Ein Zuhause auf Zeit: Befristete Mietverhältnisse nehmen in Zürich zu

In Zürich werden immer mehr Wohnungen befristet vermietet. Wie es sich anfühlt, nur ein Zuhause auf Zeit zu haben, wissen Julia und Ibrahim.

Zwischenmieten Julia & Ibrahim
Julia ist innerhalb von 15 Jahren zehnmal umgezogen und Ibrahims befristetes Zuhause läuft in drei Wochen ab. (Bild: Lara Blatter)

Seit 2009 lebt Julia* in Zürich. Einen Kleiderschrank besitzt sie nicht – «zu schwer, um zu zügeln». Ihr Esstisch lässt sich zusammenklappen und ist schnell abgebaut. «Ich lebe wie eine Nomadin», sagt die 45-Jährige. Diese für sie erschütternde Erkenntnis hatte sie Anfang Juli, als sie in ihre elfte Wohnung in Zürich gezogen ist. Ebenfalls wieder ein befristetes Verhältnis. 

«Seit ich in Zürich bin, hatte ich nie Ruhe, lebte nie in einer Wohnung auf lange Zeit», sagt sie. Die längste Zeit, die Julia in derselben Wohnung verbrachte: 2,5 Jahre. Als Studentin kam die Peruanerin in die Schweiz und machte ihren Master an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). 

Stress, keine Ruhe – die Gefühle, die Julia beschreibt, kennt Ibrahim bestens. Der Journalist und Kameramann kam 2018 aus Gaza in die Schweiz. Sein erster Halt war Luzern. 2021 ist Ibrahim nach Zürich gekommen, seither ist er viermal umgezogen. «Ich brauche Stabilität und ein Zuhause, um endlich anzukommen», sagt er.

Seine aktuelle Wohnsituation gibt ihm aber alles andere als Stabilität: Ende August muss Ibrahim seine vier Wände wieder verlassen, fünf Monate hat er in einer Zwischenmiete gewohnt. Die Häuser werden demnächst abgerissen. Wohin der 43-Jährige gehen wird, ist unklar.

Aufgrund seines Aufenthaltsstatus muss sein zukünftiges Zuhause im Kanton Zürich liegen, auch will er die Stadt aufgrund seines Jobs und seiner Familie nicht verlassen. Seit etwa einem Jahr leben seine beiden Kinder in Zürich. «Ich war lange Zeit getrennt von ihnen. Jetzt verlasse ich sicher nicht die Stadt. Ich will meinen Kindern nahe sein», sagt er. In Luzern habe er mal in einem Dorf gelebt, erzählt er. «Ich fühlte mich alleine und bekam Depressionen – ich brauche die Stadt und den sozialen Austausch.»

Die ständige Suche und die Umzüge beeinflussen die Leben der beiden auf diversen Ebenen: Karriere, Beziehung, psychische Gesundheit. Damit sie auf dem Wohnungsmarkt keine zusätzlichen Benachteiligungen erfahren, stehen sie nur mit Vornamen hin.

Jede achte Wohnung ist befristet ausgeschrieben

Der Blick ins Netz zeigt, dass die Wohnsituation von Julia und Ibrahim Realität vieler Zürcher:innen ist. Unzählige Wohnungen sind zur Untermiete oder befristet inseriert. Besonders in Zürich ist der Anteil solcher Inserate in den letzten Jahren stark gestiegen. Wie eine Auswertung des Tages-Anzeiger aus den Monaten Januar bis März 2024 zeigt, war mit 13 Prozent jede achte Wohnung zur Untermiete oder befristet ausgeschrieben. Im Jahr 2014 lag die Zahl noch bei knapp 3 Prozent.

Die Gründe seien zum einen die Marktentwicklungen, so ein Immobilienexperte gegenüber der Zeitung. Die steigenden Mieten und die wenigen Angebote würden Anreize schaffen, dass Mieter:innen ihre Wohnung befristet untervermieten, statt sie zu kündigen. Zum anderen habe die Bautätigkeit in den letzten Jahren in Zürich zugenommen. Der Bau von Ersatzneubauten führe meist zu Leerkündigungen, diese Lücke füllen zunehmend professionelle Zwischennutzungsfirmen.

Marginalisierte Menschen leiden doppelt

Was kostet es eine Gesellschaft, wenn befristetes Wohnen normal wird? Dieser Frage gingen diesen Sommer die Universität Zürich und der Verein Urban Equipe in einem gemeinsamen Forschungsprojekt nach. Im Zentrum des Projekts «Stadt auf Zeit» stand die Beobachtung, dass viele Zürcher:innen nur noch in befristeten Verhältnissen wohnen. «Was für junge oder mobile Menschen attraktiv sein mag, stellt viele Bewohnende zunehmend vor existenzielle Probleme», sagt Geografie-Studentin Valentina Wieser. 

«Instabile Wohnverhältnisse sind ein grosser Stressfaktor und emotional enorm belastend.»

Valentina Wieser, Geografie-Studentin

Die Studierenden haben gemeinsam mit Hanna Hilbrandt, Professorin für Urban Studies und Sozialgeografie, drei Aspekte unter die Lupe genommen: die Rolle der kommerziellen Zwischennutzungsfirmen, den Zusammenhang von temporären Wohnbedingungen und Sorgearbeit sowie die Möglichkeiten, sich gegen die Kündigung zu wehren.

Im Laufe des Projekts haben die Teilnehmer:innen diverse Abrissprojekte in der Stadt besucht und mit betroffenen Mieter:innen gesprochen.

In den Gesprächen gab es oft einen gemeinsamen Nenner: «Instabile Wohnverhältnisse sind ein grosser Stressfaktor und besonders für marginalisierte Menschen emotional enorm belastend», sagt Wieser. «Die Wohnungskrise verschlechtert die Möglichkeit zur Care-Arbeit», ergänzt Hilbrandt. Von der Pflege von Angehörigen, über den Familienausflug, bis zum Badezimmer putzen – jegliche Sorgearbeit brauche Zeit und Geld und wer auf Wohnungssuche sei, habe diese Ressourcen nur beschränkt. 

Auch führen befristete Verhältnisse ihr zufolge oft zu wenig sozialer Stabilität im Quartier. Die Professorin beobachtet, dass schlussendlich die gesellschaftliche Teilhabe unter befristeten Wohnverhältnissen leidet: «Menschen bringen sich im Quartier, im Verein und der lokalen Politik eher ein, wenn sie verwurzelt sind.»

Ibrahims Zuhause auf Zeit: Die Natur holt sich die Häuser der Siedlung Grossalbis, die bald abgerissen werden, zurück. (Bild: Lara Blatter)

Anfangs hätten Julia die unsicheren Wohnverhältnisse nichts ausgemacht, als Studentin erwartete sie nichts anderes und das Leben in Wohngemeinschaften fand sie spannend. Mittlerweile haben sich ihre Lebensumstände geändert. Zuerst erkrankte die Künstlerin an Rheuma, etwas später wurde bei ihr ein Hirntumor diagnostiziert. Dadurch wurde die damals 36-Jährige zur IV-Rentnerin. 

Und während die Mieten in den letzten Jahren gestiegen sind, ist ihre IV-Rente auf etwa demselben Niveau geblieben. Entsprechend klein ist ihr Budget, das sie für Mietkosten ausgeben kann. Zudem fehlt ihr durch ihre gesundheitliche Situation die Energie, die es bei der Suche nach einer Wohnung benötigt. Auch kam es für sie nicht infrage, die Stadt zu verlassen. Aufgrund vieler ärztlicher Termine ist sie bis heute auf die Infrastruktur der Stadt angewiesen.

Zwischennutzungsfirmen verstärken die Wohnungsnot

«Sei Teil der Gemeinschaft» und «Entdecke wahre Nachbarschaft neu» steht auf Plakaten, die prominent in der Siedlung Grossalbis im Friesenbergquartier angebracht sind. Der QR-Code führt auf eine Homepage der Zwischennutzungsfirma Novac Solutions, der aktuellen Mieterin der Siedlung. 

Den Sommer hat Ibrahim nun in einem von diesen Reihenhäuschen am Fusse des Uetlibergs verbracht. Eine Arbeitersiedlung aus den 1930er-Jahren. Die 74 zweistöckigen Häuser werden bald abgerissen und da, wo bereits niemand mehr wohnt, übernimmt die Natur. Das einzige, was noch an eine lebendige Nachbarschaft erinnert, sind zurückgelassene Möbel in den Gärten.

Novac Solutions warb für die Zwischennutzung mit urbanem Flair. (Bild: Lara Blatter)
Die meisten Häuser sind mittlerweile verlassen, zurück bleiben Spuren von ehemaligen Bewohner:innen. (Bild: Lara Blatter)

Das Versprechen von Gemeinschaft und Nachbarschaft der Zwischennutzungsfirma gleicht einem Affront. Ibrahim sitzt in seinem Wohnzimmer, das spartanisch ausgestattet ist. Es wirklich einzurichten und Bilder aufzuhängen, habe sich nicht gelohnt, sagt er. Obwohl er eigentlich gern würde. Das Reihenhaus mit Garten gefällt ihm. Wieso die Häuser abgerissen werden, versteht er nicht.

Die Häuser gehören der Familienheim-Genossenschaft Zürich (FGZ), eine der grössten Genossenschaften der Stadt. Dass diese die Häuser an einen kommerziellen Zwischennutzer wie Novac Solutions vermietete, sorgte bereits im Frühling für Kritik, wie der Tages-Anzeiger berichtete. Die Genossenschafter:innen zeigen sich entrüstet, dass ihre Genossenschaft mit einer kommerziellen Firma arbeitet, und die FGZ selbst sprach von Zeitdruck. Denn das Neubauprojekt verzögerte sich aufgrund der fehlenden Baubewilligung.

Ein Beispiel, das Fragen zur Rolle zu Zwischennutzungsfirmen aufwirft, findet Professorin Hanna Hilbrandt. In ihrem Projekt «Stadt auf Zeit» hat sie zusammen mit den Studierenden die Rolle von Zwischennutzungsfirmen untersucht. Hauseigentümer:innen engagieren solche Unternehmen, um leerstehende Gebäude zu nutzen und Besetzungen zu vermeiden. 

Die Zwischennutzung sei vor allem ein profitorientiertes Geschäft, das die Rechte der Mieter:innen gefährde. «Mieter:innen in Zwischennutzungen wehren sich häufig nicht gegen missbräuchliche Verhältnisse. Viele kennen die legalen Möglichkeiten dafür nicht», erklärt Geografie-Studentin Valentina Wieser.

Ibrahim muss in drei Wochen ausziehen, eine neue Wohnung hat er nicht. (Bild: Lara Blatter)

Ibrahim bezahlte für sein Zuhause auf Zeit knapp 1000 Franken Miete im Monat. Doch dass es dem Zwischennutzer hierbei wenig um ihre Versprechen geht, liegt auf der Hand. Die Recherchen der Studierenden zeigen: Die Geschäftspraktiken kommerzieller Zwischennutzungsfirmen verschärfen das Wohnproblem in Zürich zusätzlich. «Diese Firmen schlagen Profit aus der Notlage anderer», kritisiert Wieser.

Wie es für Ibrahim in drei Wochen weitergeht, ist ungewiss. Noch diese Woche habe er einen Besichtigungstermin für eine Stadtwohnung. Aus Erfahrung macht er sich keine grossen Hoffnungen. «Wenn ich nichts finde, dann gehe ich als Übergangslösung zu einem Freund nach Horgen. Auf der Strasse lande ich nicht», sagt er. 

«Fluntern, Triemli, Hofwiesenstrasse in Oerlikon, eine WG in der Bertastrasse, Seebach.» Julia kneift die Augen zu, denkt nach und zählt einige ihrer Adressen aus den letzten 15 Jahren auf. Ihre jetzige Wohnung im Kreis 5 ist auf fünf Jahre befristet. Für Julia heisst das: Drei Jahre Ruhe. Deshalb hat sie sich ein richtiges Bett gekauft.

* Name der Redaktion bekannt

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