SP-Gemeinderatskandidatin

Mit Humor und Kopftuch: Vera Çelik will ins Zürcher Stadtparlament

Sie ist 19, Muslima und will die erste Zürcher Politikerin mit Kopftuch werden. Vera Çelik kandidiert nächstes Jahr als Gemeinderätin und hält den Kritiker:innen schon jetzt den Spiegel vor.

Vera Çelik sitzt auf einem Stein vor dem Palamentsgebäude Zürich
Vor dem Parlamentsgebäude neben der Bullingerkirche sitzt Vera Çelik. Sie absolviert bis zu den Wahlen ein Praktikum als administrative Mitarbeiterin bei den Jungsozialist:innen. (Bild: Jenny Bargetzi)

Vera Çelik sitzt in ihrem Kinderzimmer im Kreis 11. Hier wohnt sie seit 16 Jahren zusammen mit ihren Eltern, ihre beiden Geschwister sind inzwischen ausgezogen. Schwamendingen, Affoltern, Seebach – der Nordrand Zürichs war die Kulisse ihrer gesamten Kindheit.

Als dritte Tochter einer türkischen Einwandererfamilie füllte sie mit sieben Jahren mit einem pinken Glitzerstift die Stimmzettel ihrer Eltern aus, die das Behörden­deutsch kaum verstanden. Immer «Ja» bei Migration und Asyl, «weil ich dachte: Wir sind doch migriert, wir sind angepasst – also muss Migration etwas Gutes sein», erzählt Çelik. Über Jahre stimmte sie damit faktisch für die SVP.

Heute ist sie 19 Jahre alt und will im März für die SP im Kreis 11 in den Gemeinderat gewählt werden.

Jenny Bargetzi: Warum kandidieren Sie für den Gemeinderat?

Vera Çelik: Weil sich viele Menschen aus Angst vor negativen Reaktionen nicht wehren. Und ich spreche gern, kann Menschen bewegen und Probleme lösen – das ist eine gute Kombination für Politik.

Wie sind Sie politisch aktiv geworden?

Nach der Sekundarschule habe ich die Lehre als Dentalassistentin abgeschlossen. Ich hatte ein gutes Arbeitszeugnis und war motiviert und fand trotzdem keine Stelle. Über die Gründe kann ich nur spekulieren.

Bitte.

Ich bin Muslima und habe während der Lehre begonnen, ein Kopftuch zu tragen. Nach dem Abschluss verschickte ich 150 Bewerbungen – alle mit Absagen. In rund 40 Fällen fragte man mich, ob ich bereit wäre, ohne Kopftuch zu arbeiten. Das war die Zeit, in der ich begann, politisch aktiv zu werden.

War das ein bewusster Entscheid?

Nein, ich habe mich nicht von heute auf morgen dazu entschieden, Politikerin zu werden. Es hat sich ergeben. Die Energie, die ich freiwillig und manchmal unfreiwillig in politische Arbeit gesteckt habe, hat sich aber sehr gelohnt.

Inwiefern?

Im April hatte ich den Vorfall mit SRF und Stefan Büsser. Ich war plötzlich mittendrin, und es war das erste Mal, dass ich etwas in dieser Dimension erlebt habe. Irgendwann musste oder durfte ich das wohl erleben.

2022 trat Vera Çelik der Partei der Jungsozialist:innen (Juso) bei, 2025 wurde sie in die Geschäftsleitung der SP Migrant:innen Schweiz gewählt. Im Oktober schrieb sie erste politische Vorstösse – zwei zu Lernenden in Zürich, eine zu einer Tierarztpraxis mit Sozialtarif und eine zum Schutz von Lehrpersonen vor Diskriminierung wegen des Kopftuchs. 

Grössere mediale Aufmerksamkeit erhielt Çelik jedoch bereits nach der eidgenössischen Jugendsession 2024, als sie in einer Rede soziale Ungleichheit thematisierte. Ein Video dieser Rede verbreitete sich kurz darauf in rechten Kreisen auf den sozialen Medien.

Schweizweit bekannt wurde sie im April dieses Jahres, als sich Comedian Stefan Büsser in der SRF-Sendung «Late Night Switzerland» an einem satirischen Witz versuchte, in dem er Çelik mit Nils Fichter, dem Präsidenten der Jungen SVP, und einem Sprengstoffgürtel verglich – eine Darstellung, die nahelegte, Çelik sei wegen ihres Kopftuchs eine Terroristin. 514 Personen reichten daraufhin eine Beschwerde bei der SRG-Ombudsstelle ein. Diese untersuchte den Vorfall und bezeichnete die Sequenz später als «diskriminierend und die Menschenwürde verletzend». Çelik reagierte mit einem Video auf Instagram. Das Video ging viral – und katapultierte sie mitten in den politischen Diskurs.

Was hat der Vorfall mit Ihnen gemacht?

Ich war auf einmal «die SP-Politikerin mit dem Kopftuch». Menschen schrieben mir Briefe und forderten mich als «gewählte Politikerin» auf, Verantwortung zu übernehmen – obwohl ich gar nicht gewählt bin. In einem Artikel wurde ich sogar als «Parteifunktionärin» bezeichnet.

Hat Ihnen dieser mediale Wirbel den nötigen Schub gegeben, Ihre politische Arbeit voranzubringen?

Vielleicht. Es war das erste Mal, dass ich als Politikerin wahrgenommen wurde. Aber ich wollte eigentlich durch meine Arbeit sichtbar werden, nicht wegen eines Shitstorms. Trotzdem hat es vieles beschleunigt.

Was ist für Sie die grösste Herausforderung, mit dieser plötzlichen Aufmerksamkeit umzugehen? 

Dass Medien schnell ein Bild von mir formen. Ich fühle mich manchmal wie eine «Cash Cow», die sich gut verwerten lässt. Man wird in eine Schublade gesteckt. Nicht von der Partei, aber von den Medien. Da sind junge, interessante Persönlichkeiten, an denen man etwas zeigen kann – nur entspricht das selten der Realität. Und plötzlich soll man das sein, was andere aus einem machen.

Wie sehen Sie sich denn?

Als jemand, der nie gedacht hätte, dass man mit 19 Jahren von den Medien wie eine erwachsene Politikerin behandelt wird. Ich war plötzlich in dieser Rolle, ohne vorher ein Fundament aufbauen zu können. Und: Es gab keine Politikerin, die diese Vorarbeit für mich gemacht hat. Das möchte ich für andere leisten. Wenn in zehn Jahren ein Mädchen mit Kopftuch Politik machen will, soll es ein Plakat von mir sehen und denken: «Boah, die sieht aus wie ich.»

Als junge Muslima in der Schweizer Politik ist Çelik ein Ausnahmefall: Rund 5,8 Prozent der Bevölkerung sind muslimisch, im Parlament sitzen laut dem Tages-Anzeiger lediglich zwei Personen mit muslimischem Hintergrund, der Zürcher SP-Nationalrat Islam Alijaj und der Genfer MCG-Ständerat Mauro Poggia. Eine Parlamentarierin mit Kopftuch gibt es keine.

Denn dies werde immer wieder als Einladung zur Debatte verwendet, als Ventil für Rassismus und Hass, sagt Çelik. Sie bekommt regelmässig Morddrohungen, sexualisierte Gewaltfantasien und islamfeindliche Beschimpfungen. Diese Redaktion hat einige Zusendungen gesehen, manche sind derart verstörend, dass sie hier nicht reproduziert werden sollen. 

Wie gehen Sie mit solchem Hass und Drohungen um?

Mit Humor. Einmal schrieb jemand: «Die Kopftücher kommen in unser Land und scheissen auf uns.» Ich antwortete, dass ich nicht gewusst hätte, dass Kopftücher migrieren und auf Menschen scheissen können. So schaffe ich Distanz – und setze gleichzeitig ein Zeichen.

Auf Instagram teilen Sie selbst auch aus. Kürzlich etwa mit einem Meme über die SVP. Ist das zielführend?

Ich poste Memes und poste manchmal provokante Beiträge. Ob das zielführend ist, darüber kann man diskutieren. Aber es spiegelt die Art, wie man mit uns redet. Ich will niemanden einfach provozieren. Aber wenn ich angegriffen werde, habe ich zwei Optionen: ignorieren oder einen Spass daraus machen. Dann können wenigstens alle lachen.

Çelik polarisiert und verbindet politischen Aktivismus mit Popkultur. Ihre Posts bestehen aus schnellen Schnitten, Selfies, Katzenbildern, unterlegt mit türkischer Musik. Çelik zeigt Alltag, Parteiaktionen, in Reels und Memes. Es ist niedrigschwellige Politik für ein Publikum, das sonst selten angesprochen wird. Über 3300 Menschen folgen ihr auf Instagram, ihr Video als Reaktion auf Büsser wurde über 64’000 Mal gesehen. 

Von der Influencerin zur Politikerin. Orientieren Sie sich an Anna Rosenwasser?

Es ist eine Ehre, mit ihr verglichen zu werden, obwohl Vorbilder für mich ambivalent sind. Anna Rosenwasser ist die erste krasse politische Persönlichkeit, die ich kennengelernt habe. Sie ist mein «Jedi Master» und es ist wie eine «Padawan-Beziehung», in der die Lehren von der Meisterin an die Schülerin weitergegeben werden.

Rosenwasser selbst beschreibt sich auf Anfrage als «Veras Verbündete und Komplizin». «Ich möchte sie unterstützen, ohne sie zu bevormunden», sagt sie, und: «Ich will vorleben, dass Fehlbarkeit und Mehrdimensionalität zu einer Politikerin gehören dürfen.» Soziale Medien seien, ähnlich wie Flyer oder Plakate, ein politisches Werkzeug. «Das ist immer Showroom und Werkzeug zugleich», schreibt Rosenwasser. Mit Tiktok erreiche Çelik zudem Menschen, die sonst der Politik oft fehlen würden.

Gerade junge Menschen mit Migrationsgeschichte, die bislang in der Politik stark untervertreten seien, sagt Jan Suter, Co-Präsident der SP Zürich 11. Çeliks Kandidatur ermögliche ihnen erstmals, politisch sichtbar zu werden und mitzuwirken. Çelik habe eindrücklich gezeigt, wie sie sich gegen Diffamierungen wehre und öffentlichem Druck standhalte.

Mit dem Wahlkampf stehen Sie noch stärker im Fokus – das kann noch mehr Anfeindungen bedeuten. Sind Sie darauf vorbereitet?

Ja, aber ich habe Angst. Ich habe niemanden, der meine Nachrichten filtert, mein Engagement plant oder mich unterstützt – keine PR, keine professionelle Betreuung. Die einzige Rückendeckung, die ich in meiner Arbeit bekomme, ist von meiner Familie und meinen Freund:innen. Dafür bin ich sehr dankbar. Trotzdem lasse ich der Angst ihren Platz, solange sie mir nicht schadet.

Und wenn Sie gewählt würden?  

Mein Ziel ist, im März wenigstens der Bezeichnung «gewählte Politikerin» näherzukommen. Jetzt bin ich es nur in Leserbriefen. Ich möchte, dass meine Nichten nicht über dieselben Themen diskutieren müssen wie ich. Das ist ein kollektiver Wunsch vieler Menschen mit Migrationsgeschichte. 

Schon jetzt bin ich stolz, dass ich in politischen Räumen sichtbar bin. Früher habe ich Stimmzettel mit Glitzerstift ausgefüllt, ohne wirklich zu verstehen, was ich da tue. Heute kandidiere ich für den Gemeinderat. Ich hoffe, dass viele Kinder mit Glitzerstift einmal denselben Weg gehen – vielleicht ohne die Shitstorms.

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jenny

Bachelorstudium der Psychologie an der Universität Zürich und Masterstudium in politischer Kommunikation an der Universität von Amsterdam. Einstieg in den Journalismus als Redaktionspraktikantin bei Tsüri.ch. Danach folgten Praktika bei der SRF Rundschau und dem Beobachter, anschliessend ein einjähriges Volontariat bei der Neuen Zürcher Zeitung. Nach einigen Monaten als freie Journalistin für den Beobachter und die «Zeitung» der Gessnerallee seit 2025 als Redaktorin zurück bei Tsüri.ch.

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