Im Homeoffice arbeiten wir effizienter – wieso?
Mit der Corona-Krise ist die Produktivität gestiegen, dies sagt der Schweizerische Gewerbeverband. Henrique Schneider vom Gewerbeverband im Interview über die möglichen Ursachen.
Text: Fabio Peter
Tsüri.ch: Kürzlich gaben Sie bekannt, dass die Produktivität der Wirtschaft während des Corona-Lockdowns um 16 Prozent gestiegen ist. Wie kommen Sie zu dieser Erkenntnis?
Henrique Schneider: Im April war ich an einer Sitzung beim Staatssekretariat für Wirtschaft SECO. Dort wurde gesagt, das Bruttoinlandprodukt BIP würde im ersten Halbjahr um 10 Prozent abnehmen. Wie man das an Sitzungen so tut, habe ich das zur Kenntnis genommen. Fünf Minuten später sagte der Vertreter der Direktion für Arbeit, die Anzahl Arbeitsstunden würde um 25 Prozent zurückgehen. Dann habe ich beides zusammengezählt. Wenn der Input Arbeitsstunden überproportional zum Output BIP zurückgeht, ist das ökonomisch gesehen ein Produktivitätszuwachs. Das fand ich kontraintuitiv.
Zehn Jahre lang hat man diskutiert, ob Homeoffice gut oder schlecht ist und plötzlich ist es möglich.
Henrique Schneider
Wer würde erwarten, dass in einer Krisensituation die Produktivität zunimmt? Dann habe ich begonnen zu schauen, welche volkswirtschaftlichen Daten es aus der Schweiz, Deutschland und Österreich bezüglich Wertschöpfung und den geleisteten Arbeitsstunden im ersten Halbjahr gibt und habe sie mit den Daten aus Frankreich und den USA verglichen. Natürlich ist mir klar, dass die Daten unterjährig sind und man noch nichts konsolidiert hat. Vieles ist deshalb Schätzung. Aber ich habe herausgefunden, dass tatsächlich überall die Arbeitsstunden überproportional zum BIP zurückgegangen sind. Dann habe ich zwei Modellrechnungen gemacht. Je nachdem, wie man diese Zahlen einschätzt, ist die Produktivität in der Schweiz als Folge des Corona-Lockdowns um 8 bis 16 Prozent gestiegen.
Womit erklären Sie sich diesen Produktivitätszuwachs?
Aus meiner Sicht gibt es vier Erklärungen, die nicht notwendigerweise exklusiv sind. Die erste Erklärung ist, dass wir tatsächlich eine Flexibilisierung und Digitalisierung erlebt haben. Zehn Jahre lang hat man diskutiert, ob Homeoffice gut oder schlecht ist und plötzlich ist es möglich. Und das meine ich nicht nur aus regulatorischer Sicht. Auch Arbeitgeber*innen haben immer gedacht: «Hmm Homeoffice, da sitzen die Leute zuhause und machen nichts». Die Pendelzeiten sind entfallen und die Leute konnten arbeiten, wo sie am produktivsten waren. Eine andere Erklärung ist, dass der Dienstleistungssektor angefangen hat, sich besser zu organisieren und besseres Management zu machen. Wenn Leute nicht gleichzeitig im Büro sind oder dezentral arbeiten, müssen sie viel genauer absprechen, was sie vom Arbeitsprozess erwarten: Bis wohin geht die Aufgabe der einen? Wo fängt die Aufgabe des anderen an? Wie funktioniert die Schnittstelle?
Der Dienstleistungssektor in der Schweiz ist bekannt dafür, dass er nicht so gut im Prozessmanagement ist. Zum ersten Mal stand man unter Druck, genauer zu arbeiten. Auch das Management stand unter Druck, präziser zu führen. Die beiden ersten Erklärungsansätze sind eher gut. Es gibt aber auch noch zwei schlechtere Erklärungsansätze. Der eine besagt, dass diejenigen Leute, die arbeitslos wurden oder in die Kurzarbeit geschickt wurden, die unproduktivsten waren. Sobald sie zurückkommen, sind wir wieder bei der alten Produktivität. Der vierte Erklärungsansatz bereitet mir am meisten Sorgen. Der Produktivitätsgewinn, den man statistisch erfassen kann, ist unter Einbezug ganz vieler Externalitäten zustande gekommen. Das Büro ist nicht nur ein Ort, an dem gearbeitet wird, sondern einer, an dem soziale Kontakte gepflegt werden, an dem man sich austauscht und sich hilft.
Und das hat alles nicht stattgefunden. Wenn Leute das nicht haben, werden sie zwar produktiver, aber die Probleme bleiben auf lange Frist bestehen und werden sie später einholen. Im Moment sind wir noch nicht so weit zu sagen, welcher dieser Erklärungsansätze stimmt. Ich gehe davon aus, es ist eine Mischung von ihnen.
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Sie haben gesagt, eine mögliche Erklärung für die gesteigerte Produktivität sei, dass unproduktive Stellen am ehesten gestrichen wurden oder von Kurzarbeit betroffen waren. Bedeutet das, dass viele Jobs letztlich überflüssig sind oder gar nichts zur eigentlichen Wertschöpfung beitragen?
Das glaube ich ganz und gar nicht. Und zwar aus folgendem Grund: Nur weil die Produktivität gestiegen ist, heisst das nicht, dass auch die Wertschöpfung gestiegen ist. Wir haben einen Rückgang von Arbeitsstunden und vom BIP. Das bedeutet, dass diese Jobs, selbst wenn sie weniger produktiv gewesen sind, doch Wertschöpfung erbracht haben. Entsprechend würde ich sagen: Es gibt ein Potential zur Produktivitätssteigerung, aber ich würde auf gar keinen Fall sagen, dass diese Jobs von vornherein nicht notwendig gewesen seien. Wären sie das, wäre das BIP nicht zurückgegangen.
Lassen sich beim Produktivitätszuwachs Unterschiede zwischen den Branchen ausmachen?
Ja. Alle Branchen hatten zwar einen Produktivitätszuwachs, aber die Industrie viel weniger als der Dienstleistungssektor. Es ist das erste Mal, dass der Dienstleistungssektor einen solch starken Produktivitätszuwachs hatte.
Wie sieht es mit regionalen Unterschieden aus?
Regional ist der Effekt im Kanton Zürich am stärksten. Für Nicht-Zürcher*innen mag das erstaunlich sein (lacht). Ich könnte aber nicht sagen, weshalb. Tiefer als auf Kantonsebene können wir nicht schauen, weil die Daten von den kantonalen Arbeitsämtern kommen.
Ihre Untersuchung zeigt, dass wir mit weniger Arbeitszeit dasselbe leisten können wie jetzt. Gleichzeitig fordert der Schweizerische Gewerbeverband SGV seit Längerem eine Flexibilisierung des Arbeitsgesetzes und eine Höchstarbeitszeit von 50 Stunden pro Woche. Widerspricht sich das nicht?
Nein. Flexibilisierung bedeutet nicht, dass man mehr arbeitet. Flexibilisierung bedeutet, dass man dann arbeitet, wenn man am besten arbeiten kann. Nach Gesetz dürften sie zuhause oder zu bestimmten Tageszeiten nicht arbeiten, auch wenn das heute praktisch niemand genau einhält. Ich beispielsweise arbeite gerne am Morgen um 5 Uhr. Es gibt Leute, die gerne am Abend arbeiten. Gerade in einem Zeitalter, in dem die Leute Zugang zu Technologien haben, aber auch mündig sind, ist Flexibilisierung wichtig. Zur 50-Stunden-Woche: Wir wollen keine vertragliche 50-Stunden-Woche. Wir wollen, dass es möglich ist, zeitlich befristet die maximale Anzahl an Arbeitsstunden pro Woche zu erhöhen, weil man zwischendurch Aufträge bewältigen muss, die mehr Zeit in Anspruch nehmen. Für uns ist aber klar, dass diese Zeit bezahlt ist und nicht länger dauern darf als zwei Wochen. Und natürlich mit dem üblichen Anspruch auf Freizeit und so weiter. Es geht nicht darum, dass die Leute mehr arbeiten, es geht darum, dass man dieses Produktivitätspotential freisetzt.
Generell sind wir der Meinung, dass jede Firma machen soll, was sie will.
Henrique Schneider
In der Vergangenheit gab es mehrere Artikel zu Firmen, die auf einen Fünf-Stunden-Tag umgestellt haben, ohne Produktivitätseinbussen zu haben. Gehen Sie davon aus, dass die Erkenntnis Ihrer Untersuchung dazu führt, dass mehr Firmen auf eine kürzere Arbeitszeit umstellen werden?
Ja, das kann sein. Generell sind wir der Meinung, dass jede Firma machen soll, was sie will. Wenn sie herausfindet, die Vier-Tage-Woche sei gut für sie, ist das Teil der unternehmerischen Freiheit. Es könnte also sein, dass die Erfahrung dieser Zeit dazu führt, dass viele Firmen sagen: «Wir brauchen keine 42 Stunden pro Woche, wir gehen auf 38 Stunden runter.» Ich persönlich bin einfach der Meinung, dass man das genauer und länger beobachten muss. Man kann nicht aus diesen drei Monaten des Lockdowns Schlussfolgerungen für die gesamte Zukunft ziehen. Es ist sicher so, dass viel Produktivitätspotential da ist und es ist sicher so, dass die Anzahl der Arbeitsstunden reduziert wird und nicht nur dasselbe, sondern mehr herausgeholt werden kann. Was wir nicht wissen ist, wie lange und mit welchen Nebeneffekten.
<div style="background-color:#3dafe8;color:white;font-weight:bold;padding:10px"> Was meint die Gewerkschaft syndicom? </div> <div style="font-size:18px;padding:10px;background-color:#dddddd"> Auch die Gewerkschaft syndicom setzt sich mit dem Thema Arbeitsproduktivität und Homeoffice auseinander. Im Mai veröffentlichte sie dazu den Homeoffice-Barometer. «Im Unterschied zur abstrakten Schätzung des Gewerbeverbandes wurde bei der repräsentativen Umfrage von syndicom und gfs.bern die persönliche Einschätzung der Befragten erhoben», sagt Daniel Hügli, Zentralsekretär des Sektor ICTs der syndicom. Zwar gaben knapp zwei Drittel der Befragten an, im Homeoffice produktiver arbeiten zu können. «Doch für 34 Prozent der Befragten trifft dies eher oder überhaupt nicht zu», gibt Hügli zu bedenken. Hinzu komme, dass mit 43 Prozent gegenüber 35 Prozent mehr Umfrageteilnehmer*innen davon ausgingen, dass das Homeoffice insgesamt negative Auswirkungen auf die Produktivität im Unternehmen hat. </b> Auch zeige die Umfrage, dass die Arbeitszeit im Homeoffice bei mehr Befragten zu- statt abnahm. Das, obwohl 71 Prozent der Befragten eine Ausweitung der Teilzeitarbeitsmöglichkeiten wichtiger sei als der Arbeitsort. «Sozialpartnerschaftliche Lösungen müssen besonders bei der Frage der Finanzierung des Arbeitsplatzes zu Hause gefunden werden, ebenso beim Gesundheitsschutz im Homeoffice, bei der Arbeitszeitausgestaltung und -reduktion sowie in Bezug auf eine mögliche Entgrenzung und Isolation bei der Arbeit», schliesst Hügli aus der Umfrage. </div>
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<div style="background-color:#3dafe8;color:white;font-weight:bold;padding:10px"> Was meint das Amt für Wirtschaft? </div> <div style="font-size:18px;padding:10px;background-color:#dddddd"> Dass die Arbeitsproduktivität im Kanton Zürich am stärksten zugenommen hat, ist laut Irene Tschopp vom kantonalen Amt für Wirtschaft und Arbeit plausibel. «Die Arbeitsproduktivität im Kanton Zürich lag in den vergangenen Jahren für gewöhnlich unter dem Gesamtschweizer Durchschnitt», sagt sie. Das sei der Branchenstruktur der Zürcher Wirtschaft geschuldet, die stark vom Dienstleistungssektor geprägt ist. «Dieser ist arbeitsintensiv, wodurch die Arbeitsproduktivität niedriger ist als zum Beispiel jene in der Industrie», sagt Tschopp. </b> Mit anderen Worten: In der Industrie lässt sich mit weniger Arbeitszeit eine höhere Wertschöpfung erzielen als beispielsweise in der Gastronomie, der Unterhaltungsbranche oder der Kunst. Da während des Lockdowns vorwiegend letztere vom Arbeitsausfall betroffen waren, erstaunt es nicht, dass die Arbeitsproduktivität stark zugenommen hat. Tschopp betont allerdings, dass das Amt für Wirtschaft und Arbeit für eine konkrete Einschätzung der Berechnungen von Herrn Schneider diese im Detail kennen müsste. </div>
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