«New Work ist kein Update der Arbeitswelt, sondern ein neues Betriebssystem»

Wie finde ich meine Berufung und meinen Traumjob? Keine einfache Frage bei den schier unzähligen Optionen. Bewerbungsexpertin Selma Kuyas verrät im Interview, wie man seinen Purpose finden kann.

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«Bei mir hat es als Kind einfach geheissen, ich müsse die Matura machen und studieren», sagt Selma Kuyas. (Bild: Livio Federspiel)

Simon Jacoby: Ich selbst hatte nur als Kind einen Traumberuf, danach habe ich einfach etwas gemacht. Auch heute habe ich keinen Fünfjahresplan oder ähnliches. Bin ich komisch?

Selma Kuyas: Als Kind haben wir ganz andere Vorstellungen, was wir dann später mal machen – das liegt in der Natur der Sache. Ich finde es schwierig, dass sich die Jugendlichen schon mit 15 Jahren mit der Berufswahl beschäftigen müssen. Nur schon hormonell bedingt liegen die Prioritäten dann ganz woanders. Also machen viele Jugendliche einfach irgendeine Lehre und sind später in einem Beruf gefangen, der ihnen gar nicht entspricht. Dazu kommt, dass unsere Arbeitswelt Berufswechsel und Quereinstiege erschwert, sollte man später Lust haben, in einem ganz anderen Beruf zu arbeiten.

Wie finde ich heraus, was ich will? 

Wenn jemand zu mir in die Beratung kommt, machen wir immer das gleiche zuerst: Wir gehen in die Selbstreflexion und finden heraus, was diese Person gut kann, wo die natürlichen Stärken und Talente liegen und welche Berufe damit infrage kämen. Bei mir hat es als Kind einfach geheissen, ich müsse die Matura machen und studieren, alles andere war keine Option. Solche vorgezeichneten Wege ergeben keinen Sinn. Studien beweisen, dass jemand, der im Arbeitsalltag zu mindestens 60 Prozent seine natürlichen Stärken einsetzen kann, motivierter ist.

Es gibt so viele Optionen, ständig kommen neue Berufsbilder hinzu, man kann unmöglich alles ausprobieren. Ist es überhaupt realistisch, seinen Purpose, seine Berufung zu finden?

Nicht du findest die Berufung, sondern die Berufung findet dich. Es bringt nichts, Fragen zu stellen und in Broschüren die Antworten zu suchen oder darauf zu vertrauen, dass die Berufsberatung dir sagt, was zu dir passt. Man muss experimentieren, ausprobieren, eine Schnupperlehre oder ein Praktikum machen. Das Gefühl für einen Beruf kann man nicht an einer Messe vermitteln. Man muss richtig in den Arbeitsalltag eingebunden sein. Alles ausprobieren geht natürlich nicht, aber sich mit einer Person austauschen, einen Kaffee trinken gehen oder mal zu telefonieren, kann helfen, ein Gespür für diesen Beruf zu bekommen.

Für eine Gesellschaft ist es nicht gut, wenn alle das machen, was sie wollen. Wer würde dann die unbeliebten Jobs übernehmen?

Wenn die Anreize verändert werden und man beispielsweise in der Müllabfuhr gleich gut verdienen würde wie auf der Bank, dann gäbe es wohl kaum mehr offene Stellen. Man trifft seine Berufswahl aufgrund seines Wertesystems. Wenn eine gute Bezahlung darin eine hohe Priorität hat, dann macht man auch einen sonst unbeliebten Job. Je nach Lebensphase können sich diese Werte und Prioritäten auch ändern. Es geht immer darum, eine Schnittmenge zu finden, zwischen dem, was ich gut kann, was die Gesellschaft braucht und wofür ich bezahlt werde. Es bringt nichts, deinen Purpose zu leben, wenn du die Miete nicht bezahlen kannst.

Fokus «Arbeiten und lebenslanges Lernen»

Die Arbeitswelt befindet sich im Umbruch. Fachkräftemangel, Digitalisierung und Work-Life-Balance fordern neue Arbeitsmodelle. Schaffen wir es, mit Weiterbildungen, lebensfreundlichen Arbeitsbedingungen und einer Reduktion der Arbeitszeit glücklich zu werden? Tsüri.ch widmet diesem Thema drei spannende Veranstaltungen.

Das mit dem eigenen Traumjob ist auch auf der persönlichen Eben nicht für alle möglich. Vielleicht wäre ich gerne Archäologe, habe aber nicht die finanziellen Möglichkeiten für ein Studium. Dem eigenen Purpose zu folgen, ist auch ein Privileg.

Ich war alleinerziehende Mutter zweier kleiner Kinder und konnte mir damals keine Weiterbildung leisten. Zum Glück leben im digitalen Zeitalter und Information ist kostenlos für alle zugänglich, das ist ein wahnsinniges Geschenk. Natürlich kann man im Internet kein Medizinstudium machen, aber sich in vielen Bereichen bilden geht problemlos. Hat jemand nicht die Möglichkeit in seiner Berufung zu arbeiten, ist es wichtig, dies in der Freizeit auszuleben. 

An unserer Pitch-Night haben Sie gesagt, ein Grund des Fachkräftemangels liege in schlechten Arbeitsbedingungen – Jobs seien einfach unattraktiv. Mit der «New Work»-Methode lasse sich dies beheben. Was verstehen Sie unter New Work?

New Work ist kein Update der Arbeitswelt, sondern ein neues Betriebssystem. Wir sind in den Endzügen einer Arbeitswelt, die auf Strukturen des Industriezeitalters aufgebaut ist. Die neuen Technologien im jetzigen digitalen Zeitalter setzen viele Ressourcen frei, die für uns als Arbeitnehmer:innen aber kaum einen Vorteil bringen – wir arbeiten immer noch 40 Stunden die Woche, obwohl Prozesse automatisiert werden oder mehr in weniger Zeit gemacht werden kann. New Work ist eine Haltung, bei der der Mensch nicht mehr als Ressource verheizt, sondern in seinem Potenzial gefördert wird.

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