Zürcher Kriegsfotograf: «Denke ich zu viel nach, mache ich schlechte Bilder»
Der Zürcher Dominic Nahr gehört zu den bekanntesten Schweizer Kriegsfotograf:innen. Seit fast 20 Jahren dokumentiert er Konflikte in Gaza, im Sudan, in Fukushima und zuletzt in der Ukraine. Im Interview spricht er über das nach Hause kommen und sein neues Buch «Das wilde Feld – Ukraine».
Sophie Wagner: Herr Nahr, Sie sind seit bald zwei Jahrzehnten als Kriegsfotograf im Sudan, Kongo, Gaza, Fukushima und in der Ukraine unterwegs. Gibt es Momente, in denen Sie kein Foto machen?
Dominic Nahr: Ja, die gibt es. Ich erinnere mich, dass ich in Syrien in ein Haus gekommen bin, wo eine ganze Familie ermordet wurde. Ein Überlebender kam herein und brach in Tränen aus. Ich habe mich neben ihn gesetzt und wir haben uns gehalten. Davor und danach habe ich Bilder gemacht. Aber in diesem Moment, sassen wir einfach nur da und hielten einander fest.
Können Sie uns von ihrem ersten Einsatz erzählen? 2006/2007 reisten Sie als Kriegsfotograf nach Gaza. Dort haben Sie die Bildserie «When Brothers Fight» fotografiert. Damals gab es Gefechte zwischen Hamas und Fatah, die in der Kontrolle des Gazastreifen durch die Hamas endete.
Ich war ein junger Fotograf und für eine amerikanische Agentur unterwegs. Die Weihnachtsferien waren damals die einzige Möglichkeit, solche Einsätze während meines Studiums wahrzunehmen. Ich hatte kaum Geld, doch zum Glück habe ich gleich einen lokalen Fixer kennengelernt. So nennt man eine Person, die ausländische Korrespondent:innen vor Ort unterstützt.
Ich schlief erst im Bett seines Cousins, dann auf dem Boden, weil er meinte: «Jetzt bist du Familie. Und ich bin älter.»
Wie haben Sie die Situation vor Ort erlebt?
Diese Nähe war unglaublich. Klar, es war eine chaotische Zeit: Die Kämpfe zwischen Hamas und Fatah waren heftig. Zuvor war ich noch nie in einem so gefährlichen Gebiet, wo es so viele Schiessereien gab.
Aber ich nehme nicht das Schlechte mit. Ich denke an diese guten Seiten. Und das ist es, was mich seit 20 Jahren weitermachen lässt: Ich nehme die Freundschaften mit, nicht den Tod.
Wie schaut Ihre Arbeit vor Ort aus?
In den meisten Fällen bereist man dieselben Regionen mehrmals. Das heisst, ich, oder die Redaktion, oder die Journalist:innen, die mit mir unterwegs sind, haben Kontakte vor Ort. So starten wir nicht blind, sondern erhalten Empfehlungen.
Inklusive Fixer sind wir mehrheitlich zu dritt unterwegs, manchmal wird auch der Taxifahrer kurzfristig zum Fixer. Diese Person übersetzt dann nicht nur, sondern kennt auch die lokalen Gegebenheiten und hilft, Kontakte zu vermitteln. In der Ukraine gibt es eine eigene Organisation, welche über eine WhatsApp-Gruppe Menschen vor Ort vermittelt.
Ihre Aufnahmen besitzen eine starke Bildkraft. 2024 haben Sie die Auszeichnung «Swiss Press Photographer of the Year» erhalten. Wo ziehen Sie die Grenze zwischen Dokumentation und Ästhetik?
Das Dokumentieren passiert automatisch, aber meine Bildsprache soll erkennbar sein. Ich glaube an die Kraft ästhetischer Bilder: Sie halten die Menschen länger fest und lassen uns als Betrachter:innen tiefer in ihre Geschichte eintauchen.
Gab es Momente, in denen Sie es unangebracht fanden, für Leid in Bildern Anerkennung zu bekommen?
Ehrlich gesagt habe ich kaum Zeit, darüber nachzudenken. Wenn ich auf auftragsmässig in einem Kriegs- oder Krisengebiet bin, arbeite ich sieben Tage die Woche, von morgens bis abends. Wenn ich mich zusätzlich mit diesen Ambivalenzen beschäftigen würde, könnte ich meinen Job nicht weitermachen.
Journalismus ist hart, viele Fotograf:innen kämpfen um dieselben Aufträge. Preise und Auszeichnungen helfen, um als Fotograf relevant zu bleiben. Auszeichnungen bedeuten, dass man weiterarbeiten kann. Mein Ziel ist es, häufiger an Orte zu können und Geschichten langfristig zu begleiten. Wenn dafür Preise nötig sind, nehme ich sie in Kauf.
Wie fühlt es sich an, aus einem Krisengebiet ins behütete Zürich zurückzukehren?
Ich habe lange im Ausland gelebt, zehn Jahre davon in Nairobi. Da fiel mir der Wechsel zwischen Arbeit und Privatleben leichter, da sich die Lebensrealität in Nairobi nicht so stark von jener an den Arbeitsorten unterschieden hatte, wie jetzt. Wenn ich jetzt am Flughafen in Zürich ankomme, ist alles «sauber», geordnet, kalt, simpel. Die Züge fahren pünktlich, ich muss nicht einmal die Abfahrtszeiten kontrollieren. Das ist ein riesiger Kontrast zur Welt, in welcher ich mich noch ein paar Stunden zuvor aufgehalten habe.
Schaffen Sie es, sich zu Hause von den Erlebnissen im Krieg abzugrenzen?
Natürlich ist der Job als Kriegsfotograf extrem belastend. Wir rennen mit Weste und Helm durch Wälder oder Städte, oft unter Stress. Die Pausen in Zürich geben mir die Möglichkeit meinen Körper und Geist zu reparieren, bevor ich wieder losziehe.
Das Wort «Abgrenzen» mag ich nicht. Als Fotograf muss man fühlen, muss man da sein. Ich bin ein emotionaler Fotograf und fotografiere mit meinem Herzen, weniger mit meinem Kopf. Sobald ich zu viel denke, mache ich schlechte Bilder.
Immer wieder werden auch Journalist:innen Opfer von Angriffen. Im Juni 2025 zählte Reporter ohne Grenzen allein in Gaza 200 getötete Medienschaffende. Wie stark begleitet Sie dieser Gedanke während Ihrer Einsätze?
Ich denke oft an Kolleg:innen, die gestorben sind. Viele Journalist:innen in Gaza arbeiten unter harten Bedingungen und kommen aufgrund von Grenzschliessungen, der Kontrolle durch die Hamas oder weil es schlichtweg zu gefährlich ist, nicht dort raus. Ich hatte in meiner Arbeit bislang Glück und war in Regionen zu Zeiten unterwegs, wo ich immer noch nach Hause kam.
So gut es geht, versuche ich auf mein Bauchgefühl zu hören und meine Erfahrungen zu nutzen, um nicht einen Punkt zu erreichen, wo die Situation kippt und zu gefährlich wird.
Heute kursieren auf Social Media massenhaft Bilder und Videos aus Kriegsgebieten. Braucht es da überhaupt noch Kriegsfotograf:innen?
Social Media zeigt oft nur Fragmente, aus dem Kontext gerissen. Als Journalist:innen liefern wir die ganze Geschichte: mit Text, mit Unterschriften, mit Verifizierung. Ob ein Video wirklich aus diesem Jahr, diesem Land stammt, das kann man sonst kaum erkennen. In Zeiten künstlicher Intelligenz wird diese Arbeit noch wichtiger.
Im Oktober erscheint Ihr Buch «Das wilde Feld – Ukraine». Sie haben es zusammen mit dem NZZ-Korrespondenten Ivo Mijnssen erarbeitet. Warum über die Ukraine?
Seit dem russischen Angriffskrieg 2022 war ich rund 20 Mal in der Ukraine. Selten hat man die Zeit, einen Krieg so lange begleiten zu können. Normalerweise fliege ich in ein Land, bleibe ein paar Wochen, und dann ist es vorbei. In der Ukraine war ich alle vier bis acht Wochen, Flugzeug nach Polen, Zug in den Osten, zwei Wochen Arbeit, dann zurück.
Warum erscheint es jetzt, vier Jahre nach Kriegsbeginn?
Gerade jetzt, mit den Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine unter Einfluss der USA, ist es wichtig zu fragen: Wo stehen wir eigentlich? Die Bilder haben ihre eigene Aussage, aber ohne Kontext fehlt etwas. Der Journalist Ivo Mijnssen ist dafür der perfekte Partner: Er spricht Russisch und Ukrainisch, kennt die Region durch und durch und hat zur Erinnerungskultur in Russland und der Sowjetunion promoviert.
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Ausbildung als Polygrafin EFZ an der Schule für Gestaltung in Bern und aktuelle Studentin Kommunikation mit Vertiefung in Journalismus an der ZHAW Winterthur. Einstieg in den Journalismus als Abenddienstmitarbeiterin am Newsdesk vom Tages-Anzeiger, als Praktikantin bei Monopol in Berlin und als freie Autorin beim Winterthurer Kulturmagazin Coucou. Seit März 2025 als Praktikantin bei Tsüri.ch