«Frauen sind besonders von der Krise auf dem Wohnungsmarkt betroffen»
In Zürich sei lange an den Bedürfnissen von Frauen vorbei gebaut worden, sagt Stephanie Tuggener. Was die Folgen davon sind und wie eine feministische Stadt aussehen könnte, erklärt die Geografin im Interview.
Isabel Brun: Sie setzen sich seit vielen Jahren dafür ein, dass Städte wie Zürich gendergerechter geplant und gebaut werden. Warum?
Stephanie Tuggener: Weil die Perspektive von Frauen bis Mitte des 20. Jahrhunderts in der Architektur gänzlich fehlte. Das Feld war lange Zeit von Männern dominiert. Aus diesem Grund wurden viele Gebäude, Stadträume und Wohnhäuser nach ihren Bedürfnissen erstellt. Wie Frauen wohnen wollten, hatte schlicht keine Priorität.
Wie hat sich das gezeigt?
Man hat sich zum Beispiel keine Gedanken dazu gemacht, wie man eine Küche gestalten kann, um das Kochen zu erleichtern, oder ob eine Waschküche im Untergeschoss Sinn macht. Hausarbeit wurde gar nicht als Arbeit angesehen, geschweige denn gleichberechtigte Arbeit. Das zeigt sich auch beim Begriff der «Schlafstadt».
Was ist das?
Das sind Stadtteile in der Agglomeration, in denen ein Grossteil der Einwohner:innen – meist Männer – für die Lohnarbeit in die Stadt pendeln und nur zum Übernachten zurückkehren. Alleine die Tatsache, dass sich die Bezeichnung durchgesetzt hat, zeigt, dass wir Hausarbeit oder Kinderbetreuung anders bewerten und nicht als Arbeit sehen.
Wie sähe denn eine Stadt aus, die diese Bedürfnisse berücksichtigt?
In Bezug auf die Architektur wären Wohnungen flexibler nutzbar, damit sie sich leichter an die Familienplanung anpassen liessen. Sie wären in eine Umgebung eingebettet, die Care-Arbeit erleichtert: Das können Fenster sein, die von der Küche oder dem Wohnzimmer aus eine gute Sicht in den Innenhof ermöglichen, ein Gemeinschaftsraum, der die soziale Interaktion zwischen Betreuungspersonen vereinfacht, oder genügend Stauraum für Kinderwagen.
Es scheint widersprüchlich, von einem feministischen Wohnungsbau zu sprechen, wenn das Ziel darin besteht, dass Männer mehr Care-Arbeit leisten?
Auf den ersten Blick wirkt es vielleicht so, aber aktuelle Zahlen zeigen, dass die meiste Care-Arbeit noch immer von Frauen geleistet wird. Es gibt also eine Diskrepanz zwischen unserem Wunsch und der Realität. Zudem kommt es allen zugute, wenn wir die Bedürfnisse von möglichst vielen Menschen bei der Planung unserer Städte berücksichtigen.
«Eine feministische Stadt ist auch eine Stadt der kurzen Wege.»
Stephanie Tuggener, Geografin
Mit diesem Argument müsste es eigentlich ein Leichtes sein, Zürich gendergerecht umzubauen.
Das Problem ist, dass es auch eine Frage der Finanzierung ist, welche Perspektiven und Vorstellungen eine Bauherrschaft bei ihrem Vorhaben einfliessen lassen will. Je mehr Bedürfnisse man berücksichtigt, desto komplizierter und zeitintensiver wird ein Bauprojekt.
Gibt es keine Vorgaben, die sowas regeln würden?
Der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein (SIA) hat einen Katalog mit Normen zu einigen Aspekten der gendergerechten Planung. Doch das sind nur Empfehlungen und zudem noch unkonkrete.
Plädieren Sie also für strengere Richtlinien?
Das wäre eine Möglichkeit. Private Eigentümer:innen werden den Zusatzaufwand kaum ohne juristischen Druck leisten. Und in vielen Bereichen haben sich solche Normen bereits durchgesetzt. Es gibt beispielsweise genaue Vorgaben, wie viele Parkplätze man pro Wohnung zur Verfügung stellen muss. Warum nicht auch eine Quadratmeterzahl für Kinderwagen im Erdgeschoss vorschreiben?
Der verfügbare Platz in Zürich ist begrenzt, die Stadt gilt als gebaut. Ist es hier überhaupt möglich, gendergerecht zu bauen?
Im Bereich der Architektur ist das sicher anspruchsvoll und benötigt innovative Lösungen. Aber das Wohnen hört ja nicht nach der Haustüre auf; auch der Raum zwischen den Gebäuden nimmt wichtige Funktionen ein. Deshalb ist eine feministische Stadt auch eine Stadt der kurzen Wege.
Können Sie das ausführen?
Die Gestaltung der Mobilität spielt eine wichtige Rolle, wenn wir inklusiver planen wollen. Untersuchungen zeigen, dass Männer häufiger mit dem Auto unterwegs sind als Frauen. Wir müssten deshalb zu Fuss gehenden Menschen mehr Beachtung schenken: Einkaufsmöglichkeiten, Kinderbetreuung oder öffentliche Verkehrsmittel sollten in Gehdistanz erreichbar sein.
Sie haben als Treffpunkt für das Gespräch den Röschibachplatz in Wipkingen vorgeschlagen, weil dieser als gelungenes Beispiel für gendergerechte Stadtplanung gilt. Was ist hier anders?
Es gibt mehrere Cafés, Läden, und ÖV-Haltestellen, die dazu führen, dass Menschen auf dem Platz verkehren. Dann sorgen die vielen Parkbänke dafür, dass man auch hier verweilen kann, ohne etwas zu konsumieren. Zudem gibt es ein öffentliches, behindertengerechtes WC, Bäume, die im Sommer Schatten spenden, und der Platz ist verkehrsberuhigt.
«Das Ziel sollte immer eine Stadt für alle sein. Davon profitieren schlussendlich auch die Männer.»
Stephanie Tuggener, Geografin
Der Röschibachplatz gilt aber auch als Paradebeispiel einer Aufwertung im negativen Sinne. Die Mietpreise der Wohnungen im angrenzenden Neubau sind um einiges teurer als jene im vorherigen Gebäude.
Das stimmt. Eigentümer:innen profitieren natürlich davon, wenn Stadtteile attraktiver werden. Der Marktwert ihres Grundstücks steigt und sie können ihre Wohnungen entsprechend auch teurer anbieten. Hinzu kommt das Bevölkerungswachstum, das zu einer höheren Nachfrage führt. Die Leerwohnungsziffer im Kanton Zürich war 2023 so niedrig wie seit der Jahrtausendwende nicht mehr.
Laut einer aktuellen Studie, die im Auftrag des Bundes durchgeführt wurde, sind Frauen über 65 Jahren besonders stark von dieser Entwicklung betroffen.
Das hängt in erster Linie mit ihrer finanziellen Situation zusammen. Oft sind Rentnerinnen aus finanziellen Gründen nicht in der Lage, in eine Wohnung zu wechseln, die ihren Bedürfnissen besser entsprechen würde. Vor allem, wenn sie alleinstehend sind. Ähnlich sieht es bei alleinerziehenden Frauen aus; diese befinden sich überdurchschnittlich oft in prekären Wohnsituationen.
Zudem zeigen Analysen aus Deutschland, dass Männer doppelt so häufig Wohneigentum kaufen als Frauen. Dieses Gefälle wird in der Schweiz vermutlich nicht viel anders aussehen. Man kann also durchaus sagen: Frauen sind besonders von der Krise auf dem Wohnungsmarkt betroffen.
Ist feministisches, gendergerechtes Planen und Bauen also lediglich Symptombekämpfung?
Natürlich liegt in der Diskriminierung von Frauen beim Wohnen das System zugrunde. Wir müssten uns die Frage stellen, ob Wohnen überhaupt eine Ware sein darf.
Trotzdem bin ich der Meinung, dass es auch in der Baubranche ein Umdenken braucht. Wir müssen aufhören, an den Bedürfnissen von Frauen vorbeizuplanen und stattdessen beginnen, Prozesse gleichberechtigt zu gestalten. Das Ziel sollte immer eine Stadt für alle sein. Davon profitieren schlussendlich auch die Männer.
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Isabel hat an der ZHAW Kommunikation studiert und schreibt seit 2019 für Tsüri.ch. Bevor sie sich dem Journalismus verschrieb, arbeitete sie als tiermedizinische Praxisassistentin. Als erste Klima-Redaktorin von Tsüri.ch trieb sie die Berichterstattung zu Klimathemen massgeblich voran. In der Redaktion hält sie die Fäden in der Hand, findet vergessene Kommas und koordiniert die Kolumnen.