Nackt im Kunsthaus: Wie Noah für Abramović performt

Die Marina Abramović-Retrospektive im Kunsthaus Zürich ist das kulturelle Highlight des Jahres. Im Zentrum der Ausstellung stehen lebende Kunstwerke. Ein Gespräch über Mut, Grenzen und die transformative Kraft der Performancekunst.

Noah Joel Huber Abramovic Performance
Nackt für die Kunst: Noah Joel Huber performt für Marina Abramović. (Bild: Severin Miszkiewicz)

Severin Miszkiewicz: Hoi Noah, die Ausstellung ist ein Hit. Glaubst du, das liegt am Schockfaktor der Nackt-Performances?

Noah Joel Huber: Menschen interessieren sich einfach für das, was gerade in den Medien ist. Da ist es ganz egal, ob es Abramović ist oder Dubai-Schoggi. Es gibt also sicher Leute, die nur kommen, um nackte Menschen zu sehen. Diese Leute sind nach drei Minuten wieder aus dem Museum. Aber es gibt viele Besucher:innen, die sich auf die Werke einlassen und sich Zeit nehmen.

Abramovićs Kunst ist leicht zugänglich und bewegt viele. In der Ausstellung werden echte Menschen und echte Körper gezeigt. Dadurch wird sofort die Empathie der Besucher:innen aktiviert, und das Kunstwerk wird zugänglicher. Ein Körper ist nun mal direkter und klarer als beispielsweise abstrakte Malerei.

«Morgens wurden wir mit einer Glocke geweckt und mussten dann nackt in einen eisigen Bergbach springen.»

Noah Joel Huber

Es gab auch einen Vorbereitungs-Workshop, richtig?

Ja, eine Woche im berühmt-berüchtigten Hotel Val Sinestra, in Graubünden. Der Legende nach soll es dort sogar spuken – ich habe zwar keine Geister gesehen, aber einige haben ein unheimliches Klopfen in der Nacht gehört. Ein wirklich magischer Ort, an dem wir sehr intensiv gearbeitet haben. Wir mussten unsere Uhren und Handys abgeben, damit wir kein Gefühl für die Zeit hatten.

Auch sonst durften wir uns mit nichts beschäftigen – Schweigen, keine technischen Geräte, keine Bücher, kein Essen, kein Sex, absolut nichts. Besonders das Fasten war für mich herausfordernd. Es war Teil des Prozesses, täglich Tagebuch zu führen und unsere Gedanken sammeln.

Ein Grossteil davon widmete ich allerdings dem, wie sehr ich Essen vermisste. Ernährung ist auch heute noch ein grosses Thema. Beispielsweise ist Alkohol verboten, und auch von Kaffee wird abgeraten. Beides würde den Kreislauf beeinflussen. Der Körper soll möglichst in einem natürlichen, klaren Zustand sein.

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Magischer Ort: Das Hotel Val Sinestra. (Bild: Agnes Monkelbaan)

Was für Übungen musstet ihr machen?

Morgens wurden wir mit einer Glocke geweckt und mussten dann nackt in einen eisigen Bergbach springen. Davor fand ich das immer furchtbar, aber danach war es immer sehr kraftspendend. Daneben gab es viele Körperübungen. Zum Beispiel wurden wir an einem Morgen angewiesen, alles in Slow-Motion zu machen – aus dem Bett aufstehen, Zähne putzen, Gesicht waschen, sich anziehen.

Was normalerweise 15 Minuten dauert, zog sich über Stunden hin. Neben dem Körper haben wir auch den Geist trainiert – sieben Stunden Reis zählen, eine Tür öffnen und schliessen oder stundenlang Primärfarben anschauen. Das war für mich die härteste Übung.

Ziemlich viel Vorbereitung, um einfach nur nackt zu sein.

Ich denke, das ist eher eine Kollateralerscheinung, als dass es im Zentrum der Arbeit steht. Es geht nicht darum, dass die Körper nackt sind, sondern, dass es völlig unaufgeregte Körper sind – ohne Outfit, ohne Schmuck, ohne Make-up. Einfach Körper, reduziert von allem. Die Körper werden auch nicht sexualisiert, sondern sind einfach nur Körper, wie alle anderen auch.

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Körpernahe Kunst: Imponderabilia im Kunsthaus Zürich. (Bild: Franca Candrian ©ProLitteris, Zürich)

Auch wenn es «nur» Körper sind – ich könnte mir nicht vorstellen, nackt vor Hunderten von Leuten zu stehen.

Das kann sich wohl niemand vorstellen. Auch ich habe lange gezögert. Sogar nachdem ich angenommen wurde, war es ein Hin und Her, ob ich es mache oder nicht. Lustigerweise war ich in dieser Zeit oft in der Sauna, und das hat mich recht gut vorbereitet. Einerseits habe ich mich dadurch besser mit meinem eigenen Körper verbunden, andererseits haben sich die «bösen Gedanken» verflüchtigt, was andere von meinem Körper halten könnten.

Ich war teilweise drei- bis viermal die Woche in der Sauna und habe viele, viele nackte Körper gesehen. Jeder Körper ist anders, das weiss man zwar, aber es mit eigenen Augen zu erleben, war irgendwie sehr schön. Diese Erfahrung hat mich mental auf die Abramović-Performance vorbereitet. Kurz bevor es dann aber richtig losging, war der Druck dennoch gross.

Für die Performance muss man einen starken Geist haben. Was geht dir durch den Kopf, wenn du stundenlang nackt stehst?

Das Ziel ist immer, so präsent wie möglich zu sein. Manchmal klappt das super, und ich finde schnell eine Verbindung zu meinem Gegenüber. Aber dann werde ich müde, irgendetwas fängt an zu jucken, und die Präsenz ist weg. In diesen Momenten versuche ich, wieder in den Zustand absoluter Klarheit zu kommen.

Das ist schwierig, weil der Kopf oft im Weg steht. Manchmal denke ich an den Einkauf oder Meetings, die ich noch habe. Einmal habe ich kurz vorher «Life of Brian» geschaut, und plötzlich kam mir während der Performance eine Szene daraus in den Sinn –  und ich fing an zu lachen. Das kann passieren, auch wir sind Menschen.

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Nichts zu lachen: Bei Luminosity müssen Performer:innen 30 Minuten an der Wand hängen. (Bild: Franca Candrian ©ProLitteris, Zürich)

Schaust du Besucher:innen eigentlich in die Augen?

Während Luminosity kommt das gelegentlich vor. Das kommt darauf an, wie ich mich fühle und wie ich das Publikum wahrnehme. Man spürt sehr gut, ob die Leute zugewandt sind. In solchen Momenten schaue ich dann eine Person an und schaffe eine Verbindung zu ihr. Es gibt aber auch das Gegenteil – Leute, die provozieren wollen. Einmal brachte jemand einen dummen Spruch à la: «Mal schauen, wie der Typ reagiert, wenn ich ihm was an den Kopf werfe.»

Ich habe ihn direkt in die Augen geblickt, und nach 30 Sekunden war er weg. Diese Arbeit hat für mich auch mit Machtdynamiken zu tun. Das ist aber natürlich eine Ausnahme. Sehr viele Menschen sind sehr wohlwollend und wertschätzend unserer Arbeit gegenüber.

«Nach einem Tag Arbeit habe ich häufig keine Lust mehr auf Körperkontakt.»

Noah Joel Huber

Du wirst aber nicht nur angeschaut, sondern auch angefasst. Wie ist das?

Wenn ich Imponderabilia performe, berühren mich bis zu 500 fremde Menschen – das ist schon ein seltsames Gefühl. Es passiert automatisch, wenn Besucher:innen zwischen uns Performer:innen hindurchgehen. Natürlich gibt es klare Regeln, dass wir nicht in einem anderen Sinne «angefasst» werden dürfen.

Marina Abramović empfiehlt übrigens, nach jeder Performance lange und gründlich zu duschen, um die Energien loszuwerden, die man währenddessen aufnimmt. Nach einem Tag Arbeit habe ich häufig keine Lust mehr auf Körperkontakt. Die Batterie ist dann manchmal einfach leer.

In einer Beziehung kann das auch zu Problemen führen, aber ich bin sehr dankbar, dass meine Partnerschaftsperson so verständnisvoll und unterstützend ist. Die Person hat mich auch sehr bestärkt darin, mitzumachen.

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Das Original von 1977: Früher stand Marina Abramović selbst für Imponderabilia. (Bild: Giovanna Dal Magro, ©ProLitteris, Zurich)

Hattest du auch schöne Erlebnisse während der Performances?

Ja, es gab und gibt viele sehr schöne Momente. Bei Imponderabilia, der Performance im Türrahmen, wird man sinngemäss viel berührt. Einmal kam eine junge Frau und hat uns kurz mit den Händen am Oberarm berührt.

Es fühlte sich wie eine kleine Verbindung zwischen uns allen an, fast so, als ob sie unseren Körper grüssen wollte, bevor sie hindurchging. Das war ein sehr zarter, warmer und berührender Moment.

Grundsätzlich ist aber weniger mehr. Die Leute sind dazu eingeladen, durchzugehen und nicht, uns mit ihren Händen zu berühren. Es gibt auch viele

Bewegungskünstler:innen, die versuchen, sich irgendwie an uns vorbeizuschlängeln, ohne uns zu berühren – das ist oft sehr witzig. Einmal hat ein Pärchen mit ihrem Kind einen tollen Lösungsweg entwickelt. Zuerst schlüpfte die Mutter an uns vorbei. Dann hob der Vater von der anderen Seite ihr Baby hoch, reichte es über unsere Köpfe, die Mutter nahm es auf der anderen Seite entgegen, und schliesslich ging der Vater durch. Da musste ich mir das Lachen verkneifen.

Denkst du, diese Erfahrung wird dich langfristig prägen?

Ja. Es ist jetzt nicht so, dass ich in meiner Freizeit nackt einkaufen gehe oder den Müll herausbringe, aber diese Erfahrung ist wirklich einzigartig. Die intensive Vorbereitung und die Performances haben mich körperlich und mental herausgefordert und mir eine neue Perspektive auf meinen Körper und meine Präsenz gegeben, die ich aus meiner bisherigen Arbeit nicht so gekannt habe. Das ist aber auch ein Privileg. 

Etwa 850 Leute haben sich beworben, darunter sehr gute Performer:innen, und nur 23 wurden ausgewählt. Natürlich ist es eine Erfahrung, die nur wenige Menschen auf diese Art machen können. Aber so prestigeträchtig, das alles klingt, geht es im Kern um ganz grundsätzliche, menschliche Themen. Und in Bezug auf das, ist es bestimmt eine Erfahrung, die noch lange nachwirkt.

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