Korallensterben: Wie von Zürich aus dagegen angekämpft wird
Die Ozeane unserer Erde werden durch den Klimawandel immer wärmer. Darunter leiden vor allem Korallen. Dabei sind die komplexen Ökosysteme nicht nur wichtig für Meeresbewohner, sondern für Mensch, Tier und Umwelt insgesamt. Dem globalen Problem nimmt man sich nun auch in Zürich an – mit Kunstaktionen und 3D-Druckern.
Im Atelier von Claudia Schildknecht stapeln sich die Bücher zu mehreren Türmen, ein paar Dutzend Schälchen aus Ton liegen ausgebreitet auf einer grossen Holzplatte, Pflanzen umgarnen die Fenster des riesigen Raumes, der wirkt, als wäre er eine einzige Kunstgalerie. Doch an diesem Ort in der Zentralschweiz geht es um andere Ziele als die reine Kunst.
Die weisse Tonfigur, um die es geht, steht auf dem Tisch vor dem Sofa. Es ist das Imitat einer toten Koralle – und ein Teil von «Whitening Out», einem Projekt, das im Spätsommer 2020 in Luzern von lokalen Kunstschaffenden durchgeführt wurde. Insgesamt 450 weisse Korallen aus Ton machten im Brunnen vor dem Löwendenkmal auf die Folgen der Klimakrise aufmerksam: Das Korallensterben und den Gletscherschwund. Initiiert wurde das erste tote Korallenriff der Schweiz vom «Biotop der Relevanz», das Schildknecht vor drei Jahren gegründet hatte, um Wissenschaft und Kunst enger miteinander zu verbinden. Heute zählt das interdisziplinäre Kollektiv um die 12 Mitglieder aus unterschiedlichen Bereichen; auch aus der Bildung, Forschung oder Ökonomie. Ihr nächster Streich findet am 23. April in Zürich statt, wo unter anderem Expert:innen über das Korallensterben referieren werden. Danach gebe es Konzerte und eine Soliparty. Denn «Aktivismus kostet Geld», so die Fotografin.
Schildknecht nimmt das Kunstwerk in die Hand, betrachtet es nachdenklich. «So schön ausgeblichene Korallen aussehen, so verheerend sind die Folgen für die Natur und Umwelt, wenn immer mehr Riffe absterben», sagt sie. Vorsichtig stellt sie die Figur wieder zurück, als könnte sie bei der kleinsten Unachtsamkeit in tausend Teile zerbrechen.
Ein Regenwald, der schwindet
Aktuelle Forschungen zeigen, dass rund die Hälfte der Korallenriffe weltweit bereits abgestorben sind. Und das, obwohl bereits seit Ende der 90er-Jahre Meeresbiolog:innen immer wieder vor dem schnell fortschreitenden Korallensterben warnen. Den Grund für das Phänomen sehen sie unter anderem in den steigenden Temperaturen der Weltmeere aufgrund des Klimawandels. Aber auch die Überfischung und Verschmutzung der Meere macht laut Expert:innen den Korallen zu schaffen. Das sorgt dafür, dass die Zusammenarbeit zwischen den Korallentieren und ihren symbiotischen Algen zusammenbricht und sie regelrecht verhungern. Übrig bleiben Kalkstein-Skelette – ein trauriges Zeugnis der gegenwärtigen Klimakrise. Nur selten würden sich die Organismen wieder erholen. Die UNO spricht von einem Fünftel der Fläche, die bereits irreversibel zerstört ist.
«Reef Restoration Projects sind wichtig, verlieren aber ihre Wirkungskraft, wenn wir die Erwärmung nicht unter 2 Grad hinkriegen.»
Claudia Schildknecht, Fotografin und Aktivistin
Zwar versuche man mithilfe von Nachzuchten das Schlimmste zu verhindern, doch: «Korallen sind Jahrhunderte alt und wachsen nur sehr langsam. Es sind komplexe Ökosysteme», hält Claudia Schildknecht fest. Sie holt ein Buch aus dem Regal, schlägt es auf und deutet auf das Bild einer Koralle im Querschnitt. Wie bei einem Baum zeichnen sich darauf mehrere Rillen ab. Doch auch wenn die Riffe mitunter als Unterwasser-Regenwald bezeichnet werden, seien Korallen keineswegs mit Bäumen vergleichbar, so die 31-Jährige, die neben ihrer Tätigkeit als Künstlerin mit Forschenden aus der ganzen Welt im Austausch steht und wohl jedes erdenkliche Fachbuch über den Klimawandel gelesen hat.
Mit eigenen Augen sah Schildknecht die bleichen Totengräber das erste Mal 2017, als sie für ein Projekt nach Australien reiste, um das Korallensterben fotografisch zu begleiten. Die Fotos mit dem Titel «See You Later, Zooxanthellae!» schlugen hohe Wellen; doch so richtig vorwärts sei es politisch nicht gegangen, erinnert sie sich. Gerade ist das grösste zusammenhängende Riff der Welt, das Great Barrier Reef, erneut von einem Massensterben betroffen – zum vierten Mal innerhalb den letzten sieben Jahre.
Vom Problem zur (Teil-)Lösung
Weshalb das, nicht nur für die Korallen selbst, höchst problematisch ist, erklärt die Meeresbiologin Ulrike Pfreundt im Gespräch: «Nirgends auf der Welt ist die Artenvielfalt auf das Volumen gemessen so hoch wie in Korallenriffen. Sie bieten nicht nur wichtige Versteckmöglichkeiten für Fische oder sind Nahrungsquelle für Kleinstlebewesen, sondern sie schützen auch Küstenregionen vor Erosion, indem sie die Wellenenergie abdämpfen.» Doch auch wir in der Schweiz würden von den Meerestieren in den Tropen profitieren: «Die Pharmaindustrie braucht biochemische Stoffe, die sich in Korallenriffen befinden, um Antibiotika, Krebsmittel oder potente Schmerzmittel herzustellen», so Pfreundt. Für sie ist ebenfalls klar: «Sterben Korallen aus, haben wir alle ein riesiges Problem – nicht nur die Menschen aus Ländern, die nahe den Riffen liegen.» Die genauen Folgen seien jedoch zum jetzigen Zeitpunkt noch kaum abschätzbar.
Ähnlich wie bei Schildknecht führte auch bei der Forscherin die Leidenschaft für das Leben unter Wasser dazu, noch aktiver gegen das Korallensterben vorzugehen. Auf die Idee, mit Hilfe von Tonbausteinen Riffe wieder aufzubauen, kam sie jedoch eher zufällig: «Im Sommer 2019 traf ich die Künstlerin Marie Griesmar, die wie ich daran arbeitete, Riffe wieder aufzubauen, die sich gut als Lebensraum für Fische und Korallen eignen. Meine Arbeit zur optimalen Oberfläche für solche Riffe und ihre Erfahrungen mit Ton-3D-Druck fügten sich perfekt zusammen.» Sie habe nicht lange gezögert, ihre Anstellung bei der ETH gekündigt und zusammen mit Griesmar und der Naturwissenschaftlerin Hanna Kuhfuss das Start-Up rrreefs gegründet. Sie habe endlich aktiv etwas gegen das Korallensterben tun wollen, fasst Pfreundt ihre Entscheidung zusammen.
«Wir müssen Zeit gewinnen»
Letzten September war es nach über zwei Jahren Tüfteln und Planen so weit: Das erste künstliche Riff wurde vor der Küste Kolumbiens ins Meer gesetzt. Mehrere hundert Kilo Ton aus dem 3D-Drucker sollen nun Meerestieren das bieten, wofür früher Korallenriffe zuständig waren. Das Konzept funktioniere bisher gut, sagt die 37-jährige Biologin. Doch noch sei die Herstellung zu aufwendig und zu teuer, um solche Riffe im grossen Stil irgendwo anzusiedeln: «Aber wir bleiben dran. Aufgeben ist keine Option.» Für sie sei auch weiteres Handeln in dem Bereich wichtig; zum Beispiel die Erforschung von resistenteren Korallenarten oder der konsequente Schutz von Teilen der Weltmeere.
«Es ist immer besser, ein Korallenriff zu haben als keines.»
Ulrike Pfreundt, Meeresbiologin
Die Fotografin Claudia Schildknecht befürwortet das Schaffen von rrreefs, findet aber auch klare Worte: «Reef Restoration Projects sind wichtig, verlieren aber sehr wahrscheinlich ihre gesamte Wirkungskraft, wenn wir die Erwärmung nicht unter 2 Grad hinkriegen. Und im Moment scheint das unrealistisch.» Tatsächlich zeigt der jüngste Bericht des Weltklimarats, dass die weltweiten Treibhausgas-Emissionen bis spätestens 2025 beginnen müssten, zu sinken, damit das 1.5-Grad-Ziel erreicht werden kann. Auch Ulrike Pfreundt ist bewusst, dass die künstlichen Riffe aus Ton nicht das Ruder herumreissen werden: «Es geht vielmehr darum, Zeit zu gewinnen und das Artensterben zu begrenzen. Denn es ist immer besser, ein Korallenriff zu haben als keines.»
Mittlerweile steht die weisse Tonfigur zurück im Regal in Schildknechts Atelier in Luzern. Doch schon nächste Woche wird sie in Zürich auf das Korallensterben aufmerksam machen – nicht als Kunstinstallation, sondern als Warnung, für das, was uns bevorstehen könnte.
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Ausbildung zur tiermedizinischen Praxisassistentin bei der Tierklinik Obergrund Luzern. Danach zweiter Bildungsweg via Kommunikationsstudium an der ZHAW. Praktikum bei Tsüri.ch 2019, dabei das Herz an den Lokaljournalismus verloren und in Zürich geblieben. Seit Anfang 2025 in der Rolle als Redaktionsleiterin. Zudem Teilzeit im Sozialmarketing bei Interprise angestellt.