Es brauchte 3 Klinikaufenthalte und eine Drogenüberdosis, bis Anja wieder essen konnte

Mit 12 Jahren begann Anja abzunehmen. Die Komplimente trieben sie weiter an, auch als sie bereits weit unter dem Normalgewicht war. Erst nach drei Klinikaufenthalten und einer Drogenüberdosis begann sie, strukturiert zu essen.

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Meine Lieblingsfarbe ist grau. Heute mag ich diese klassische, unaufgeregte Farbe. Ganz anders in meinen Teenagerjahren: Damals wollte ich auffallen. Mit meinen 1.58 Metern fühlte ich mich zu klein, zu unscheinbar und immer zu dick.

Zu dick sein, dieses Gefühl hatte ich schon immer. Bis heute weiss ich nicht, woher es kam. Mit 12 dachte ich, für mich gibt es keinen Platz in dieser Welt. Ich zog mich zurück und begann, mich zu ritzen. Doch bald nützte dieses Ventil nicht mehr.

Also beschloss ich, nichts mehr zu essen. In einem halben Jahr nahm ich zehn Kilo ab. Die Komplimente und Anerkennung für meinen Gewichtsverlust gefielen mir und spornten mich weiter an. Doch da ich schon vorher nicht dick war, wurde ich rasch untergewichtig.

Mein Umfeld reagierte und ich kam als 13-Jährige zur Behandlung ins Kinderspital Zürich. Ich reagierte wütend und ablehnend, doch insgeheim war ich froh, dass sich jemand um mich kümmerte. Im Spital fühlte ich mich jedoch trotzdem oft unverstanden.

Nach der Klinik magerte ich noch mehr ab

Tatsächlich hielt die Wirkung der Behandlung nicht lange an: Kaum war ich wieder Zuhause, fiel ich in alte Muster zurück. Ja, ich magerte noch mehr ab als zuvor. Als ich mit 15 Jahren nur noch 33 Kilo wog, merkte ich, dass es nicht mehr so weitergehen kann und ich wies mich selbst in eine Klinik ein.

Dieses Mal kam ich auf eine Station, die extra für Anorexie-Patient*innen eingerichtet war. Dort achtete man viel mehr auf die psychische Befindlichkeit und nicht nur darauf, dass der Teller leer war. Ich entdeckte das Malen und konnte mich mit Kunst ausdrücken.

Nach diesem Aufenthalt ging ich weiter in die ambulante Therapie. Jede Woche wurde ich gewogen. Als ich erneut Gewicht verloren hatte, sagte mein Arzt: «Wenn du weiter abnimmst, musst du in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie.» Dieser Satz versetzte mich in Panik.

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Ich ging nach Hause und begann, wahllos zu fressen. Meine Angst, wieder in die Klinik zu kommen, war riesig. In einem halben Jahr kippte ich vom Untergewicht ins Übergewicht. Ein Stress, den ich kaum verkraftete.

In meinem Kleiderschrank stapelten sich Kleider von Grösse 34 bis 42. Die Reaktionen blieben nicht aus. Leute, die ich kaum kannte, sagten: «Oh, jetzt bist du aber dick geworden.» Wieder geriet ich Panik. Erbrechen konnte und wollte ich nicht, also begann ich wieder zu fasten.

Mein Essverhalten war extrem unstrukturiert: An einem Tag stopfte ich alles in mich hinein und danach fastete ich wieder für drei Tage. Ich hatte nichts mehr im Griff und wusste: So kriege ich das nicht hin, ich brauche jemanden, der mir hilft.

Also wies ich mich mit 18 Jahren zum dritten Mal in die Klinik ein. Während dieses Klinikaufenthalts rutschte die Magersucht in den Hintergrund. An ihre Stelle traten nun ganz andere Süchte. Von meinen Mitpatient*innen erhielt ich Drogen, ich begann zu rauchen und Medikamente zu missbrauchen.

Eine Überdosis brachte mich zurück in die Realität

Erst als ich nach einer Überdosis im Spital aufwachte, wurde mir bewusst, wie sehr ich in diese Süchte verstrickt war. Ich wollte nicht sterben. Trotz meiner misslichen Lage wusste ich tief in mir, es würde wieder besser werden. Ich liess die Drogen weitgehend sein und ging weiter zu einem ambulanten Psychologen.

Noch immer hatte ich ein riesiges Durcheinander mit dem Essen. In den nächsten zwei Jahren arbeitete ich in einer geschützten Stelle im Service. Dort lernte ich, regelmässig einer Arbeit nachzugehen, wieder leistungsfähig zu werden und über meine Ängste und Sorgen zu reden. Kunst spielte weiterhin eine grosse Rolle in meinem Leben.

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Sie war und ist mein Ventil, wenn mich etwas bedrückt. Mit 20 startete ich eine Lehre als Floristin und konnte schrittweise im Arbeitsmarkt Fuss fassen. Doch auch in dieser Zeit haderte ich noch oft mit mir selbst.

Aufgrund einer depressiven Verstimmung schaffte ich es manchmal nicht, morgens aus dem Bett zu kommen. Doch ich hatte das Messer am Hals. Ich wusste, das muss nun klappen, da ich schon einmal eine Arbeitsstelle aus diesem Grund verloren hatte.

Das war ein Schlüsselerlebnis: Ich beschloss, nicht mehr Opfer zu sein und zog die Lehre durch. Während dieser Zeit merkte ich auch, dass ich essen musste. Der Beruf war zu anstrengend, als dass ich ihn mit knurrendem Magen hätte bewältigen können.

Heute liegt mir Prävention am Herzen, gerade weil ich weiss, welchen Druck soziale Medien, Werbung und neue Ernährungstrends auf junge Leute ausüben. Als angehende Kunsttherapeutin möchte ich Menschen mit Essstörungen begleiten und mit ihnen arbeiten. Den Klient*innen die Möglichkeit geben, sich mit dem eigenen Körper und der Psyche auseinanderzusetzen. Dabei ist es mein Ziel, dass die Leute ihren Problemen kreativ Ausdruck geben und somit auch wieder zu ihren Ressourcen gelangen können.

Anja* ist 27 Jahre alt und aus Zürich.

*Name der Redaktion bekannt.

Benötigst Du oder eine Person in deinem Umfeld Hilfe oder Beratung? Es gibt verschiedene Organisationen und Beratungsstellen für Menschen mit Essstörungen, an die man sich wenden kann, beispielsweise das «Zentrum für Essstörungen», die «Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen» oder das «Experten-Netzwerk Essstörungen Schweiz (ENES)».

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