Inklusion in der digitalen Welt: Ein grosses Versprechen
Die Digitalisierung hat unserem Kolumnisten Islam Alijaj viele Möglichkeiten eröffnet. Trotzdem vergessen noch immer viele Systeme, Menschen mit Behinderungen mitzudenken. So auch Alijajs Spracherkennungs-Software.
Bonjour à toutes et tous!
Viel weiter reicht mein Französisch leider nicht, aber das liegt nicht nur an mir! Ach, jetzt kommt er bestimmt wieder mit seiner Sonderschule und dass er da nichts lernen durfte und so weiter. Aber, Überraschung, heute nicht.
Meine erneuten Annäherungsversuche an die Fremdsprache nach der kaufmännischen Lehre unternahm ich nach meiner Wahl in den Nationalrat. In einem akuten Anfall von: «Ich trage jetzt Verantwortung für die ganze Schweiz», meinte ich, dass sofort eine weitere Landessprache meiner Cerebralparese bedingten Katastrophen-Aussprache zum Opfer fallen sollte.
Nun ja, die Sprachpfleger:innen von der Délégation suisse à la langue française können sich wohl bei der «Busuu-Language-App» bedanken, dass Schlimmeres gerade nochmal verhindert wurde. Denn wie so oft bei Spracherkennungs-Software, von Siri bis Alexa, verzweifelte auch Busuu an meiner Sprechbehinderung: «Entschuldigung, das habe ich leider nicht verstanden. Kannst Du das bitte nochmal wiederholen?»
Klar ist: Die technischen Möglichkeiten für Softwares, die auch Menschen wie mich verstehen könnte, sind längst da. Und doch gibt es sie nicht. Warum ist das eigentlich so?
Für Menschen mit Behinderungen war die Digitalisierung eine grosse Chance: Nehmen wir mein Beispiel. Ich kann ja nicht nur kein Französisch und auch sonst kaum sprechen, ich kann auch von Hand nicht schreiben. Nur durch den Computer und das Internet war es mir als Kind und Jugendlicher überhaupt möglich, die Welt selbst zu erkunden und mich anderen Menschen ohne Assistenz mitzuteilen.
Ohne diese Errungenschaften wäre ich heute nicht dort, wo ich bin. Und damit meine ich nicht in erster Linie meine politische Karriere. Nein, ohne diese Möglichkeiten zu kommunizieren und zeigen zu können, welche Fähigkeiten und Potenziale in mir stecken, würde ich heute wohl in irgendeiner Einrichtung für einen sittenwidrig niedrigen Lohn tagein, tagaus Briefe zusammenfalten.
Das ist die eine Seite der Digitalisierung. Das grosse Versprechen auf mehr Barrierefreiheit, mehr Teilhabe, mehr Chancengleichheit, kurzum: Auf mehr Inklusion!
Auf der anderen Seite wurde dieses Versprechen allzu oft nicht eingelöst. Im Gegenteil: Immer wieder erleben Menschen mit Behinderungen, dass auch die digitale Welt nicht barrierefrei ist und vielfach sogar neue Hürden entstehen. Auch sie ist heute Spiegel einer Gesellschaft, in der Menschen mit Behinderungen und ihre Bedürfnisse meist nicht mitgedacht werden. Eine Sprachapp für Menschen mit Cerebralparese? Rechnet sich leider nicht.
Was mich dennoch hoffnungsvoll stimmt, ist die rasante Entwicklung der künstlichen Intelligenz. Ich bin davon überzeugt: In ihr liegt die Kraft, endlich digitale Lösungen zu entwickeln, die auch Menschen mit Behinderungen konsequent mitdenken. Vor bald zwei Jahren begann ich im Wahlkampf mit einem «Text-to-speech-Avatar» zu experimentieren, der in Videos meine Sprechbehinderung egalisiert.
Was damals noch als ziemlich hässlicher Bruder von mir begann, ist heute ohne nennenswerten finanziellen Input technisch schon unglaublich viel weiter. Ich bin mir sicher, dass mich dieser Kollege schon in wenigen Jahren im Nationalrat simultan dolmetschen könnte. Und Französisch kann er natürlich auch.
Vor uns liegt eine grosse Chance und ich habe fest vor, sie zu nutzen.
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