Aufstocken, sanieren, abreissen? Leerkündigungen in Oerlikon werfen Fragen auf

In Oerlikon sollen zwei Mehrfamilienhäuser abgerissen werden, weil sie angeblich nicht mehr den Anforderungen an «zeitgerechtes Wohnen» entsprechen. Dabei wurden die Liegenschaften erst vor wenigen Jahren aufgestockt und saniert.

Sieht aus wie frisch gestrichen, soll aber abgerissen werden: Das Wohnhaus an der Viktoriastrasse 15. (Bild: Isabel Brun)

Katharina von Allmen ist wütend, enttäuscht, frustriert.

Vor allem aber zeigt sie Kampfgeist und ist bereit, mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Sie will zeigen, dass Leerkündigungen wie bei den Sugus-Häusern in Zürich kein Einzelfall sind – nur bleibt ihrer Ansicht nach der Aufschrei bei anderen, nicht prominenten Wohnhäusern aus: «Dabei stehen auch hinter kleineren Fällen Menschen wie du und ich.»

An der Viktoriastrasse 13 und 15 sind es insgesamt 18 Mietparteien, die letzten Mai das Kündigungsschreiben erhalten haben.

Sanierung ist erst zwölf Jahre her

Die zwei Wohnhäuser stehen am Rande von Oerlikon in einem Vorstadtquartier ohne eigenen Namen. Wenige hundert Meter weiter oben am Hang schützt eine Wand die Anwohner:innen vom Lärm der Autobahn. In die andere Richtung breitet sich Oerlikon wie ein grobmaschiger Teppich aus. Katharina von Allmen sieht von ihrem Balkon bis nach Kloten.

«Wir dachten, dass wir hier alt werden können.»

Katharina von Allmen, Mieterin Viktoriastrasse 15

Vor 14 Jahren zog sie zusammen mit ihrer Partnerin in die Viktoriastrasse – wenig später wurde ihre Wohnung komplett saniert. Zudem wurden 2009 beide Häuser aufgestockt und die Autogarage zu Wohnraum umgebaut. Geheizt wird nicht etwa mit Öl oder Gas, sondern mit Fernwärme. «Wir dachten, dass wir hier alt werden können», sagt die heute 62-Jährige. Entsprechend geschockt seien sie gewesen, als die Kündigung kam. 

Von Allmen deutet mit dem Finger auf das Nachbarhaus, es ist babyblau gestrichen, die Fenster sind weiss umrahmt. Die meisten Mieter:innen der Viktoriastrasse 13 seien bereits ausgezogen, sagt sie. Das Gebäude sieht alles andere als verlottert aus, im Gegenteil. Der Eigentümer, ein privater Bauunternehmer aus Solothurn, scheint die Liegenschaften mit Baujahr 1940 gut gepflegt zu haben. Das bestätigt auch von Allmen: Reparaturen sind ihr zufolge rasch erledigt worden.

Seit vergangenen Mai kämpft Katharina von Allmen dafür, dass das Haus, in dem sie wohnt, vor dem Abriss gerettet wird. (Bild: Isabel Brun)

Zudem sei er stets freundlich und verständnisvoll gewesen: «Während der Pandemie kam er jenen mit der Miete entgegen, die Einkommensausfälle hatten.» Sie habe ihn nicht als den typischen «Abzocker-Vermieter» wahrgenommen. Dass er die gut erhaltenen Wohnhäuser nun abreissen und durch einen Neubau ersetzen will, enttäuscht von Allmen.

Mieter:innen schlugen Deal vor

Gemäss Kündigungsschreiben würde eine punktuelle Sanierung wegen der haustechnischen Einrichtungen, dem Energiehaushalt und auch in Bezug auf die Anforderungen an «zeitgerechtes Wohnen» zu keiner «nachhaltigen Verbesserung der Situation» führen. Zu diesem Schluss seien Fachleute gekommen, steht geschrieben.

Bei von Allmen löste diese Begründung viel Unverständnis aus. Deshalb wandte sie sich gemeinsam mit anderen Mieterinnen der Hausnummer 15 an den Eigentümer. Im Schreiben unterbreiteten sie ihm auch den Vorschlag, während der benötigten Umbauarbeiten vorübergehend auszuziehen und danach einen höheren Mietzins zu zahlen.

«Viele von uns wohnen bereits über zehn Jahre hier. Wir alle lieben unsere Wohnungen, verweilen gerne im Garten – aus dem Quartier wegziehen zu müssen, zerreisst uns das Herz», sagt von Allmen. 

«Unser gesamtes soziales Umfeld ist in diesem Quartier; unsere Söhne sind hier aufgewachsen, gehen hier zur Schule.»

Fanny Pietzner, Mieterin Viktoriastrasse 15

Er könne diese Gedanken nachvollziehen, steht in der Antwort des Hausbesitzers. Weil man mit dem Ersatzneubau jedoch «der Wohnungsknappheit in der Stadt Zürich entgegenwirken» könne, sei man zum Schluss gekommen, die Wohnhäuser abzureissen. Auch sei es ihm nicht leicht gefallen, «die Bauten meines Grossvaters zugunsten von zusätzlichem Wohnraum zu opfern». 

Wohnungsanzahl wird verdoppelt

Fanny Pietzner ist erschöpft.

Die Wohnungssuche sei zermürbend. Pietzner wohnt mit ihrer Familie seit 2012 an der Viktoriastrasse. Neben den beiden Kindern und der Arbeit bleibe wenig Zeit und wenig Energie, um eine passende Nachfolgelösung zu finden. Dabei sei das Budget nicht einmal zwingend das Problem: «Unser gesamtes soziales Umfeld ist in diesem Quartier; unsere Söhne sind hier aufgewachsen, gehen hier zur Schule. Das hier ist unser Zuhause», so Pietzner.

Als Raumplanerin kann sie den Wunsch, verdichtet bauen zu wollen, verstehen: «Ich befürworte die Idee, eine Stadt nach innen zu entwickeln.» Dass man jedoch ein Haus in diesem Zustand abreissen will und dabei intakte Bausubstanz sowie Gebäudetechnik vernichtet, widerstrebt ihr – zumal das Neubauprojekt das Versprechen von mehr Wohnraum nicht einhalten kann, wie sie sagt.

Eine Überbauung mit 35 Wohnungen plant der Eigentümer auf dem Grundstück; knapp doppelt so viele als es heute sind. Auf der Webseite schreiben die Architekt:innen davon, dass der Wohnungsmix neben kleinen Studios auch grosszügige 4-Zimmer-Wohnungen vorsehe, allerdings zeigt sich bei einem Blick in die Unterlagen: Ein Grossteil davon sind 2.5- bis 3.5-Zimmer-Wohnungen.

Gemäss Pietzners Berechnungen werden deshalb nach dem Abriss nicht viel mehr Personen unterkommen können als heute.

Im Nachbarhaus von Fanny Pietzner sind die meisten Mieter:innen bereits ausgezogen – einige von ihnen seien Familieangehörige des Eigentümers gewesen. (Bild: Isabel Brun)

Der Eigentümer selbst will sich zum Fall nicht äussern und lässt sich durch den Hauseigentümerverband (HEV) Zürich vertreten, der die Wohnhäuser auch verwaltet.

Das Projekt sehe eine «signifikante Erhöhung» der Wohnfläche vor, schreibt der Leiter der Bewirtschaftung, Patrik Schlageter, auf Anfrage. Geplant seien mehr als doppelt so viele Wohnungen wie heute. Zudem soll die Liegenschaft nach den neuesten Qualitätsstandards «mit starkem Fokus auf die bestmöglichen energetischen Massnahmen» gebaut werden. Details zu den Hintergründen des Abrisses könne man jedoch nicht geben.

Genaue Gründe für Abriss bleiben unklar

Rebecca Isler ist aufgewühlt.

Der Gedanke daran, ihre Wohnung per Ende September zu verlassen, macht ihr zu schaffen. Isler heisst eigentlich anders. Sie will im Netz nicht mit ihrem richtigen Namen erwähnt werden. Vor knapp drei Jahren zog sie mit ihrem Partner in die Dachwohnung, die 2009 neu erstellt worden war.

«Egal, in welchem Zustand sich das Haus befindet und wie hoch der Mietzins ist, vor einer Kündigung ist niemand sicher.»

Rebecca Isler (Name geändert), Mieterin Viktoriastrasse 15

Es ist nicht das erste Mal, dass Isler ihr Zuhause wegen eines Neubauprojekts verliert. Ihrer Ansicht nach zeigt der Fall Viktoriastrasse vor allem eines: «Egal, in welchem Zustand sich das Haus befindet und wie hoch der Mietzins ist, vor einer Kündigung ist niemand sicher.»

Wie ihre Leidensgenossinnen kam auch für sie das Einschreiben überraschend: «Mir hat es den Boden unter den Füssen weggerissen – wir dachten, wir hätten hier ein langfristiges Zuhause gefunden.» 

Die letzten Monate seien kräftezehrend gewesen. Im Frühsommer hatte sie zusammen mit Katharina von Allmen und Fanny Pietzner ihre Kündigung angefochten und kann nun dadurch ein halbes Jahr länger bleiben als vom Eigentümer gefordert.

«Jede Liegenschaft ist individuell zu beurteilen, ein Entscheid hängt von zahlreichen Faktoren ab.»

Luca Roncoroni, Medienverantwortlicher Hauseigentümerverband

Wann genau die Bagger auffahren werden, bleibt offen. Auch hierzu wollen sich die Verantwortlichen sich nicht äussern. Verschwiegen gibt sich auch der HEV Zürich.

Die Frage, ob der Verband davon profitiert, dass Eigentümer:innen ihre Liegenschaften durch Neubauten ersetzen – beispielsweise durch das Angebot, seine Immobilie von internen Fachleuten beurteilen zu lassen oder dadurch, dass der HEV als Verwaltung bei einem verdichteten Ersatzneubau in der Regel mehr Mietparteien betreut – könne man nicht beantworten, schreibt der Medienverantwortliche Luca Roncoroni auf Anfrage.

Weiter würde keine klare Richtlinie existieren, die vorgibt, wann ein Wohnhaus abgerissen werden soll und wann nicht: «Jede Liegenschaft ist individuell zu beurteilen, ein Entscheid hängt von zahlreichen Faktoren ab.»

Wie es möglich ist, dass zwei Wohnhäuser mit Fernwärmeanschluss und hohem Ausbaustandard von internen Fachleuten als Abrissprojekt beurteilt werden können, darüber lässt sich nur spekulieren. 

Verdrängt hinter die Stadtgrenze

Eine schmerzhafte Erkenntnis für Katharina von Allmen, die durch ihre Erfahrungen den Glauben an das System ein Stück weit verloren hat. «Es geht nicht darum, dass ich die Beweggründe des Eigentümers nicht verstehen würde, sondern dass ich nicht einverstanden bin, wie mit bestehendem Wohnraum und ihren Bewohner:innen umgegangen wird.» Mit Besitz käme auch Verantwortung, so von Allmen.

Auf die Frage, ob sich ihr Widerstand gelohnt habe, schaut von Allmen resigniert auf den Stapel an Unterlagen, die vor ihr säuberlich sortiert in einer Mappe liegen. «Ich würde es nicht noch einmal machen», sagt sie schliesslich. Deshalb wird sie im April 2026 in eine neu erbaute Siedlung hinter der Stadtgrenze ziehen. Ob sie bis dahin an der Viktoriastrasse bleiben kann, ist unwahrscheinlich.

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