Online tobt der Inklusions-Candystorm, im echten Leben hapert es
Viele Politiker:innen sind im Internet mit Hass konfrontiert. Er hingegen erhalte trotz seiner Behinderung viel Unterstützung, schreibt der Nationalrat Islam Alijaj in seiner aktuellen Kolumne. Das sei zwar schön, stimme ihn aber auch nachdenklich.
«Islam, ich weiss nicht warum, aber du bist echt eine richtige Love Brand. Alle meine Kund:innen bekommen hate ohne Ende, aber unter deinem letzten Reel tobt schon wieder ein Candystorm», sagte mir kürzlich mein Social-Media-Berater, der nicht nur mich, sondern vor allem viele Politiker:innen in Deutschland betreut.
Zunächst wollte ich antworten: «Ja klar, die Deutschen. Euren Umgangston kennt man ja. Hier bei uns in der Schweiz weiss man gute Kommunikation noch zu schätzen und ist nett zueinander.»
Aber ich wusste es natürlich besser. Denn auch die Erfahrungsberichte von Schweizer Kolleg:innen in Sachen digitaler Bürger:innenkontakt klingen oft so. «Es ist schlimm, wie es unter meinen Beiträgen, in den DMs oder im Mailpostfach zugeht. Zum Glück ist es in der echten Welt nicht annähernd so schlimm, sonst würde man den Job gar nicht machen wollen.»
Bei mir ist das interessanterweise anders. Schon 2019 bei meiner ersten Nationalratskandidatur – also ganz zu Beginn meiner politischen Gehversuche (haha) – war ich überrascht, wie viel Wohlwollen mir online entgegenschlug.
Als schwerbehinderter Migrant mit einschlägigem Vornamen hatte ich eigentlich anderes erwartet. Und das änderte sich auch auf meinem weiteren politischen Weg kaum: Nicht, als mein Freund und Werber David Schärer im Rahmen meiner erneuten Kandidatur für den Nationalrat 2023 ein Inserat mit der Headline «Islam in den Nationalrat» in der Weltwoche platzierte. Auch nicht, als meine Reichweite mit meiner Wahl und besagtem Social-Media-Berater stark anwuchs.
Doch warum ist das so?
«Wenn es um das Thema Behinderung geht, denken viele Menschen zweimal nach, bevor sie ihre Hemmungen fallen lassen.»
Islam Alijaj
Ich vermute, dass das Thema Behinderung eines der letzten Felder ist, das der bedauernswerten Diskurslogik sozialer Netzwerke teilweise entzogen ist. Anstand mag in den meisten Kommentarspalten kein gern gesehener Gast sein. Aber wenn es um das Thema Behinderung geht, denken viele Menschen tatsächlich zweimal nach, bevor sie ihre Hemmungen fallen lassen.
Mehr noch: Viele Menschen scheinen das Bedürfnis zu haben, ihre Unterstützung für die Inklusion im Allgemeinen und das politische Engagement von Menschen mit Behinderungen im Besonderen zum Ausdruck zu bringen. Das ist schön, stimmt mich aber auch nachdenklich.
Während die meisten Politiker:innen im echten Leben nicht erfahren möchten, was ihnen online begegnet, ist es bei der Inklusion umgekehrt. Da wünscht man sich manchmal, der Instagram-Inklusions-Spirit wäre gesellschaftliche Realität.
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