Kommentar

Flavien Gousset will selbstständiger Polit-Content Creator werden – braucht es das?

Flavien Gousset, Influencer, SP-Politiker, «der mit den Videos auf Insta» hat ein Crowdfunding gestartet, um hauptberuflich Politik-Videos liefern zu können. Ist das wirklich nötig? Die Tsüri-Redaktion ist sich uneinig.

Flavien Gousset
Will zurück vor die Kamera und unabhängigen politischen Content liefern: Flavien Gousset. (Bild: Nathalie Taiana )

Flavien «der mit den Videos auf Insta» Gousset wurde mit Erklärvideos zu politischen Abstimmungen bekannt. Auf Instagram folgen Gousset rund 27’000 Personen, die Videos erreichen oftmals über eine Million Aufrufe. Jetzt will Gousset daraus einen Job machen und hat seinen alten an den Nagel gehängt.

Ab 200 Unterstützer:innen seines Crowdfundings könne er mit der Arbeit beginnen, ab 650 Unterstützer:innen würde die Social-Video-Produktion zu Goussets Hauptverdienst. Stand Dienstag-Abend haben sich schon 620 Geldgeber:innen gefunden. So wird der Influencer wohl schon bald hauptberuflich «unabhängigen politischen Content» liefern.

Ist das eine willkommene Abwechslung im von Grossunternehmen dominierten Medien-Geschäft? Oder sollten Goussets Aufgabe nicht Profis übernehmen – zum Beispiel unabhängige Lokaljournalist:innen? Die Tsüri-Redaktor:innen Dominik Fischer und Nina Graf sind sich uneins.

Pro: «Let him cook»

Dominik Fischer: In den USA gehört die politische Einflussnahme durch Milliardäre zum Alltag, Geschäftsmänner übernehmen politische Ämter oder werden direkt Präsident. Wer unbedarft «News» auf YouTube, Twitch oder TikTok konsumiert, geht nicht selten einem Content Creator auf den Leim, der direkt aus der Politik oder von Big Business gesponsert wird. 

In der Schweiz ist zum Glück alles eine Nummer kleiner. Doch auch hier nutzen Reiche gerne ihr Geld zur politischen Einflussnahme oder kaufen sich direkt eine eigene Zeitung. Wirtschaftskomitees «investieren» fleissig in die bürgerlichen Parteien und im Kampf gegen den Eigenmietwert liess der Hauseigentümerverband (HEV) jüngst mehrere Millionen Franken springen. 

Ein junger, linker Influencer, der seine sorgfältigen Recherchen durch Crowdfunding finanziert, scheint mir da ein kleines Übel zu sein, nein sogar eine willkommene Abwechslung.

Neben den Millionen, die sonst fliessen, gleicht Goussets Crowdfunding-Projekt einem Tretboot auf stürmischer See. Und doch sind zahlreiche seiner Videos viral gegangen, haben der einen oder dem anderen zum Klassenbewusstsein verholfen und – vielleicht? – auch schon Abstimmungen entschieden. Auf Instagram spricht Gousset inzwischen zu über 27'000 Menschen, manch ein:e Politiker:in wünscht sich eine solche Reichweite. 

Ob seine «Deep Dives» und «investigativen Recherchen» journalistischen Standards genügen werden, bleibt abzuwarten. Doch das garantiert auch die Berufsbezeichnung «Journalist:in» nicht immer. Ich bin sicher, Gousset wird sich sorgfältig an die Arbeit machen. Daher mein Fazit: «Let him cook». 

Flavien Gousset
In den letzten Jahren hat Flavien Gousset als SP-Campaigner gearbeitet und den Podcast «Meyer:Wermuth» produziert. Nun will er sich selbstständig machen. (Bild: Joel Hunn)

Kontra: «Das gibt es bereits, und es heisst Journalismus»

Nina Graf: Nach bedrohten Igeln, bedrohten Kulturhäusern und bedrohten Lokalmedien (schuldig im Sinne der Anklage) macht nun auch Flavien Gousset ein Crowdfunding. Und der Zürcher, Sympathieträger bei der jungen, urbanen Bubble, wird das Ziel von 650 Unterstützer:innen auch locker erreichen.

Goussets richtige Analyse: «Die Welt lässt sich eher verändern, wenn wir sie verstehen». Sein Fazit, dass es dazu eine Eigenmarke als Polit-Video-Creator braucht, greift aber zu kurz. Denn wofür zahlt man genau?

Der 28-Jährige will «Deep Dives, Interviews, investigative Recherchen» machen. Super Sache, nur gibt es das bereits, es heisst Journalismus. Der findet aber in redaktionellen Strukturen statt und unterliegt den Rechten und Pflichten des Presserats.

Goussets Videos waren und werden auch weiterhin klar im linken Spektrum zu verorten sein. Als SP-Mitglied, ehemaliger Nationalratskandidat und Campaigner ist das kein Wunder und – sofern transparent gemacht – auch kein Problem. Nur gibt es das in der Politwelt bereits, es heisst politische Kommunikation und verfolgt parteipolitische Interessen.

Dass Goussets Inhalte helfen, Menschen mit Politik zu erreichen: absolut einverstanden. Dass er für seine Arbeit bezahlt werden will: geschenkt.

Wie Gousset richtig schreibt, leben wir in verunsichernden Zeiten. Klima und Portemonnaie kriseln, während Fake News und Despoten florieren. Was dagegen hilft, ist Orientierung und Klarheit. Für Goussets Video-Eigenmarke heisst klar benennen, was der Inhalt sein soll – Journalismus oder Campaigning.

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