Für Sozialarbeit fehlt das Geld: Deshalb kommt die PBZ im Winter an ihre Grenzen
Im Winter zieht es viele Menschen in die Pestalozzi-Bibliothek in Zürich. Nicht nur, um Bücher auszuleihen, sondern auch, um sich aufzuwärmen. Dabei kommt es regelmässig zu Konflikten zwischen Besucher:innen. Doch für Sozialarbeitende vor Ort fehlen die Ressourcen.
Öffentliche Bibliotheken, wie die Pestalozzi-Bibliothek Zürich (PBZ), sind nicht nur da, um Bücher und Filme auszuleihen, sie laden auch zum Verweilen ein.
In der Soziologie werden solche Räumlichkeiten auch als sogenannte «Dritte Orte» bezeichnet. Heisst, man kann sich dort ungestört längere Zeit aufhalten, ohne ein Abonnement zu lösen oder etwas konsumieren zu müssen. Auch sanitäre Anlagen wie Toiletten und ein Wickeltisch stehen zur Verfügung sowie kostenlose Computerplätze und freies Internet.
Entsprechend ist die PBZ gut besucht. Hier zieht es alle möglichen Menschen hin: Bücherfans, Eltern mit Kindern, Spielgruppen, Jugendliche, Obdachlose oder Studierende. Verteilt auf die 14 Standorte verzeichnet die Bibliothek rund eine Million Besucher:innen im Jahr.
Im Winter gibt es mehr Konflikte
Das Aufeinandertreffen vieler verschiedener Menschen kann aber auch zu Konfliktsituationen führen. Vor allem im Winter würden diese zunehmen, sagt Lea Schmidt. Sie arbeitet seit mehreren Jahren in der Pestalozzi-Bibliothek Zürich und kennt die Situation gut, möchte jedoch nur anonym Auskunft geben.
«In den kalten Monaten haben wir generell mehr Besucher:innen. Und alle haben ihre eigene Wahrnehmung davon, was die Bibliothek für ein Ort sein soll», sagt sie. «Manche Leute meinen zum Beispiel, es müsse unbedingt leise sein.» Dabei gäbe es keine offizielle Regel.
Sie erinnert sich an eine Situation, wo ein Handy plötzlich Auslöser für einen Streit war. «Als sich ein Besucher an der Theke über die Signaltöne beschwerte, bekam das die Handybesitzerin mit und begann ihn laut zu beschimpfen.»
Was man laut Schmidt im Sommer eher mal auf der Badewiese oder am Bahnhof miterlebt, findet in der kalten Jahreszeit in der PBZ statt – vor allem in der Filiale in der Altstadt.
«So eine Diskussion kann zum Teil rasch eskalieren», sagt sie. Manchmal reiche es, die Leute wegzuschicken, manchmal müsse man auch die Sozialambulanz SIP Zürich oder die Polizei zu Rate ziehen.
«Viele Mitarbeitenden kommen dadurch an ihre Grenzen», sagt Schmidt, «wir sind keine ausgebildeten Sozialarbeiter:innen».
Manche Konflikte bedarfen der Polizei. (Bild: Sofie David) Das Innere der PBZ bietet auch Arbeitsplätze. (Bild: Sofie David) Nebst Medien gibt es auch Toiletten, Kopierer sowie Schliessfächer (Bild: Sofie David)
Wandel des Berufs
Dass es im Winter vermehrt zu Herausforderungen für die Bibliotheksmitarbeiter:innen kommen kann, sagt auch Gabriela Mattmann. Sie leitete von 2012 bis 2018 die PBZ-Filiale in der Altstadt. Es ist der grösste Standort der Pestalozzi-Bibliotheken und erstreckt sich über fünf Stockwerke. Rund 98'000 Besucher:innen hat der Standort im Jahr.
Mattmann bestätigt Schmidts Einschätzung: «In der Bibliothek zu arbeiten bedeutet nicht, im stillen Kämmerchen zu sitzen und Bücher zu sortieren. Man muss auf Menschen zugehen können.»
Während ihrer Zeit als Filialleiterin war vor allem der Umgang mit obdachlosen Personen ein Thema. Ein Besucher sei regelmässig mit viel Gepäck gekommen. «Man sah ihm an, dass er obdachlos war», sagt sie. «Es gab Beschwerden über den Geruch, weshalb ich dann das Gespräch mit ihm gesucht habe.»
Sowas sei nie leicht. «Ich habe immer mein Bestes gegeben, sie auf Augenhöhe zu führen», sagt sie. «In dieser Situation habe ich auch eine Sozialarbeiterin um Hilfe gebeten.»
Irgendwann habe die PBZ Altstadt ihre Hausordnung angepasst und festgehalten, dass man nicht zu viel Gepäck mitnehmen dürfe und Lärm- und Geruchsemissionen vermeiden solle. «Es war wichtig, das irgendwo schriftlich festgehalten zu haben, um darauf verweisen zu können», sagt Mattmann.
Am schwierigsten sei damals der Dialog im Team gewesen. «Es gab viele verschiedene Meinungen. Einige meinten zu Recht, man würde mit dieser Hausordnung auch Menschen ausschliessen», sagt sie. «Aber wir mussten einen Umgang finden.» Die Bibliothek sei für alle da, «das heisst auch, dass man etwas tun muss, wenn es nicht mehr für alle stimmt».
Einen offiziellen Leitfaden oder Anlaufstellen innerhalb der PBZ habe es damals nicht gegeben. «Wir haben uns intern viel ausgetauscht und auch diskutiert.» Es habe sich dann gezeigt, dass diese Themen an Standorten in anderen Quartieren deutlich weniger präsent waren. Vor allem die Filialen in Oerlikon und in der Altstadt seien betroffen, «da diese deutlich grösser und anonymer sind», so Mattmann. Die Erkenntnisse seien in den Umgang der PBZ mit schwierigen Situationen sowie in Weiterbildungen eingeflossen.
Anlaufstelle für obdachlose Personen
An die Änderung der Hausordnung in der Altstadt erinnert sich auch Nicolas Gabriel gut. Er ist Stadtführer und Zeitungsverkäufer beim Strassenmagazin Surprise. 15 Jahre lang war er obdachlos. Die Pestalozzi-Bibliothek an der Zähringerstrasse war damals ein wichtiger Anlaufpunkt für ihn.
«Institutionen für Obdachlose sind zwar sehr gut, aber platzmässig auch beschränkt. Da kann man nicht immer zehn Stunden bleiben.»
Nicolas Gabriel, Surprise Verkäufer und Stadtführer
Vor etwa zehn Jahren sei dies gewesen, als die Bibliothek einen «Riegel vorgeschoben hat», wie er sagt. Damals habe die Zahl der Obdachlosen, die in der PBZ Schutz vor der Kälte gesucht hatten, deutlich zugenommen. «Manche haben sich nicht an die Regeln gehalten, wie etwa, dass man nicht schlafen oder riechende Sachen essen soll.» Es habe dann Reklamationen gegeben, auch wegen des Geruchs. «Für Menschen ohne Obdach ist es speziell schwer, sich zu waschen», sagt Gabriel, genauso sei es mit dem Einhalten von Regeln. «Dazu fehlt oft schlicht die Kraft.»
Schliesslich habe die Direktion eingeführt, dass man das Gepäck draussen lassen müsse. «Das war eine relativ einfache Art, um die Anzahl der Obdachlosen zu regulieren.» Diese hätten nunmal oftmals ihre Habseligkeiten dabei. Er habe damals aber auch Verständnis für das Vorgehen gehabt, sagt Gabriel. «Im Leben gibt es immer Interessenskonflikte. Für die einen ist es eine Lösung, die anderen leiden darunter.»
Dass es Orte wie die PBZ gebe, sei aber vor allem für Obdachlose auch sehr wichtig. «Der Winter ist lange genug und Frühling und Herbst sind auch nicht besonders warm. Es gibt sehr viele Stunden am Tag, wo es draussen unangenehm ist», sagt er.
«Die eigentlichen Institutionen für Obdachlose sind zwar sehr gut, aber platzmässig auch beschränkt. Da kann man nicht immer zehn Stunden bleiben.» Es brauche Räumlichkeiten, wo man sich wohlfühle, wie die Pestalozzi-Bibliothek.
Mittlerweile ist Gabriel nicht mehr obdachlos, doch er kommt weiterhin fast täglich in die Bibliothek: «Ich habe kein Handy, um meine Mails zu lesen und zu beantworten. Dafür gehe ich entweder in die PBZ oder ins Surprise Büro.» Daneben gäbe es in der Stadt eigentlich nur noch das «Kafi Klick», wo man kostenlos elektronische Geräte nutzen könne.
Finanzielle Mittel für Sozialarbeiter:innen fehlen
Wie die PBZ mit Konfliktsituationen umgeht, erklärt Felix Hüppi, Direktor der PBZ. «Wir führen mit unseren Mitarbeitenden regelmässige Schulungen durch», sagt er. Dabei gehe es um die Handhabung schwieriger Situationen. «Aber auch um den Kontakt mit Kund:innen ganz generell», sagt er.
«Bei Konflikten suchen wir zunächst das Gespräch.» Es sei vorgesehen, dass die Mitarbeiter:innen jeweils zu zweit auf die jeweilige Person zugehen, wenn nötig. «Wir schauen auch, dass immer eine erfahrene Person vor Ort ist», sagt Hüppi.
Wenn das Gespräch nicht helfe, habe man einen guten Austausch mit der Sozialambulanz SIP. «Es gibt auch Besucher:innen, die psychische Auffälligkeiten haben. Wenn diese eine Episode haben, ist die SIP eine wichtige Anlaufstelle.»
Im Ernstfall bestehe überdies immer auch die Möglichkeit, die Polizei zu rufen, doch Situationen, bei denen Mitarbeiter:innen der PBZ körperlich bedroht waren, habe es bislang nicht gegeben.
Eine zusätzliche Stelle für eine Person in der Sozialen Arbeit zu schaffen, wäre laut Hüppi «wunderbar», doch «das ist momentan eine finanzielle Frage», sagt er. Aber, «zurzeit ist es so, dass wir das aus dem eigenen Budget zahlen müssten.» Dafür fehlten die finanziellen Mittel.
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Sofie studiert an der ZHAW Kommunikation. Zu Tsüri.ch kam sie 2022 zunächst über das Civic Media Praktikum. 2024 kehrte sie als Projektleiterin und Briefing Autorin zurück und schob noch das Redaktionspraktikum nach. Für die Jungen Jorunalist:innen Schweiz organisiert sie seit mehreren Jahren das Medienfestival «Journalismus Jetzt» mit.