«Am liebsten hätte ich, wenn die Besetzung weiter bestanden hätte»
Diese Woche endet die zehnjährige Besetzung auf dem Koch-Areal. Welche Bedeutung haben selbstverwaltete Räume für Zürich und wie können Zwischennutzungen in die Bresche springen? Das Interview mit Richard Wolff, Alt-Stadtrat, Stadtforscher und ehemaliges Mitglied der Bewegung.
Simon Jacoby: Ihre Zeit im Stadtrat war geprägt von Besetzungen: Zuerst mussten Sie die Binz räumen, dann das Labitzke und zuletzt wurden sie aus dem Sicherheitsdepartement ins Tiefbauamt verschoben, weil Ihr Sohn offenbar auf dem Koch-Areal verkehrt hat. Haben Sie die Besetzung dennoch aktiv miterlebt?
Richard Wolff: Ja, sehr intensiv sogar, aber nur von aussen. Bei einem Teil der Besetzer:innen war ich nicht willkommen. Als Chef der Polizei sowieso nicht, aber auch als Vertreter des Gesamtstadtrates schlugen mir aus der Szene nicht nur Sympathiewellen entgegen. Das konnte ich verstehen und habe es akzeptiert. Als Vorsteher des Sicherheitsdepartements war ich jahrelang zuständig für das Areal und habe versucht, das, was in meinem Zuständigkeitsbereich lag, bestmöglich zu regeln. Auch als ich nicht mehr zuständig war, interessierte mich die Entwicklung der Besetzung und ich brachte meine Meinung in die Regierung ein. Im Zusammenhang mit der Parkgestaltung war ich dann wieder direkt involviert in das Projekt.
Nun ist das Ende nah: Was verliert Zürich mit dem Koch-Areal?
Nach der Binz-Besetzung folgte direkt jene auf dem Koch-Areal. Dass diese nun nicht nahtlos in eine weitere Grossbesetzung übergeht, ist eine Zäsur und das Ende einer 17-jährigen Phase. Für jene, die das Areal nutzten und besuchten, geht in erster Linie ein einfach zugänglicher und vielfältiger Begegnungsort verloren. Es geht aber nicht nur um die Leute, die dort gewohnt und gewirkt haben. Diese verlieren nun ihr Zuhause, ihr Atelier oder ihre Werkstatt. Für die vielen anderen Menschen, die dort ein- und ausgingen, verschwindet ein nicht-kommerzieller Treffpunkt. Es geht einer der lebendigsten und kreativsten Orte der Stadt verloren.
Das Koch-Areal war nicht nur Wohnraum, sondern auch Experimentier-, Kultur- und Freiraum. Was davon ist für eine lebendige Stadt besonders wichtig?
Der Ort an sich ist quasi eine realisierte soziale Utopie. Das Koch war ein Ort, wo viele Menschen selbstverwaltet und nicht-kommerziell zusammenlebten, eigene Regeln erfanden und entwickelten. Im Koch entstand viel Neues, sozial, kulturell, ökonomisch und auch ökologisch. Das strahlt in die Stadt aus. Die Menschen, die dort lebten und wirkten, zeigten sich selbst und ihrem Umfeld, dass man auch anders leben kann. Auch wenn das Wort etwas steril klingt: Das Koch-Areal war ein «Labor» und das ist extrem wertvoll für eine Stadt.
«Als Entwurf für eine lebenswertere Gesellschaft ist es wesentlich, dass man sich den Ort selber aneignet.»
Richard Wolff
Die Genossenschaften, die auf die Besetzer:innen folgen, wollen auch unkommerziell und selbstverwaltet bauen.
Das zeigt doch genau den Wert einer Besetzung. Man kann sagen, dass die Besetzer:innen bewirkt haben, dass zumindest nicht-kommerzielle Projektentwickler:innen zum Zug gekommen sind. Diese nehmen auch immer wieder Ideen und Konzepte auf, die in Squats entwickelt und getestet wurden – ich denke da zum Beispiel ans Hallenwohnen, den Selbstausbau oder gemeinschaftsfördernde Architektur – aber am Ende entsteht trotzdem nie die gleiche Art des Freiraums. Am liebsten hätte ich gesehen, wenn die Besetzung noch weiter bestanden hätte.
Freiräume gibt es aber auch sonst in Zürich, zum Beispiel in der Roten Fabrik, wo Sie früher gearbeitet haben und im Vorstand und in der Arbeitsgruppen aktiv waren.
Abgesehen davon, dass in der Roten Fabrik nie gewohnt wurde, wurde das Areal auch immer von der Stadt mit-verwaltet – aller Autonomie zum Trotz. Die Mietverträge werden mit der Stadt abgeschlossen und die städtische Verwaltung hat einen garantierten Sitz im Vorstand. Die Fabrik war also nie vollständig unabhängig und immer auch ein bisschen etatistisch. Zu Beginn floss kein oder nur wenig Geld von der Stadt, doch spätestens mit der Volksabstimmung von 1987 änderte sich das, und man kann sagen, dass die Rote Fabrik zu einer etablierten Kulturinstitution geworden ist, die seither auch mehr Geld für Löhne und Kultur bekommt.
Wie sieht es mit den Zwischennutzungen aus. Können die Zentralwäscherei (ZW) oder der Park Platz die Lücke des Koch-Areals füllen?
Beide können in einem beschränktem Umfang Ersatzräume für das Koch-Areal werden. Tatsächlich muss man auswärtigen Besucher:innen jeweils erklären, dass die ZW keine Besetzung ist, denn sie wirkt teilweise so. Letztlich ist in der ZW aber die Stadt für den Betrieb zuständig und bestimmt im Konfliktfall. Soweit ich weiss, wohnt auch niemand in der ZW. Zudem ist es vom Selbstverständnis her etwas anderes, ob man einen Raum selber erobert, oder ob man diesen bekommt. Es macht einen Unterschied für das Gefühl, selber etwas verändern zu können. Die erfolgreiche Eigeninitiative stärkt den Glauben an die eigene Kraft und an eine mögliche Alternative zum System, das man ja in Frage stellt. Als Entwurf für eine lebenswertere Gesellschaft ist es wesentlich, dass man sich den Ort selber aneignet.
Die Raumbörse, die städtische Zwischennutzungsbehörde, welche auch die ZW und den Park Platz verwaltet, gilt auch als Anti-Besetzungseinheit. Sind Zwischennutzungen schuld, dass Zürich keine Grossbesetzung mehr hat?
Ich will nicht Besetzungen gegen Zwischennutzungen ausspielen. Abgesehen davon sind Besetzungen in aller Regel ja auch Zwischennutzungen. Ich glaube, dass beide ihre Rolle in der Stadt spielen können. Wenn aber organisierte, institutionalisierte Zwischennutzungs-Organisationen in der Absicht eingesetzt werden, Besetzungen zu verhindern, darf man schon fragen, warum Besetzungen überhaupt verhindert werden sollen. Vermutlich geht es um die Wahrung der staatlichen Kontrolle und darum, zeigen zu wollen, dass Freiräume auch staatlich organisiert möglich sind. Bei der ZW reduzierte das Vorgehen der Stadt die Wahrscheinlichkeit einer Besetzung. Nun ist es aber so wie es ist, und wenn es die Koch-Besetzung nicht mehr gibt, wird die Fokussierung auf die ZW zweifellos zunehmen.
Bei den staatlichen Zwischennutzungen ist die demokratische Legitimation höher als bei Besetzungen.
Wie gesagt, ich glaube, dass es Platz für beides hat: Besetzungen und auch institutionalisierte Zwischennutzungen. Es geht in beiden Fällen darum, den ansonsten brachliegenden Raum sinnvoll zu nutzen. In Zeiten absoluter Raumknappheit, sei es fürs Gewerbe, fürs Wohnen oder auch für die Gestaltung von Freizeit, kann beiden Varianten eine demokratische Legitimation zugutegehalten werden. Konfliktreich wird das Verhältnis erst dann, wenn es zu einer Konkurrenz um den gleichen Raum geht. Es ist gut, dass es Zwischennutzungen wie den Park Platz oder die ZW gibt, die als Räume öffentlich zugänglich sind und über eine gewisse Autonomie verfügen. Bei Besetzungen hingegen geht es neben der vollständigen Selbstverwaltung und der Freiheit von Konsumzwängen häufig aber auch um Wohnraum und die selbstbestimmte Form des Zusammenlebens.
Haben die Besetzungen den Boom von kommerziellen Zwischennutzungen wie jene der Firma Interim überhaupt erst ermöglicht?
Ich will nicht über die Firma Interim sprechen, da ich sie nicht kenne. Es geht auch nicht primär um den Aspekt der Kommerzialität von Zwischennutzungen, sondern darum, dass diese «top-down» organisiert, institutionalisiert und kontrolliert sind, privat oder staatlich. Jedenfalls nicht «bottom-up», autonom und «do-it-yourself». Aber sicher, zu einem guten Teil sind die organisierten Zwischennutzungen als Reaktion auf Besetzungen entstanden und auch um diese zu verhindern. Und ausserdem haben die Besetzungen auch gezeigt, dass sich brachliegende Räume nicht nur für soziale Experimente nutzen lassen, sondern auch ein ökonomisches Potenzial aufweisen. Das wurde zwar erstaunlich spät erst entdeckt, dann aber schnell auch ein Geschäftsmodell. Ob dies nun strategisch gegen Besetzungen eingesetzt wird oder nicht, ist zweitrangig. Fakt ist, dass es passiert.
«Wir befinden uns in einer akuten Phase, wo man Menschen ihre Wohnungen wegnimmt.»
Richard Wolff
In den vergangenen knapp zehn Jahren konnten rund 150 Menschen praktisch gratis auf dem Koch-Areal leben. Bald können dort 1000 Menschen wohnen. Es entsteht also deutlich mehr Wohnraum.
Ja, dank den Besetzer:innen wurde der Platz ideal genutzt, zum Wohnen, als Treffpunkt, als Werkstatt. Insofern hat man der Stadt dort auch viel gegeben. Nun folgt auf diesen ge- und belebten Freiraum verdichtetes Wohnen und Gewerbe, das durchaus auch seinen Wert hat. Es wäre einfach schön, wenn an einem anderen Ort wieder ein solcher Freiraum entstehen könnte.
Dann finden Sie es richtig, dass jetzt die Besetzung vorbei ist und mehr Menschen da wohnen können?
Das habe ich so nicht gesagt. Die Stadt hätte ja auch den Wert des Areals in der bestehenden Art der Nutzung anerkennen können und es bestehen lassen, denn in Freiräumen wie dem Koch-Areal werden Sachen ausprobiert, die für die ganze Gesellschaft relevant sind. Wir sprechen immer vom «System Change». Aber wie soll das passieren, mit welchen Methoden und Modellen gelangen wir dorthin? Irgendwo muss der «System Change» doch anfangen, nicht nur theoretisch, sondern ganz praktisch.
Es war richtig und wichtig, das Koch-Areal so zu nutzen und zu beleben, wie es jetzt zehn Jahre lang geschehen ist. Es reicht nicht, nur auf die Anzahl der neu entstehenden Wohnungen zu verweisen. Die Frage ist auch, was verloren geht. Was passiert mit den Menschen, den sozialen Netzen, der Solidarität, den Treffpunkten, die auf dem Koch-Areal entstanden sind?
Bringen Besetzungen etwas im Kampf um bezahlbaren Wohnraum?
Ja klar, sie unterstreichen die Forderung nach bezahlbarem Wohnraum und es ist eine Form des Widerstands gegen die steigenden Mieten. Aktuell befinden wir uns in einer akuten Phase, wo man Menschen mit den sogenannten Ersatzneubauten ihre Wohnungen wegnimmt. Es trifft Tausende, die heute, morgen und in den kommenden Jahren ihr Zuhause verlieren und nicht wissen, wohin sie ziehen sollen. Es ist dramatisch, was im Moment abgeht. Durch die Verdichtung können zwar mehr Menschen in der Stadt leben, aber nicht mehr die gleichen wie zuvor.
Genau wie beim Koch-Areal. Wer vorher dort gewohnt hat, kann sich den Neubau danach nicht mehr leisten.
Ja, sie können es sich nicht leisten und sie wollen es auch nicht. Ihre Kritik am Gesamtsystem ist so tiefgreifend, da geht es nicht nur um die Höhe der Miete, sondern grundsätzlich um die Form des Zusammenlebens. Wo findet man noch Raum, wo man mit hundert anderen Menschen selbstbestimmt zusammenleben und die Regeln selber definieren kann?
Genossenschaften sind auch selbstverwaltet.
Ja, und natürlich kann man fragen, warum sich die Besetzer:innen nicht selber mit einer Genossenschaft für das Areal beworben haben. Das ist nicht passiert. Es ging ihnen nie um diese Form der systemkonformen Institutionalisierung. Es ging um das Experimentieren mit utopischen Formen des Zusammenlebens. Solange wir dem «System Change» nicht kurz bevorstehen, brauchen wir beides: Genossenschaften und Besetzungen. Man darf von den Besetzer:innen aber nicht erwarten, dass sie eine Genossenschaft gründen oder einer beitreten, denn sie verfolgen eine andere Spur.
Was bedeutet es nun für das Quartier, wenn die Besetzung weg ist und ein Neubau kommt?
Die Besetzung hatte Sympathien im Quartier, aber andere wiederum freuen sich, dass nun etwas «Ordentliches und Sauberes» kommt. Die Gentrifizierung des Quartiers wird durch die hier entstehenden Genossenschaftswohnungen nicht angeschoben, die läuft auch ohne dieses Projekt. Viel grösser ist die Lücke, der Verlust, welche das Koch-Areal als gesamtstädtisches Projekt hinterlässt.
Wie es ist, als Linker eine Besetzung zu beenden, konnten Sie beim Binz- und dem Labitzke-Areal erleben. Haben Sie einen Ratschlag an Karin Rykart, die nun die Räumung des Koch-Areals vor sich hat?
Als Ehemaliger will ich keine Ratschläge erteilen. Ich habe immer versucht, möglichst nahe an den Menschen zu sein, möglichst offen und vertrauenswürdig zu kommunizieren. Man muss sehr realistisch sein und darf nicht verschleiern, was tatsächlich vorgeht. Im Prinzip ist bei jeder Besetzung klar, dass es irgendwann zu Ende geht.
Lebt eine Besetzung auch von der Endlichkeit?
Vielleicht, ja. Wäre der Ort ein anderer, wenn man denkt, er bleibt für immer? Wahrscheinlich hätte es einen Einfluss auf das Gefühl des Dort-Seins. Man würde vermutlich früher anfangen langlebigere Bauten zu erstellen, vielleicht auch mehr zu formalisieren. Zumindest in der Schweiz wäre das ein interessantes Experiment. Weltweit und historisch gesehen gibt es aber zahllose Beispiele dafür, wie spontane Besetzungen legalisiert wurden.
Dieser Beitrag erscheint auch in der P.S.-Zeitung vom 17. Februar 2023.
An der Universität Zürich hat Simon Politikwissenschaften und Publizistik studiert. Nach einem Praktikum bei Watson machte er sich selbstständig und hat zusammen mit einer Gruppe von motivierten Journalist:innen 2015 Tsüri.ch gegründet und vorangetrieben. Seit 2023 teilt er die Geschäftsleitung mit Elio und Lara. Sein Engagement für die Branche geht über die Stadtgrenze hinaus: Er ist Gründungsmitglied und Co-Präsident des Verbands Medien mit Zukunft und macht sich dort für die Zukunft dieser Branche stark. Zudem ist er Vize-Präsident des Gönnervereins für den Presserat und Jury-Mitglied des Zürcher Journalistenpreises. 2024 wurde er zum Lokaljournalist des Jahres gewählt.