Premiere am ZFF

«I love you, I leave you»: Dino Brandão zwischen Musik und Manie

Moris Freiburghaus hat einen Dokumentarfilm über die bipolare Störung des Musikers Dino Brandão gedreht. Das ungeschönte Porträt seines Freundes will psychische Krankheiten entstigmatisieren. Nun wurde es am Zurich Film Festival erstmals gezeigt.

Dino Brandão vor dem Grab seiner Grossmutter
Dino Brandão vor dem Grab seiner Grossmutter in Angola: Die Reise markiert den Startpunkt seiner manischen Phase. (Bild: Sabotage Kollektiv)

Er giesst Wein neben das Grab seiner Grossmutter, spielt ihr auf einem Horn vor, trommelt sich wild auf die Beine und legt sich schliesslich gleich daneben auf den Beton – die Arme über der Brust verschränkt, die Augen zu.

Die Szene zeigt den Schweizer Musiker Dino Brandão auf einem Friedhof in Angola. Für ein Konzert ist er in das Heimatland seines Vaters gereist. Noch ahnt das Publikum nicht, was folgen wird: Nach seiner Rückkehr in die Schweiz stürzt Brandão in eine schwere manisch-psychotische Phase, die ihm den Boden unter den Füssen wegzieht und sein Umfeld an die Grenzen bringt.

Davon erzählt der neue Dokumentarfilm «I love you, I leave you» des Zürcher Regisseurs Moris Freiburghaus, einer der engsten Freunde Brandãos. Ende September feierte er am Zurich Film Festival (ZFF) Weltpremiere, Anfang November kommt er in die Kinos.

Vier Tage lang wach

Wenige Tage nach der Rückkehr aus Angola zeigt sich, dass etwas nicht in Ordnung ist. Brandão zieht vor einem Café tief an einer Zigarette, versucht sich zu erinnern, wann er heute aufgestanden ist, bricht ab und sagt: «Es stimmt öpis nöd. Jetzt bini huere müed.» Kurz darauf telefoniert er mit seiner Schwester, die sich Sorgen macht, die letzte manische Phase liegt nur ein Jahr zurück. 

Sie erinnert ihn: «Es het Moment geh, wo du vor de Zug häsch welle.» Brandão entgegnet: «Ja, weisch wieso? Wege fucking Medikament.» Dann schleudert er plötzlich sein Handy weg. «Fucking scheiss Telefon.»

Schonungslos dokumentiert Freiburghaus, wie sein Freund von einer Emotion in die nächste kippt, sich in der Manie versteigt und dann wieder abstürzt. In dieser Phase schläft er nur selten, einmal erklärt er, dass er knapp vier Tage wach sei und deshalb bald alle «frei» wären. Freiburghaus sitzt Brandão gegenüber, hört zu, versucht zu verstehen. Auch als dieser in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird und immer wieder flieht, läuft die Kamera. Das Publikum sieht, wie Freiburghaus das Umfeld des Musikers informiert und Hilfe organisiert.

Insgesamt sei Brandão 15 Mal verschwunden, erzählt der Regisseur im Gespräch. «Ein ständiges Hin und Her, das auch bei mir zu wenig Schlaf führte.» Mehrmals musste er die Polizei rufen und den Standort seines Freundes gegen dessen Willen weitergeben, weil Brandão als selbst- oder fremdgefährdend eingestuft war. Für ihn sei das ein Dilemma gewesen, da solche Einsätze zu heiklen Situationen mit der Justiz führen konnten, sagt Freiburghaus. Im Film wird angedeutet, dass Brandão in der Vergangenheit Opfer von Polizeigewalt wurde.

Kennenlernen mit 14 Jahren beim Skaten

Gedreht wurde «I love you, I leave you» ab 2023, kennengelernt haben sich Moris Freiburghaus und Dino Brandão jedoch schon als Jugendliche. Mit etwa 14 beim Skaten, erinnert sich Freiburghaus. Es folgten erste gemeinsame Projekte, Skatefilme und der Kurzfilm «Paradox». Nach und nach rückte bei Brandão die Musik ins Zentrum.

2020 gelang ihm mit dem Album «Ich liebe dich» mit Faber und Sophie Hunger der Durchbruch. Sein erstes Soloalbum «Self-Inclusion» erschien vergangenes Jahr. Parallel dazu häuften sich schwere Diagnosen: hebephrene Schizophrenie, multiple Sklerose und später die bipolare Störung.

Brandãos Vater, Freiburghaus und Brandão
Vater Carvalho Brandão, Regisseur Moris Freiburghaus und Dino Brandão. (Bild: Flavio Leone)

«Die Idee für den Film kam von ihm», sagt Freiburghaus. Während des gesamten Prozesses habe er Brandão regelmässig gefragt, ob er sich noch immer wohlfühle mit dem Gedanken, so offen mit seiner Krankheit vor die Öffentlichkeit zu treten. Jedes Mal habe er zugestimmt. «Es gibt in diesem Film diverse Facetten meiner selbst», wird Brandão im Pressedossier zitiert. Er sei sich des Elends bewusst, oft auch wütend darüber. Dennoch sei es ihm nicht schwergefallen, sich so zu zeigen: «Ich fand es wichtig – ja, überlebenswichtig. Kunst als Gott», schreibt Brandão.

Projekt zur Entstigmatisierung

Diese völlige Überzeugung spiegelt sich in seinem Auftreten vor der Linse. Die Kamera scheint ihn nie zu stören – weder, wenn er halbnackt durchs Atelier stolpert, noch in intimen Gesprächen mit seinem Vater, der ihn liebevoll unterstützt, aber sichtlich unter dem Zustand seines Sohnes leidet.

«Die Krankheit macht egoistisch», sagt Freiburghaus. Als Freund stehe man oft hinten an. Während der Arbeit habe er lernen müssen, Grenzen zu ziehen und professionelle Hilfe zu holen.

Sowieso sei es nicht leicht, die Kamera auf einen Freund in so labiler Verfassung zu richten, sagt Freiburghaus. Durchgezogen habe er das Projekt auch aus dem gemeinsamen Anliegen heraus, psychische Krankheiten zu entstigmatisieren. Brandão beschreibt es so: «Ich glaube, dass Sichtbarkeit zu mehr Solidarität führt, zu grösserem Verständnis – und dazu, dass wir als Gesellschaft besser lernen, mit kurligen Menschen umzugehen.»

Neues Album wartet

Die Krankheit prägt den Film, doch sie füllt ihn nicht aus. Es sind vor allem die sensiblen Beziehungen und die Lebendigkeit des Künstlers und seiner Musik, die ihn tragen. Immer wieder ist Brandão vor dem Klavier oder dem Mischpult in seinem Atelier zu sehen, das von Freiburghaus als sein «Safe Space» beschrieben wird. Dort verarbeitet er, was in ihm vorgeht. Entstanden ist dabei sein neues Album «I love you, I leave you», welches zeitgleich mit dem gleichnamigen Film erscheint.

«Han gar nüm gschlafe, jetzt bini müed. Alles isch verdorbe, de Saft isch fuul», singt er in der neuen Single «Müed». Die Stimme gespannt, schneidend – und trotzdem wohlklingend wie eine warme Umarmung. Eine Symbiose von Gegensätzen. 

Der Kinostart von «I love you, I leave you» ist auf den 6. November geplant, dann touren die beiden mit dem Dokumentarfilm durch die Schweiz. Freiburghaus sagt, er freue sich auf die Diskussionen über den Film, sei aber auch nervös. Die ungeschminkte Ehrlichkeit des Projekts mache es leicht angreifbar. Halt gebe ihm aber, dass ihn die Geschichte seines Freundes selbst nach zahlreichen Sichtungen an der Premiere noch berührt habe. «Ich glaube, das ist ein gutes Zeichen.»

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