Arbeit neu definiert
Wo fängt Arbeit an und wo hört sie auf? Diese Frage stellte sich unsere Kolumnistin Jane Mumford am 1. Mai, dem Tag der Arbeit.
Was ist eigentlich «Arbeit»?
Ich würde behaupten, das ganze Leben ist Arbeit. Ständig arbeiten wir daran, nicht zu sterben. Wir müssen essen, trinken, schlafen, ein soziales Umfeld pflegen, erst dann wird es gemäss der Maslov’schen Bedürfnispyramide immer gemütlicher.
Aber die Sicherstellung der Grundbedürfnisse alleine ist schon ganz schön viel Arbeit.
Nehmen wir das Beispiel Essen. Essen war schon immer mit viel Aufwand verbunden. Vor allem, als wir noch Selbstversorger:innen waren. Grundnahrungsmittel zu etwas Essbarem weiterverarbeiten, war eine enorme Arbeitsleistung. Ohne Geld als Währung lief dies alles wohl unter normalen alltäglichen Beschäftigungen, vermutlich kochte man vor allem mit und für das nähere Umfeld. Was – wie gesagt – ganz schön viel Arbeit ist!
Aber als «Arbeit» wird im Kapitalismus meistens nur das definiert, was mit Geld entlöhnt wird. Darum ist heute «in einem Restaurant für Fremde kochen» auch «richtige Arbeit», aber «zu Hause für die Familie kochen» einfach nur, naja, «Liebe»?
Obwohl beides mitunter gleich anstrengend sein kann, wie wir aus der Erfolgsserie «The Bear» wissen. Egal, ob ein Familienweihnachtsessen oder ein volles Restaurant: keine Psyche bleibt ungebrochen nach mehreren Stunden am Herd.
Es erinnert an die merkwürdige Situation, dass derzeit Mitarbeitenden eines Kinderhorts für ihre Anstrengungen Geld gezahlt wird, nicht jedoch den Familienmitgliedern, die zu Hause dieselben Kleinkinder den ganzen Rest der Woche erziehen – zum Teil in erschreckend «The Bear» ähnlichen Zuständen!
«Aber wenn alle für alles bezahlt würden – wo kämen wir denn hin?!»
Ins bedingungslose Grundeinkommen, wahrscheinlich. Und glauben wir konservativen Kräfte, wäre der nächste Halt: die Apokalypse!
Ich verstehe natürlich diese Befürchtungen: Wenn Care-Arbeit ebenfalls entlöhnt werden müsste, würde der ganze Kapitalismus, wie er heute aufgebaut ist, innert Tagen implodieren.
Trotzdem wundere ich mich oft darüber, wie «Arbeit» mitunter definiert wird. Der Kampfspruch vom Sozialreformer Robert Owen, der die ganze 1.-Mai-Bewegungen im frühen 19. Jahrhundert indirekt mit-lancierte: «Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit und Erholung, acht Stunden Schlaf!» Seine Definition von «Arbeit» war demnach alles, was nicht Freizeit und Erholung ist.
Auch heute gibt es diese Ansicht: «Arbeit ist etwas, was so anstrengend oder unangenehm ist, dass du es nur für eine Entlöhnung machen würdest.» Im Umkehrschluss darf «echte» Arbeit keinen Spass machen.
«Alle scheinen sich einig zu sein, dass es in Zukunft weniger Jobs für Menschen geben wird.»
Jane Mumford
Auch da gibt es eine Rechtfertigung: «Arbeit ist etwas, wofür es Spezialist:innen braucht, weshalb wir sie für ihre Spezialisierung entlöhnen.» Wenn es also alle machen könnten, kann es keine «echte» Arbeit sein.
Aber bevor wir uns in Umkehrschlüssen verstricken: Gibt es überhaupt einen gemeinsamen Nenner in der Definition von «Arbeit»? Könnte man so ganz generell sagen: «Arbeit ist eine Dienstleistung»? «Arbeit dient mehr als nur dem eigenen Wohl»? Es ist kompliziert.
Aber vielleicht kommt sowieso bald ein grosses Umdenken auf uns zu. Wenn ich Fans der künstlichen Intelligenz glauben soll, dann werden Menschen in der Zukunft kaum mehr in den Dienstleistungsprozess involviert sein – oder höchstens in Form der Programmierung der Maschinen, welche die Dienste dann leisten.
Alle scheinen sich einig zu sein, dass es in Zukunft weniger Jobs für Menschen geben wird. Sprich: weniger Lohnarbeit.
Aber innerhalb des Kapitalismus werden ja kaufkräftige Bürger:innen mit Lohn benötigt, um Dinge zu kaufen, und das ganze System am Laufen zu halten. Das schreit für mich nach dem – du ahnst es schon – bedingungslosen Grundeinkommen!
Und bevor jetzt alle schreien: «Das bedingungslose Grundeinkommen ist der Anfang der Apokalypse!», machen wir doch einfach mal ein Gedankenexperiment, ein «Was-wäre-wenn». Falls es das bedingungslose Grundeinkommen gäbe, und wir auf einen Schlag nur noch die Hälfte der Zeit in Lohnarbeit investieren müssten, um über die Runden zu kommen, was würdet ihr mit der übrigen Zeit anfangen?
Wie sähe euer ideale Tag aus?
Vier Stunden Lohnarbeit, acht Stunden Schlaf, vier Stunden Weiterbildung, vier Stunden Spiel und Spass, vier Stunden Self-Care; kochen, duschen, putzen, Fitness?
Vier Stunden Lohnarbeit, acht Stunden Schlaf, vier Stunden Care-Arbeit für die Familie, eine Stunde Sport, drei Stunden Weiterbildung, vier Stunden herumhängen mit Freund:innen?
«Viele feministische, antikapitalistische Strömungen laden uns dazu ein, Arbeit neu zu definieren.»
Jane Mumford
Oder – ganz selbstlos – vier Stunden Lohnarbeit, acht Stunden schlaf, vier Stunden Care-Arbeit für die Familie, vier Stunden Community-Arbeit; Politik, gemeinschaftliche Gartenpflege, öffentliche Kinderhort-Betreuung, Altersheim-Betreuungsarbeit, vier Stunden gratis anderen Menschen Skills beibringen?
You get the point.
Egal, wo Arbeit heute anfängt und aufhört – viele feministische, antikapitalistische Strömungen laden uns dazu ein, den Begriff neu zu definieren. Und auch die Diskussion um das bedingungslose Grundeinkommen lädt uns ebenfalls dazu ein, den Begriff «Arbeit» zu überdenken.
Und wenn so viele Bewegungen sich am selben Begriff abarbeiten, wäre es vielleicht echt Zeit für ein Umdenken. Oder eine neue Kampfansage: «Acht Stunden schlafen, acht Stunden Freizeit und Erholung, acht Stunden über die Definition von Arbeit diskutieren!»
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Medien. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 2000 Menschen dabei und ermöglichen damit den Tsüri-Blick aufs Geschehen in unserer Stadt. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 2500 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für Tsüri.ch und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 8 Franken bist du dabei!
Natürlich jederzeit kündbar.