Gastrotrend

Meeresfrüchte aus dem Plastiksack: Neuer Hypefood in Altstetten

Der nächste Trend aus dem Internet ist in Zürich angekommen. Ein Popup in Altstetten serviert Muscheln, Garnelen und Lobsterschwänze im Plastiksack. Ein Erlebnisbericht über Krabbenbeine und klebrige Finger.

Seafood Boil Essen Popup
Kein Foodtrend für Zartbesaitete: Der Seafood Boil verlangt Körpereinsatz. (Bild: Nina Graf)

Wer den Sirenengesängen der Social-Media-Algorithmen folgt, landet mitunter an unerwarteten Ecken der Stadt.

So stehen wir an einem Sonntagabend bei 12 Grad und Nieselregen in Altstetten, zwischen Autobahnzubringer und Coop-Superstore, vor ein paar Containerboxen – nur weil wir Influencern zugesehen haben, wie sie Meeresfrüchte direkt aus Plastiksäcken essen.

Der Hype

Seafood Boil nennt sich das und kommt aus den Südstaaten der USA. Krebse, Muscheln, Garnelen undsoweiter werden in einer Brühe gekocht, auf den Tisch ausgekippt und mit den Händen gegessen.

Ende November erreichte das Gericht als Trend in den sozialen Medien die Limmatstadt. «DBs Kitchen bringt den ersten Seafood Boil nach Zürich» berichten diverse Influencer direkt in die Linse und unseren Instagramfeed.

Bestellt wird im Voraus, das Essen kommt mit nach Hause, denn Sitzplätze vor Ort gibt es keine. Viermal findet der Anlass im Dezember statt, vergangenen Sonntag zum ersten Mal.

Wenn der Hype um das Gericht gross genug ist und die Algorithmen schlau bespielt werden, funktioniert ein Pop-Up offenbar auch ohne bekannte Köch:innen oder Gastrounternehmen.

Die Köchin

Gemeldet ist das Unternehmen auf Dubby Usman, am Telefon meldet sich eine ihrer zwei Töchter. Ihre Mutter spreche nicht fliessend Deutsch, deswegen übernehme sie die Kommunikation. Weil es das Projekt der 59-jährigen Usman ist, will die Tochter nicht selber namentlich auftreten. Hinter DBs Kitchen stecke der Traum der Mutter, eines Tages ein eigenes Restaurant zu führen. Auch dort soll es Seafood geben, inspiriert von ihrer Heimat Nigeria.

Die «Boils» würden direkt vor Ort zubereitet, erklärt die Tochter. Dazu haben sie sich im Container des Genossenschaftsprojekts «die Cuisine» eingemietet.

Die Inspiration für das Gericht hätten sie aus den USA; die Idee mit den Influencern als Werbebotschafter stammt von der Tochter.

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300 Portionen werden an diesem Abend serviert.

Wir sind nicht die einzigen, die die Videos gesehen haben: Um 17 Uhr stehen bereits rund 80 Leute an. Total gibt DBs Kitchen an diesem Abend knapp 300 Bestellungen raus.

Annahme: Das hier ist nicht das typische Brasserie-Lipp-Publikum, das sich am Wochenende eine Auster Fines de claire no1 für 9.50 das Stück gönnt. 

Das Publikum

Die Kundschaft ist jung und scheint es gewohnt zu sein, für Begehrtes anzustehen – seien es Sneaker, Döner oder eben Meeresfrüchte. Drängeln tut niemand, die meisten schauen ins Smartphone.

Hinter uns in der Schlange warten Vater und Tochter. Die Tochter hat aus den sozialen Medien vom Rummel erfahren. Der Vater ist ihr zuliebe hier, wie er erzählt, denn «ich mag das gar nicht, Fisch und Muscheln und all das». Da der Weg zurück in den Aargau zu lange dauert, wird die Tüte bereits im Auto verspeist, «aber mit offenem Fenster».

Etwas weiter hinten sind zwei Freundinnen, beide noch in der Lehre, aber in Bomberjacken, wie es sie in den 2000ern schon gab. Auch sie haben vom Pop-Up via TikTok davon vernommen – «wir erfahren alles via Social Media».

«Next!», heisst es von vorne. Es ist soweit. Wir sind zu dritt und haben die Mama D’s Royal Box bestellt, Kostenpunkt: 169 Franken. Ein junger Mann händigt uns den weissen Plastiksack.

Das Essen

15 Minuten später sind wir zuhause und was jetzt folgt, wissen wir dank der Onlinevideos: Der Inhalt des Plastiksacks wird in die Aluschale geleert, die mitgegeben wurde.

Der Geruch von Knoblauch, warmen Gewürzen und – wie zu erwarten – Meeresfrüchten hängt schwer über dem Tisch. Plastikschürzen umgeschnallt und los geht‘s. Unserre Finger ersetzen heute Gabel und Messer.

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Vom Plastiksack gehts in die Schüssel.

Ein orange-rot schimmernder Berg aus Schalen und Fühlern türmt sich auf dem Tisch, gezackte Beine ragen über den Schüsselrand.

Es gibt Miesmuscheln, Garnelen, King Crab, Lobsterbeine, dazu Maiskolben, Kartoffeln und zwei gekochte ... Eier? 

Wir starten vorsichtig mit einer Miesmuschel, darauf folgt die Garnele. Kopf ab, Schwanz ab, die Beine wegziehen und unter dem Schutz der Rückenplatten offenbart sich das weiss-rosa Fleisch.

Der Saft trieft über die Finger und Hände, die dickflüssige, glänzende Buttersosse klebt am Kinn.

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Das Gericht verlangt körperlichen Einsatz. (Bild: Nina Graf)

Wer traut sich an das Ei ran? Gekocht im würzigen Sud schmeckt es unerwartet gut. Als Nächstes folgt der Lobsterschwanz. Die Schale piekst die ungeübten Hände, also kommt die Pouletschere zum Einsatz, ein Knacken und der Panzer bricht.

Woher kommen diese Tiere eigentlich?

Der Seafood

Auf der Webseite fehlt die Herkunftsdeklaration der Nahrungsmittel. Auf Nachfrage heisst es von DB Kitchen, die Meeresfrüchte kämen aus Norwegen, der Niederlanden, Kanada und Vietnam. Und klar, die Nachhaltigkeit bei importiertem Seafood sei eine Herausforderung. Sie würden deshalb Wert auf die Auswahl der Schweizer Lieferanten legen.

Die Frage, warum man in Zürich überhaupt Krabben, Lobster und Garnelen essen sollte, beantwortet Tochter Usman mit einer Gegenfrage: «Die Zürcher:innen lieben das Meer, warum bis zu den nächsten Ferien warten?» Vor allem Kund:innen aus Spanien und Italien hätten sich über das Pop-Up gefreut.

Das Fazit

Zurück am Tisch ist die Aluschüssel bis auf zwei Kartoffeln und einen Shrimp leer. Die Finger kleben, alle sind satt und die Portion Reis, die dazu kam, hätte es nicht gebraucht.

Seafood Boil
Ein Stapel Servietten und eine Royal Box später ist der Seafood Boil aufgegessen. (Bild: Nina Graf)

Das Fazit: Es hat geschmeckt, obwohl die Shrimps im Biss fester sein dürften. Am meisten überzeugt haben die süsse Knoblauch-Tomaten-Buttersosse und die Lobsterschwänze, auch wegen des Abenteuers, sie zu öffnen.

Doch eine reine Geschmacksbeurteilung reicht hier nicht. Die Metafragen drängen sich auf: Muss man in Zürich Meerestiere aus dem Plastiksack essen? Nein. Gibt es dafür einen Nachhaltigkeitspreis? Auch das nicht.

Würden wir uns dieselben Fragen mit der gleichen Vehemenz stellen, wenn wir den importierten Lobster in einer teuren Brasserie gefuttert hätten? Oder würden wir in einer etablierten Hochpreisumgebung solche Widersprüche eher akzeptieren?

Vermutlich ja – doch bevor wir jetzt die Debatte über Klassismus und Meeresfrüchte als sozial codierte Luxusgüter eröffnen, müssen wir uns erst das Gesicht waschen.

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