Knappe Klima-Allianz: Abstimmungen im Kantonsrat werden zur Lotterie

Seit Isabel Garcia von der GLP zur FDP gewechselt ist, herrscht im Kantonsrat eine Pattsituation zwischen den Bürgerlichen und der sogenannten Klima-Allianz. Wer Abstimmungen gewinnt, entscheiden oft Absenzen.

Klima-Allianz Isabel Garcia GLP FDP
Die Pattsituation im Kantonsrat herbeigeführt hat Isabel Garcia. Nach ihrer Wahl wechselte sie die Partei: von der GLP zur FDP. (Quelle: Steffen Kolberg / parlament.ch)

«Wir müssen Kompromisse schmieden oder die Gegenseite dazu bringen, dass sie während wichtigen Abstimmungen aufs WC müssen», sagt Sylvie Matter und lacht. Die SP-Parlamentarierin spricht damit die aktuelle Sitzverteilung im Zürcher Kantonsrat an. 90 Sitze sind auf bürgerlicher Seite, die anderen 90 Sitze sind bei der Klima- und Fortschritts-Allianz, bestehend aus SP, GLP, Grünen, EVP und AL. Diese Parteien spannend in Fragen rund ums Klima, Bildung und Vereinbarkeit Beruf und Familie zusammen.

Die beiden Lager sind seit über einem Jahr gleich gross, entscheidend sind oft die Absenzen oder dann der Stichentscheid des Ratspräsidiums. Dieser enthält sich während den Abstimmungen seiner Stimme, darf dann aber den Entscheid fällen, wenn es unentschieden ist. Seit Mai ist Jürg Sulser (SVP) Ratspräsident. Abgelöst hatte er Sylvie Matter von der SP.

Wie knapp Entscheidungen gefällt werden, zeigte sich am Montag: Der Kantonsrat diskutierte über zwei Vorstösse, die den anhaltenden Lehrpersonenmangel bekämpfen sollen. FDP, SVP und Mitte wollten finanzielle Anreize für höhere Arbeitspensen. SP, Grüne, AL, EVP und GLP forderten hingegen mehr Entlastung für Klassenlehrer:innen. 

Beide Abstimmungen konnten schliesslich die Bürgerlichen für sich entscheiden. Grund dafür waren drei abwesende Politiker:innen in der linken Ratshälfte, rechts fehlten zwei. So kam es zur Pattsituation und der Ratspräsident fällte den Entscheid zugunsten der Bürgerlichen.

Garcias Parteiwechsel führte zum Unentschieden

Die Pattsituation herbeigeführt hat Isabel Garcia. Die Politikerin liess sich im Februar 2023 für die GLP in den Kantonsrat wählen. Elf Tage später wechselte sie ihre Partei. Aus «Grün» wurde «Freisinn» – Garcia schwappte zur FDP über. Dieser Übertritt löste harsche Reaktionen aus. Von Wahlbetrug war die Rede.

Der Präsident der Stadtzürcher GLP Kreis 7 und 8, Benjamin Gautschi, hat danach mit weiteren Personen eine Beschwerde eingereicht: Ende Mai hiessen die Richter:innen am Bundesgericht die Beschwerde gut (wir berichteten). Es bestehe die Möglichkeit, dass Garcia die Wähler:innen getäuscht habe. Ob tatsächlich so eine Täuschung stattfand, wird in einem nächsten Schritt geprüft. Wird der Vorwurf bestätigt, müsste Isabel Garcia ihr Amt im Kantonsrat abgeben.

Doch mit oder ohne Garcia: Entscheide bleiben knapp. 

EVP, Grüne und SVP sind sitzungstreu

Weil im Rat die Verhältnisse knapp sind, geht es um jede einzelne Stimme und darum, welche Partei vollständiger anwesend ist. Sylvie Matter spricht von einem enormen Druck, der auf den Politiker:innen herrsche: «Der Tenor ist klar: Kommt in die Sitzung. Nur wer wirklich krank ist oder Ferien schon lange geplant hat, darf fehlen.» 

Bei der SVP sieht man das weniger streng. «Wir appellieren an die Eigenverantwortung. Wir erwarten, dass unsere Mitglieder ihr Amt und die Pflicht, die damit einhergeht, ernst nehmen», sagt Fraktionspräsident Tobias Weidmann. Dieser Appell scheint zu wirken: Die SVP steht auf dem dritten Rang punkto Anwesenheit.

Laut der Anwesenheitsstatistik von 2019 bis 2023 ist die EVP mit knapp 98 Prozent am präsentesten im Rat, gefolgt von den Grünen, der SVP und dann der SP. Zahlen zur aktuellen Legislatur gibt es noch nicht. Generell zeigt die Statistik, dass die Kantonsrät:innen nur selten eine Sitzung verpassen. Die durchschnittliche Anwesenheit aller Ratsmitglieder liegt bei 95,2 Prozent. Auf dem letzten Rang steht die GLP mit gut 92 Prozent. 

GLP-Fraktionschefin Christa Stünzi erklärt sich den letzten Rang mit der Pandemie: In der vergangenen Legislatur seien Politiker:innen aus Selbstschutz oder aus Schutz der Angehörigen eher zu Hause geblieben. Auch nach Corona bleibt es oft knapp. «Bei allen Themen müssen wir vor der Sitzung am Montag wissen, wer dabei ist – das braucht viele Gespräche», sagt Stünzi. 

Mehr Kompromisse und Referenden

Um Abstimmungen zu gewinnen, sind die Parteien nicht nur auf die Anwesenheit ihrer Mitglieder angewiesen. Kompromisse seien wichtiger geworden, so Stünzi. Das spielt ihrer Partei in die Hände: «Die GLP steht in der Mitte. Wir sind es uns gewohnt, Allianzen zu schmieden.» Mit Disziplin, Absprache und Kompromissen könne man Gesetze durchbringen und auch die Mitte oder die FDP für Anliegen gewinnen. Das heisse aber auch, dass Vorstösse mehrheitsfähig sein müssen, so die GLP-Politikerin. 

Auch der Volkspartei seien Kompromisse ein Anliegen: «Der SVP will man das zwar nicht zustehen, aber auch wir sind an Lösungen interessiert», sagt Tobias Weidmann. «Das ist Politik.» Dem stimmt auch die SP zu. Sylvie Matter ist sich zudem sicher, dass es künftig mehr Referenden geben wird: «Verlieren wir wichtige Abstimmungen, dann erwägen wir eher den Weg vors Volk.» Entscheide, die im Parlament knapp ausfallen, haben vor dem Volk eher eine Chance, ist sich die SPlerin sicher.  

Ein Beispiel, wo sich die SVP mit dem knappen Entscheid nicht zufriedengab: Kommenden September werden wir in Zürich über eine Änderung des Bildungsgesetzes betreffend Stipendien für vorläufig aufgenommene Ausländer:innen abstimmen. Der Zugang zu Stipendien soll erleichtert werden. Derzeit müssen alle Personen mit dem Aufenthaltsstatus F nämlich fünf Jahre warten, bis sie im Kanton Stipendien beantragen können. Der Kantonsrat sprach sich zwar für die Streichung der Wartefrist aus, doch die SVP ergriff das Referendum dagegen, wie Züri Today zusammenfasst. Die Gesetzesänderung wird darum vors Volk kommen.

Neue Regelung für Mütter

Um dem Glücksspiel einen Riegel zu schieben, macht sich die SP-Co-Fraktionschefin Sibylle Marti für eine Stellvertretungslösung stark. Denn in einem Parlament wird es immer zu Abwesenheiten kommen. Politiker:innen sollten sich deshalb nach einer Geburt oder bei Krankschreibungen vertreten lassen können. «Bei längeren Abwesenheiten sehen sich Politiker:innen heute häufig zum Rücktritt gezwungen. Denn gerade für kleinere Fraktionen oder bei knappen Mehrheiten ist es oft nicht haltbar, dass Personen länger ausfallen», sagt Marti. 

«Entweder passt ein politisches Mandat in ein Lebensmodell oder nicht.»

Tobias Weidmann (SVP)

Genau aus diesem Grund gab Anne-Claude Hensch (AL) kürzlich ihren Rücktritt bekannt. Die ehemalige Kantonsrätin erkrankte an Long Covid. In ihrem Rücktrittschreiben appelliert sie an ihre Ratskolleg:innen, mit einer Stellvertreterlösung vorwärtszumachen. Sie spricht von einem «schalen Nachgeschmack», der ihr Rücktritt aufgrund ihrer Erkrankung mit sich ziehe. Als Mitglied der kleinen AL-Fraktion könne sie es sich nicht leisten, solange abwesend zu sein. 

Aktuell ist ein entsprechender Vorstoss in der zuständigen Kommission hängig, der Kantonsrat unterstützte die Idee vorläufig. «Diese Legislatur zeigt, wie wichtig eine solche Lösung sein kann», sagt auch Christa Stünzi von der GLP. Dagegen spricht sich die SVP aus. «Entweder passt ein politisches Mandat in ein Lebensmodell oder nicht. Schliesslich wählen wir Personen und nicht Stellvertreter:innen», sagt Weidmann.

«Politik sollte keine Lotterie sein.»

Sibylle Marti (SP)

Ein kleiner Lichtblick gibt es für Mütter im Mutterschaftsurlaub. Ab Juli dürfen diese wieder an Ratssitzungen teilnehmen. Denn ab da tritt ein neuer Absatz im Bundesgesetz über den Erwerbsersatz in Kraft. Dieser besagt, dass der Anspruch auf Erwerbsersatz für Frauen im Mutterschutz nicht entfällt, wenn sie ein politisch gewähltes Amt ausführen. Aktuell ist bei der SP Priska Lötscher im Mutterschaftsurlaub. Mit dieser neuen Regelung hätte sie an der Abstimmung vom Montag teilnehmen können und den Entscheid zugunsten der Klima-Allianz kippen können.

«Politik sollte keine Lotterie sein», sagt Sibylle Marti. Aber solange die Sitzverteilung so knapp ausfalle und es keine Stellvertretungslösung gäbe, blieben die Entscheide teilweise zufällig. Auch Weidmann spricht von Zufallsentscheiden, findet es aber weniger problematisch. Sei einem ein Geschäft wichtig, müssten eben Mehrheiten gefunden werden. Zudem sei es vor allem bei Bildungs- und Klimavorlagen knapp. Bei finanzpolitischen Abstimmungen wissen die Bürgerlichen beispielsweise oft die GLP auf ihrer Seite.

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