprache einschränkt. Seine Aussprache ist undeutlich. Was dazu führt, dass er oft unterschätzt wurde. «Früher dachten viele, dass ich geistig behindert bin», sagte der SP-Politiker in einem Gespräch im Sommer auf Tsüri.ch. Das Bild von Behinderten in der Gesellschaft sei verzogen. «Wir gelten als arme, hilflose Geschöpfe, die man versorgen muss.» 

Dass man Alijaj nicht versorgen muss, ist mittlerweile klar. So klar, dass am 22. Oktober 95’054 Zürcher:innen seinen Namen auf den Wahlzettel schrieben. Dies katapultierte ihn vom elften auf den siebten Listenplatz und somit mitten in den Nationalrat. 

Alijaj hat einen Migrationshintergrund, sitzt im Rollstuhl und hat eine Sprechbehinderung. Eigenschaften, die erfolgreiche Politiker:innen sonst nicht haben. Doch als die Resultate eintrafen und immer mehr Gemeinden ausgezählt waren, wurde klar: Er schafft es. Doch nur mit Unterstützung kann er barrierefrei am Parlamentsalltag teilnehmen. 

Sein Wahlkampf kostete ihn 220’000 Franken und viel Energie. Zwei Drittel des Geldes brauchte er, damit er auf Augenhöhe mit den anderen Kandidat:innen Wahlkampf führen konnte. Quasi um seinen Nachteil, seine Behinderung, auszugleichen. 

Termine fixen, Worte wiederholen und Getränk hinhalten

Am Hauptbahnhof angekommen, stösst jene Person, die eben diesen Nachteil ausgleicht, dazu: Carla Ruckstuhl. Sie ist eine von vier Sprachassistenzen des 37-Jährigen und sorgt dafür, dass die Menschen Alijaj verstehen. Wie die beiden im Duo funktionieren, zeigen sie sofort. Sein Telefon klingelt, sie nimmt es entgegen und begrüsst: «Grüezi, hier ist die Verbalassistenz von Herrn Alijaj.» Kurz halten die beiden Rücksprache, Ruckstuhl fixt einen Termin, legt auf und gibt ihm wortlos sein Telefon zurück.

Sie weicht ihm an diesem Tag kaum von der Seite, wiederholt seine Worte in Gesprächen, tippt Mails, zieht ihm die Jacke im Zug aus und reicht ihm sein Getränk mit Strohhalm. Wenn Alijaj von Journalist:innen interviewt wird, sagt er einen Satz, macht Pause, Ruckstuhl wiederholt den Satz. Auch seine rhetorischen Fähigkeiten mimt sie gekonnt nach.

Ein eingespieltes Team. Ruckstuhl war bereits im Zürcher Gemeinderat seine Assistenz und begleitet ihn in den Rat oder auch in die Kommissionen. «Carla egalisiert meine körperliche Behinderung und schaut, dass mich alle richtig verstehen», fasst Alijaj zusammen. «Die Arbeit ist sehr spannend, ich bin immer hautnah dabei. Es ist aber auch intensiv, du musst immer präsent sein», sagt Ruckstuhl. Damit die Assistent:innen den Politiker überallhin begleiten dürfen, mussten sie eine Geheimhaltungsvereinbarung unterschreiben. Diskretion habe oberste Prioriät für Alijaj.

Er verlässt den Gemeinderat und zieht weiter nach Bern – mit Carla Ruckstuhl und Marco Previtali. (Bild: Lara Blatter)

«Damit sich meine Intelligenz entfalten kann, brauche ich Unterstützung.»

Islam Alijaj

Für sein Nationalratsmandat rechnet der Politiker mit drei Assistent:innen, die je ein 60-Prozent-Pensum haben. Ruckstuhl ist zukünftig als Springerin die vierte im Bunde. Für die drei Stellen hat er drei Geldgeber:innen: die IV, sein persönliches Budget und die Parlamentsdienste. Mit einem Stundenlohn von 30 Franken rechnet der SP-Politiker mit jährlichen Kosten von etwa 120’000 Franken. 

Wenige Tage vor dem Sessionsstart titelte 20 Minuten «Steuerzahler bezahlt Sprechassistenz von Neu-Nationalrat Islam Alijaj», darunter teilweise diffamierende Kommentare. «Solche Beitrage bestärken das Narrativ, dass wir Menschen mit Behinderungen der Gesellschaft nur Kosten verursachen.» Dieses Stigma wolle er umkehren. «Mit meiner Assistenz kann ich an der Politik teilhaben und einen Mehrwert erzeugen», sagt er und doppelt nach: «Damit sich meine Intelligenz entfalten kann, brauche ich Unterstützung.»

Darum werde er sich dafür einsetzen, dass der Staat künftig alle Kosten von solchen Assistent:innen übernehmen wird. Nur so werde Politik barrierefrei, politische Teilhabe sei nun mal nicht gratis. Den Kampf um Gelder ist er sich gewohnt. Bereits im Zürcher Gemeinderat hat der 37-Jährige viele Hürden überwunden. Ein halbes Jahr musste er für die Finanzierung seiner Assistenz kämpfen.

Durch Behinderung bei der SP

Auf dem Perron versammelt sich ein Grüppchen von SP-Politiker:innen. Alle mit demselben Ziel: Bundesbern. Gefahren wird in der 1. Klasse. Jacqueline Badran huscht im Stechschritt vorbei und Anna Rosenwasser stösst mit ihrer Entourage dazu. Mit einer Einwegkamera werden Fotos geknipst, die SP-Campaignerin macht Videos von Rosenwasser und Alijaj für Social Media. Die beiden Senkrechtstarter:innen gilt es schliesslich gekonnt in Szene zu setzen. Denn wie Alijaj gelang auch Rosenwasser eine faszinierende Aufholjagd: Sie machte 12 Listenplätze wett. 

Alijaj ist aufgeregt, er habe keine Ahnung, was auf ihn zukomme. So scheint es auch Rosenwasser zu gehen. Sie beide sind freudig, aber nervös. Später am Tag wird Alijaj aus dem Ratssaal kommen und sagen: «Ich fühle mich pudelwohl.» Der Mann hat Charisma. Er unterhält gekonnt das Zugabteil, kommuniziert seine Gefühlslage und spricht über die kommenden Bundesratswahlen. «Ich bin dafür, dass der Bundesrat per Volkswahl gewählt wird», sagt er. Damit er selbst gewählt werden kann? Er lacht. Es liegt ein «Ja» in der Luft. 

«Wäre ich nicht behindert, wäre ich wohl ein erfolgreicher, reicher Typ geworden, der vielleicht in der FDP wäre», sagte Alijaj in einem früheren Gespräch auf Tsüri.ch über sich selbst. Denn erst seine Behinderung hat ihn zum Sozialdemokraten gemacht. Eine inklusive Gesellschaft könne man nur mit Sozialdemokratie erreichen. Vor sechs Jahren trat er der SP bei. Vor zwei Jahren wurde er in den Zürcher Gemeinderat gewählt.

Céline Widmer ist Alijajs SP-Gotti in der ersten Session. Ihr Rat: Er solls locker nehmen, sich nicht stressen lassen. (Bild: Lara Blatter)

Er will die Behinderten-Revolution

Sein biografische Manifest, wie Alijaj sein Buch nennt, das er dieses Jahr veröffentlichte, bedient sich einer pathetischen Sprache und blickt bis in Alijajs Kindheit zurück. Im Kosovo zur Welt gekommen, kam seine Familie 1987 nach Zürich. Das war sein Glück, liest man immer wieder im Buch. Im Kosovo sei er verkümmert, er wurde versteckt, weil man sich für ihn schämte. In Zürich besuchte er eine Sonderschule, doch aus diesen Settings wollte er sich lösen. Auch die KV-Lehre, die er später machte, fand gegen seinen Willen im geschützten Bereich statt. Ein Studium kam für die IV nicht infrage. Er fühlte sich ausgebremst vom System. 

In der ersten Session sagen die Neuen im Parlament für gewöhnlich noch wenig, «obwohl ich einiges zu sagen hätte». Doch als Vertreter einer Minderheit hat er ein klares Ziel: «Ich will das Behindertenwesen revolutionieren.» In der folgenden Legislatur wird vor allem die Inklusionsinitiative den Politiker und Mitinitiant dieser begleiten. Mit der Volksinitiative will er erreichen, dass Menschen mit Behinderungen mittels freier Wohnungswahl und verbessertem Zugang zu Assistenzleistungen mehr Teilhabe an der Gesellschaft erhalten.

Ein freudiges Wiedersehen vor dem Bundeshaus mit Philipp Kutter (Mitte) und seiner Frau. Künftig politisieren drei Menschen im Rollstuhl im Nationalrat. Nicht auf dem Bild: Christian Lohr (Mitte). (Bild: Lara Blatter)

«Wir Menschen mit Behinderungen wollen mitentscheiden, hier bin ich.»

Islam Alijaj

Damit ihm das gelingt, muss er über die Parteigrenzen hinaus Brücken bauen können. Im Zürcher Gemeinderat war er es sich gewohnt, Anliegen einfach durchzubringen. Die Bürgerlichen waren in der Unterzahl. Auf nationaler Ebene sieht das anders aus. «Das ist kein Problem. Schon im Gemeinderat habe ich gekonnt Allianzen geschmiedet und rechte Politiker:innen für meine Anliegen gewinnen können. Ich werde das auch in Bern schaffen», sagt er selbstbewusst. 

Um 14.30 Uhr ist es dann so weit, das Parlament beginnt seine Wintersession. Als Alterspräsident, derjenige mit der längsten ununterbrochenen Amtsdauer, eröffnet Mitte-Präsident Gerhard Pfister die Legislatur mit einer Rede, gefolgt von Worten des jüngsten Mitglieds, Katja Riem (SVP). Danach folgt die Konstituierung und Vereidigung. Alijaj gelobt, die Verfassung und die Gesetze zu beachten, wie im Tram versprochen. 

«Wir Menschen mit Behinderungen wollen mitentscheiden, hier bin ich», sagt Alijaj als wir ihn in einer kurzen Pause in den Gängen des Bundeshauses nochmals antreffen. Der Ratsbetrieb sei hektisch und eindrücklich – er fühle sich wohl.

14.30 Uhr: Islam Alijaj und Carla Ruckstuhl verschwinden Richtung Ratssaal. (Bild: Lara Blatter)
Barbara Gysi, seine Sitznachbarin für die nächsten vier Jahre, reicht ihm sein Getränk. (Bild: Lara Blatter)

Den Rummel um seine Person an diesem ersten Tag in Bern scheint er zu geniessen. Gemeinderat, Wahlkampf, Inklusionsinitiative, Buchveröffentlichung, Nationalrat – Alijaj hat dieses Jahr alles gegeben, was er konnte. «Im Hinblick auf diesen heutigen Tag habe ich wenig geschlafen.» Sowieso habe er eher wenig Energie. Heisst: «Nach der Session braucht mein Körper erstmal eine Pause, ich muss mich erholen», gibt er zu. 

Doch dass das Jahr 2023 sehr streng für ihn war, sieht man ihm nicht an. Vielleicht auch deshalb, weil es der Körper ist, der Erholung braucht – der Kopf scheint in den Startlöchern seiner politischen Karriere zu sein. Und es hallen die Worte wider, die er am Morgen im Tram sagte: «Ich muss liefern, ich habe den Wähler:innen viel versprochen.» Eine inklusive Gesellschaft ist seine Lebensaufgabe und dieser geht er nach. Mit Schalk und knallharten Argumenten.

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