Krank? Selber schuld!
Im 21. Jahrhundert sind unseren Möglichkeiten für eine gesunde Lebensgestaltung kaum mehr Grenzen gesetzt. Bodyforming, Superfood, Gehirnjogging, Paleo-Diät: So heissen die Nachkommen, wenn sich die «machbare Gesundheit» mit der Eigenverantwortung paart. Ihr Sternzeichen? Selbstoptimierung.
Dieser Beitrag ist zum ersten Mal am 01. Oktober 2020 während unseres Fokusmonats zum Thema Gesundheit erschienen. Im Rahmen einer Repost-Woche kramen wir unsere liebsten Artikel aus dem Archiv hervor.
Der perfekte Tag
Gegen 6.30 Uhr weicht mein Tiefschlaf einer leichten Schlafphase. Mit langsam lauter werdenden Waldgeräuschen weckt mich mein Smartphone und informiert mich graphisch über den Verlauf der Nacht. Neun Stunden und sieben Minuten Schlaf: Well done, ich kriege ein Sternchen. Nach einer 10-minütigen Quick- Meditation und einer kalten Dusche sind Geist und Körper revitalisiert. In der S- Bahn scrolle ich durch meinen Feed. Bis zum Arbeitsort habe ich die wichtigsten Nachrichten beantwortet und die restlichen als ungelesen markiert. Weil ich die Treppe nehme, lobt mich meine Fitnessuhr mit einem Smiley. Exakt um zehn Uhr, 16 Stunden nach meiner letzten Mahlzeit, hole ich mir ein Powermüsli vom neuen Slow-Food-Automaten in der Lobby.
Dass ich meinen Arbeitstisch erst gegen Nachmittag auf Sitzhöhe herunterfahre, verdanke ich den neuen ergonomischen Büroschuhen. Dann endlich Feierabend. Ich lasse meinen Blick fünf Minuten lang über die Wolken schweifen – so nehmen die Augen vom vielen Arbeiten am Bildschirm keinen Schaden. Nach dem Core-Workout im Gym gönne ich mir einen 15-minütigen Saunabesuch, bevor ich mich an die Smoothietheke stelle. Später hole ich mir aus dem Bioladen an meiner Strasse frisches Gemüse und getrocknete Algen, die ich unter Anleitung eines Food-Podcasts zu einem leichten Abendessen verarbeite. Erst im Bett kommen mir die Tränen.
Mach dich gesund!
Das Streben nach Gesundheit ist nicht neu. Bereits die alten Griechen beschäftigten sich intensiv mit der Heilung von Krankheiten und empfahlen gesunde Nahrungsmittel und reine Luft für ein langes Leben. Der Durchschnittsmensch konnte mit diesen Tipps allerdings herzlich wenig anfangen. Der Alltag in der Antike war von regelmässigen Hungersnöten und äusserst unhygienischen Zuständen geprägt und Besuche beim Arzt waren in der Regel der Elite vorbehalten. Sogar noch zu Beginn der Neuzeit, als die Lebensstandards der europäischen Bevölkerung bereits deutlich zu steigen begannen, waren die Möglichkeiten für einen «gesunden Lebenswandel» für die meisten Menschen sehr beschränkt.
Heute sieht die Situation jedoch anders aus. In unserem Kulturkreis, der durch allzeit verfügbare Konsumgüter und eine zahlkräftige Mittelschicht geprägt ist, gilt Gesundheit nicht mehr länger als eine Frage der Mittel. Gesundheit ist machbar geworden. Das spiegelt sich wider in einer Gesellschaft, die zunehmend die volle Verantwortung für ihren eigenen Körper übernehmen will. Yes we can. Mit Smoothies in der Hand und Alphawellen im Ohr rennen wir der ewigen Jugend hinterher, überzeugt davon, dass körperliche Perfektion lediglich eine Frage des Lebenswandels ist.
Und während sich die Instagram-Community den Kopf darüber zerbricht, welches «skincare regiment» wohl für Madonnas faltenfreies Gesicht verantwortlich ist, übertreffen sich Biotracking-Startups gegenseitig mit kreativen Ideen für die digitale Körpervermessung. Erst wer beim Dehnen einen Schritt zurück macht, erkennt schnell den neuen Imperativ, den wir uns dadurch geschaffen haben. Er lautet: «Mach dich gesund!».
Das Thema Gesundheit rückt immer mehr in den Vordergrund.
Thomas Abel, Professor am Institut für Sozial- und Präventivmedizin
Infodemics und der Megatrend Gesundheit
Noch vor dreissig Jahren war es relativ einfach, ein gesundes Leben zu führen. Fette vermeiden, Sport treiben, Gemüse essen. Im Kontrast dazu ist heutzutage ein enormer Zeitaufwand damit verbunden, sich alle im Internet auffindbaren Gesundheitstrends anzueignen und sie gegeneinander abzuwägen. Intermediäres Fasten oder nahrhaftes Frühstück? Konstanter Biorhythmus oder ausgiebiges Liebesspiel? Autogenes Training oder progressive Muskelentspannung? Eine solche Überflutung mit Informationen («infodemics») macht es schwierig, den «richtigen» Lebenswandel zu finden. Entsprechend ist das konstante Optimieren und Korrigieren der eigenen Gesundheitsleitung ein ganz natürlicher Bestandteil unseres Alltags geworden.
Die Nachfrage nach vermeintlich gesundheitsfördernden Tabletten, Shampoos, Stühlen, Trainingsplänen, Superfood und Fastenkuren hat in den letzten Jahren denn auch rasant zugenommen. «Das Thema Gesundheit rückt immer mehr in den Vordergrund. Heute sind über die neuen Medien unglaublich viele Informationen zu diesem Thema verfügbar», bestätigt Thomas Abel, Professor am Institut für Sozial- und Präventivmedizin an der Universität Bern.
Was hier schief läuft ist, dass die ‹machbare Gesundheit› auf die Individualisierungstendenzen in der Bevölkerung trifft. Da entsteht manchmal der Kurzschluss, dass machbare Gesundheit auch selbstverschuldete Krankheit bedeutet.
Thomas Abel, Professor am Institut für Sozial- und Präventivmedizin
Dieses neue Streben nach Gesundheit wird deshalb häufig als ein Megatrend bezeichnet, der wie eine Lawine in Zeitlupe riesige Umwälzungen in Wirtschaft und Gesellschaft bewirkt. Als Folge davon ist der Gesundheitsmarkt heute einer der am stärksten wachsenden Wirtschaftszweige überhaupt. Grosse Firmen wie Google, Facebook, Amazon und Microsoft investieren Milliarden in den Gesundheitsmarkt. Der Traum der absoluten Kontrolle über den eigenen Körper scheint greifbar nah. Noch nie waren wir der gesundheitsfanatischen Gesellschaft, die Juli Zeh in ihrem dystopischen Welterfolg «Corpus Delicti» beschreibt, näher.
Machbare Gesundheit = selbstverschuldete Krankheit?
An sich ist das ja begrüssenswert. Unsere Lebenserwartung steigt, Rauchen verkommt zur Subkultur, Fitnesscenter boomen und das Mc Donald’s Logo werden unsere Nachkommen nur noch von den schwimmenden Verpackungen im Mittelmeer kennen. Dennoch verfolgen einige Expert:innen den wachsenden Glauben an die «machbare Gesundheit» mit Besorgnis. Es gehe im modernen Gesundheitsdiskurs eben häufig nicht um das Verhindern von gravierenden Krankheiten, sondern um das Optimieren der eigenen Gesundheit. Also um die Frage: Wie mache ich mich fit?
Angefeuert von finanziellen Interessen impliziert der moderne Diskurs um Gesundheit nämlich häufig, dass jene krank bleiben sprich werden, die nichts für die eigene Gesundheit tun. So entsteht in einer Gesellschaft, die Individualität grossschreibt, für viele Menschen der Druck, die volle Verantwortung für die eigene Gesundheit übernehmen zu müssen.
«Das Problem entsteht, wenn man sagt: ‹Gesundheit ist machbar, also du, Individuum, kümmere dich drum und mach was!›», sagt Thomas Abel. Der normative Druck, sich gesund zu machen, sei in den letzten Jahren stark gestiegen. «Was hier schief läuft ist, dass die ‹machbare Gesundheit› auf die Individualisierungstendenzen in der Bevölkerung trifft. Da entsteht manchmal der Kurzschluss, dass machbare Gesundheit auch selbstverschuldete Krankheit bedeutet.» Immer mehr fühlt es sich deshalb so an, als läge unsere Gesundheit vollends in unserer eigenen Verantwortung. In der Konsequenz verkommt die eigene Gesundheit bloss zu einem weiteren Punkt auf unserer To-Do Liste. Yoga, Avocado essen, Joggen. #selfcare.
Mitverantwortung statt Selbstverantwortung
Deshalb macht sich Thomas Abel für eine neue Sichtweise auf die eigene Gesundheit stark. Statt um Selbstverantwortung handle es sich bei der eigenen Gesundheit doch überwiegend um Mitverantwortung. Obwohl die moderne Gesellschaft uns gerne vormacht, dass alle ihr Glück selber zu schmieden hätten, liegt die Verantwortung für unseren Körper nie ganz bei uns alleine. Denn auch mit milliardenschweren Selftracking-Technologien bleibt der alte Traum der vollständigen Kontrolle über den eigenen Körper eine Utopie. Keine Atemübung, kein Fruchtsaft und kein Luftbefeuchter kann uns schlimme Krankheiten ersparen. Und auch alle unsere geliebten Gesundheitsgurus haben sich letztendlich doch als sterblich entpuppt. Deshalb: Einatmen, ausatmen, loslassen.
An sich ist die Idee der «machbaren Gesundheit» nämlich etwas Schönes. Wir können, nicht zuletzt dank der Fülle an verfügbaren Informationen, tatsächlich gesünder leben. Es lohnt sich allerdings, das persönliche Verhältnis zum Gesundheitsmarkt zu reflektieren. Denn solange wir uns bewusst sind, dass wir für unsere Gesundheit zwar sehr wohl eine Mitverantwortung, allerdings nie die alleinige Verantwortung tragen, und wir nicht jeden verpassten Gesundheitstrend als Todesurteil betrachten, bereitet ein gesunder Lebenswandel viel Freude. Und das ist machbar.
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