Klimaexpertin zum Energiegesetz: «Der Kanton könnte sein Klimaziel schaffen»
Am 28. September entscheidet die Stimmbevölkerung des Kantons Zürich über die Änderung des Energiegesetzes – und damit auch über das Klimaziel Netto-Null bis 2040. Welche Auswirkungen ein Scheitern an der Urne für die Stadt haben könnte, erklärt die Klimaexpertin Denise Fussen im Interview.
Isabel Brun: Vor drei Jahren stimmte die kantonale Bevölkerung dem Klimaziel Netto-Null bis 2040, spätestens 2050, zu. Seither hat sich eine gewisse Klima-Müdigkeit breit gemacht. Am 28. September geht es nun um die Umsetzung: Wie glauben Sie, wird die Abstimmung zum Energiegesetz ausfallen?
Denise Fussen: Ich bin selber sehr gespannt. Klimathemen erleben aktuell keine Hochkonjunktur. Internationale Politik und Kriege dominieren die Medien, während langfristige Themen wie die Klimakrise in den Hintergrund gerückt sind. Diese Entwicklung schwappt auch auf die Politik über: Es herrscht ein härterer Wind für Menschen, die sich für Klimaschutz einsetzen.
Gleichzeitig gab es im letzten Jahr mehrere Naturkatastrophen in der Schweiz, die mit dem Klimawandel zusammenhängen. Zum Beispiel die Überschwemmungen im Rhonetal oder der Bergsturz in Blatten – mit hohen Schäden für die Bevölkerung, die Wirtschaft im In- und Ausland und den Tourismus. Das Problem ist real und gegenwärtig.
Trotzdem empfiehlt die Kantonsregierung, die Vorlage abzulehnen.
Auch Menschen in der Politik sind nicht gefeit vor Unsicherheit. Durch die Abstimmung im Jahr 2022 wurde das Klimaziel in die Kantonsverfassung aufgenommen, doch das ist der erste Schritt auf dem Weg zur Klimaneutralität. Jetzt geht es darum, Massnahmen umzusetzen und Ressourcen zu sprechen.
Dabei hat sich gezeigt, dass die Umsetzung nicht ganz einfach ist. Klimaschutz ist vielschichtig und benötigt die Zusammenarbeit von verschiedenen Akteur:innen. Dies könnte dazu geführt haben, dass sich das eine oder andere Mitglied im siebenköpfigen Rat gefragt hat: «Schaffen wir das überhaupt?» Das ist menschlich. Umso wichtiger wäre es jetzt, das Ziel weiterhin zu verfolgen.
Nicht nur Politiker:innen, sondern auch Expert:innen sind sich uneinig darüber, ob das Ziel in so kurzer Zeit überhaupt realistisch ist – so glaubt beispielsweise der ETH-Klimaforscher Cyril Brunner nicht, dass der Kanton bis in 15 Jahren klimaneutral werden kann. Wie sehen Sie das?
Angesichts dessen, was sich in den vergangenen 15 Jahren alles verändert hat, wäre es durchaus möglich, dass der Kanton sein Klimaziel schaffen könnte – sofern die Rahmenbedingungen stimmen.
Denn wer hätte 2010 gedacht, dass die Elektromobilität einen derartigen Schub erlebt? Oder wie positiv sich die CO2-Abgabe oder die schweizweite Kompensationspflicht auf die Treibstoff-Importeur:innen von 2013 auf die Schweizer Emissionen auswirkt?
«Klimastrategien sind kein Sprint, sondern ein Marathon.»
Denise Fusse, Klimaexpertin
Ohne gesetzliche Verpflichtungen wären wir vermutlich nicht an dem Punkt, wo wir heute sind. Aber klar, alleine schafft der Kanton es nicht, er ist auf die Mithilfe anderer angewiesen: den Bund, die Gemeinden, die Unternehmen und auch die Bevölkerung.
Brunner sagte dem Tages-Anzeiger, vor allem der motorisierte Verkehr mache Klimaneutralität bis 2040 fast unmöglich. Trotz Boom waren letztes Jahr laut dem Bundesamt für Energie nur ein Viertel der Neuwagen in Zürich rein elektrisch betrieben, im laufenden Jahr sind es knapp 29 Prozent.
Der Verkehr ist die heilige Kuh der Schweiz. Viele Bestimmungen werden auf Bundesebene geregelt, weshalb Kantone oder Gemeinden nur indirekt Einfluss darauf nehmen können, wie viele Elektroautos auf den Strassen unterwegs sind.
Ohne gesetzliche Bestimmungen müssten sich darauf verlassen können, dass die Bevölkerung aus eigenem Antrieb auf fossil betriebene Autos verzichtet, was natürlich schwierig ist. Das Beispiel zeigt gut auf, dass es alle Akteur:innen braucht, um den Klimaschutz voranzutreiben.
In Ihrer Arbeit begleiten und beraten Sie Gemeinden auf ihrem Weg, Klimastrategien auszuarbeiten. Welche Herausforderungen kommen da auf?
Das Ausarbeiten ist in der Regel nicht das Problem, meist hapert es an der Umsetzung. Ähnlich wie jetzt beim Energiegesetz. Neben politischen Rahmenbedingungen braucht es für die Klimaziele eine Transformation in der Verwaltung. Dafür reicht es nicht, eine klimaverantwortliche Person anzustellen.
Vielmehr braucht es eine Sensibilisierung der Mitarbeitenden in allen Departementen. Für diesen Prozess braucht es jedoch Ressourcen – personelle, aber auch finanzielle – und nicht zuletzt einen langen Atem. Klimastrategien sind kein Sprint, sondern ein Marathon.
Ist es denn überhaupt nötig, dass jede Gemeinde, jeder Kanton über ein Klimaziel oder eine Strategie verfügt? Der Bund hat doch sowieso Netto-Null bis 2050 beschlossen.
Das stimmt, aber die Schweiz kann nur klimaneutral werden, wenn auch die Kantone und Gemeinden ihre Hausaufgaben machen. Grund dafür ist unser föderalistisches System, das ihnen in gewissen Dingen viel Handlungsspielraum lässt. Ob beispielsweise eine Stadt ein Fernwärmenetz erstellt oder auf eine nachhaltige Raumplanung setzt, liegt in ihren Händen.
Bedeutet das auch, dass der Entscheid an der Urne am 28. September keinen Einfluss auf das Klimaziel Netto-Null 2040 der Stadt Zürich haben wird?
Der Entscheid tangiert den einen oder anderen Bereich und die Rahmenbedingungen verändern sich entsprechend. Aber die Stadt wird auch ohne die Unterstützung des Kantons ihren Weg zur Klimaneutralität fortschreiten können – je nach Entscheid sieht dieser Weg einfach ein wenig anders aus. Ein Ja zur kantonalen Vorlage führt im besten Fall dazu, dass sich Klimastrategien noch mehr etablieren und von der Bevölkerung legitimiert sind. Egal, auf welcher Ebene.
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Ausbildung zur tiermedizinischen Praxisassistentin bei der Tierklinik Obergrund Luzern. Danach zweiter Bildungsweg via Kommunikationsstudium an der ZHAW. Praktikum bei Tsüri.ch 2019, dabei das Herz an den Lokaljournalismus verloren und in Zürich geblieben. Seit Anfang 2025 in der Rolle als Redaktionsleiterin. Zudem Teilzeit im Sozialmarketing bei Interprise angestellt.