Ein Abend im Kreis 1: Von süssen Jungs, Drogen und Stichwunden

Gewalt unter Jugendlichen nimmt zu. Ein Abend am Bahnhof Stadelhofen, wo es besonders häufig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt.

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Der Bahnhof Stadelhofen bei Einbruch der Dämmerung. (Bild: Noëmi Laux)

Treffpunkt: MC Donalds am Stadi, 21 Uhr. Luca wartet mit seinen Jungs auf den Rest der Gruppe. In seinem Nacken prangt ein grosses Tattoo mit seinem Jahrgang: 1999. Er trägt weisse Sneaker, die Hose steckt in den Socken. Luca heisst eigentlich anders, seinen Namen möchte er nicht nennen.

Ein fester Handschlag zur Begrüssung, man spuckt zu Boden. Menschen kreuzen den Platz, es ist laut und hektisch. Die Freunde scheinen unter sich bleiben zu wollen. «Das ist sicher ein Zivibulle», werden wir begrüsst. Es braucht einen Moment, bis das Misstrauen fällt. Und dann beginnt Luca zu erzählen. Unter einer Bedingung: Keine Fotos.

Luca hebt sein Shirt und zeigt die Narbe auf seinem Bauch. «Ein Typ hat mich mit einem Messer angegriffen», erzählt er, «einfach so». Passiert sei der Angriff nur wenige Hundert Meter entfernt am Seebecken. «Ich habe ihm mein Shirt auf den Bauch gedrückt, bis der Krankenwagen da war», sagt einer seiner Freunde und drückt Luca demonstrativ die flache Hand auf den Bauch. Dieser nickt eifrig. «Ja, das war krass, Bro.» Die volle Aufmerksamkeit liegt bei Luca. Er scheint sie zu geniessen.

Damals, fährt er fort, als das mit dem Messer passiert sei, vor sechs Jahren, «da war ich noch ein anderer Mensch». Als Luca aus dem Spital entlassen wurde, habe er seinen Angreifer ausfindig gemacht und ihm «eine reingehauen». «Das tat gut, heute würde ich das aber nicht mehr machen.» In seiner Stimme schwingt etwas Stolz, immer wieder blickt er in die Runde und checkt ab, wie seine Freunde reagieren. Alle hören zu, also fährt er fort: «Heute gehe ich Gewalt lieber aus dem Weg.»

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Junge Männer sind in der Gruppe unterwegs. (Bild: Noëmi Laux)

Jugendgewalt nimmt zu

Viele der Jugendlichen, die sich abends am Bahnhof Stadelhofen treffen, haben in ihrem Leben schon Gewalt erfahren: sie wurden Zeug:innen einer Schlägerei, einige von ihnen waren selbst schon in eine gewaltsame Auseinandersetzung involviert. Gemäss aktueller Kriminalstatistik der Stadt passieren in keinem anderen Kreis derart viele Gewaltdelikte wie im Kreis 1 rund um den Bahnhof Stadelhofen. Knapp 9000 Gewaltdelikte zählte die Polizei 2023 im Quartier – so viele wie sonst nirgends in der Stadt. Die Zahl der 15- bis 17-Jährigen, die wegen schwerer Körperverletzung angezeigt wurden, hat sich von 2012 bis 2022 mehr als verdoppelt – von 50 auf jährlich 103 Anzeigen.

Zerrüttete Familien und wenig Perspektiven

Gerät ein junger Mensch mit dem Gesetz in Konflikt, gelangt dieser in die Forensik der Jugendpsychiatrie. Hier geht es darum, herauszufinden, weshalb die Jugendlichen straffällig wurden und es werden psychotherapeutische sowie psychiatrische Massnahmen ergriffen, um das Rückfallrisiko möglichst klein zu halten. Leonardo Vertone ist seit vier Jahren Co-Leiter des Zentrums für Kinder- und Jugendforensik (ZKJF). Täglich hat er mit Fällen zu tun, wie jenem von Luca, der mit dem Messer angegriffen wurde. Die Straftaten reichen von einfachen Schlägereien, über Messerstechereien bis hin zu versuchten Tötungsdelikten, einige davon – zum Glück äusserst selten – enden tödlich.

Viele der gewalttätigen Jugendlichen haben laut Vertone selbst schon im frühen Kindesalter psychische, physische oder sexualisierte Gewalt erlebt. «Diese Kinder haben kaum gelernt, Konflikte anders als durch Gewalt zu lösen.» Doch hinter der harten Fassade befinde sich meist eine tiefe Unsicherheit und Verletztheit. Hinzu käme, dass ein Grossteil sozial schlecht integriert sei. «Während andere in ihrer Freizeit in einem Verein sind, Fussball spielen gehen, hängen andere den ganzen Tag rum und langweilen sich.» Eine Mischung aus all diesen Faktoren begünstige, dass junge Menschen gewalttätig werden.

Ein Männerproblem

Der Grossteil der Gewalttäter ist männlich. Gemäss einer Analyse der Zürcher Oberjugendanwaltschaft vom letzten Jahr ist der durchschnittliche jugendliche Gewalttäter 15 Jahre alt und zu 90 Prozent männlich. 

Das Bild des harten Mannes, der keine Emotionen zeigt, scheint noch immer tief verankert. Männern werde schon früh beigebracht, sich in einer Gruppe zu beweisen und durchzusetzen, während Frauen eher lernen würden, empathisch und kooperierend zu handeln, erklärt Vertone. Diese Rolle als Beschützer und Problemlöser manifestiere sich insbesondere in Stresssituationen: «Während Jungs bei Belastungen eher zu gewalttätigem Verhalten tendieren, verarbeiten Mädchen ähnliche Herausforderungen ruhiger und im Hintergrund, die Gewalt richtet sich dann eher gegen sich selbst.»

Deutlich wird das auch an diesem Abend am Bahnhof Stadelhofen. Im Gespräch übertrumpft einer den anderen, es wird geprahlt und ist laut. Die jungen Männer nehmen Raum ein. Immer wieder handeln sie ihren Status innerhalb der Gruppe aus, indem sie sich gegenseitig provozieren und hochnehmen. Eine Situation, die schnell hochschaukeln und ausser Kontrolle geraten kann – vor allem, wenn Alkohol im Spiel ist, oder Aussenstehende involviert werden.

Süsse Jungs am Stadi, «aber nicht die Schläger»

Auf einer Treppenstufe, schräg gegenüber vom Coop, sitzen drei junge Frauen. Sie stecken immer wieder die Köpfe zusammen und kichern. Alle sind stark geschminkt – wohl in der Hoffnung, dadurch älter zu wirken. Eine zieht an einer E-Zigarette, ihre Freundin nippt an einem Getränk. 

Die Teenager sind zwischen 15 und 17 Jahre alt und erzählen, dass sie sich am Stadi nicht immer sicher fühlen. «Viele hängen hier ab und kiffen aus Langeweile oder trinken Alkohol, weil sie noch nicht in Clubs kommen. Irgendwann werden sie dann aggressiv und fangen an, sich zu prügeln.» Je später es werde, desto eher werde geprügelt. «Viele sind einfach auf Stress ohne Grund aus.» 

Auf die Frage, weshalb sie sich dennoch hier treffen, schmunzelt die Älteste der dreien und sagt: «Wegen der Jungs.» Viele hier seien süss und hübsch, «aber nicht die Schläger».

Drogen begünstigen Gewalt

Etwa zwei Drittel der gewalttätigen Jugendlichen hätten ein Problem mit schädlichem Konsum, so Leonardo Vertone. Im Fokus der Medien stand in den letzten Monaten immer wieder der Kokainkonsum. Aktuelle Zahlen der Universität Zürich zeigen, dass immer mehr Jugendliche und junge Erwachsene regelmässig koksen. Die grösste Gefahr sieht der Psychologe aber nach wie vor im Cannabiskonsum: «Die Annahme, dass Cannabis Jugendliche nur träge und somit nicht aggressiv macht, stimmt nicht.» Jugendliche seien häufig an Hotspots unterwegs, und dort sei Cannabis genauso riskant wie Alkohol. Der Mix führe zum Verlust der Selbstkontrolle. «Jugendliche nutzen Cannabis und Alkohol oft zur Selbstmedikation, was ihre Problemlage nur verschärft», warnt Vertone.

Cannabis wird auch an diesem Abend am Bahnhof Stadelhofen geraucht. Dennoch wirkt die Stimmung bis jetzt friedlich. Ausser ein paar Betrunkenen, die quer über den Platz schreien und Trap-Musik, die in schlechter Qualität aus einem Lautsprecher dröhnt, bleibt es ruhig. Doch die Nacht ist noch jung.

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