«Drogenhotspot Bäckeranlage» – Tsüri-Artikel sorgt für Schlagzeilen
Es war eines der Themen, das im letzten Sommer während mehrerer Wochen die Schlagzeilen dominierte: Weit über die Stadtgrenzen hinaus berichteten Medien über die Bäckeranlage im Kreis 4 – Auslöser war eine Recherche auf Tsüri.ch.
Angefangen hat alles im Herbst 2022, als die Kontakt- und Anlaufstelle (K&A) auf dem Kasernenareal geschlossen wurde, ohne dass die Stadt einen alternativen Standort für den kontrollierten Konsum von Drogen bereitstellte. Das führte dazu, dass sich immer mehr Suchtkranke im öffentlichen Raum, insbesondere in und um die Bäckeranlage, zum Dealen und Konsumieren trafen. Der Aufruhr war gross, die Menschen im Quartier sorgten sich. Opfer und Täter waren schnell definiert.
«Offene Drogenszene in Zürich: Wird die Bäckeranlage zum zweiten Platzspitz?», fragte man sich beim SRF.
«Offener Crack-Konsum und Gewalt ängstigen das Quartier um die Zürcher Bäckeranlage», titelte die NZZ.
Und auf 20 Minuten hiess es: «Bäckeranlage heute erinnert an Platzspitz in den 80ern».
Den medialen Stein ins Rollen brachte eine Recherche von Tsüri.ch. Letzten Sommer erhielten wir den Hinweis, dass die offene Drogenszene im Kreis 4 seit der Schliessung der zentral gelegenen K&A, nur wenige Gehminuten von der Bäckeranlage entfernt, zunehme.
Was haben unsere Artikel ausgelöst? |
Wir befinden uns im Jubiläumsjahr unseres 10. Geburtstags! Deshalb werfen wir immer mal wieder einen Blick in das Archiv von Tsüri.ch: Erzählen die Geschichten hinter den Artikeln, schauen zurück in unsere Anfangszeit und finden heraus, was unsere Recherchen für das Leben in Zürich bedeutet haben. Ab jetzt gibts jeden Monat einen solchen Jubiläumsartikel. |
Tsüri.ch trat Welle los
Noch am selben Tag ging ich in die Bäckeranlage, um mir zunächst selbst ein Bild zu verschaffen und mit den Menschen vor Ort ins Gespräch zu kommen. In der Mitte des Parks spielten Kinder, es wurde grilliert, einige machten es sich auf einer Decke bequem und lasen ein Buch.
Gleichzeitig patrouillerte die Polizei im Park, auf den Bänken am Rand sassen einige und konsumierten oder dealten. Mit ihnen ins Gespräch zu kommen, gestaltete sich als schwierig: Niemand wollte mit mir reden, sobald ich mich als Journalistin zu erkennen gab. Also ging ich ins Quartierzentrum, direkt auf der Bäckeranlage. Die Inhaberin bestätigte meine Wahrnehmung. Seit knapp einem Jahr werde «gedealt und konsumiert, wie ich es seit den 2000ern nicht mehr erlebt habe», sagte sie.
Was dann geschah, überraschte. Keine zwei Tage nach Veröffentlichung des Artikels auf Tsüri.ch war die Rede von einem «Ausnahmezustand». Die Angst, einer «neuen, offenen Drogenszene» unter den Anwohner:innen wuchs, genauso wie der Druck auf die Politik, die Situation in den Griff zu bekommen.
Während die Linke der Meinung war, man müsse – jetzt mehr denn je – die Angebote für die Suchtkranken ausbauen und dürfe diese nicht sich selbst überlassen, forderte die SVP in einem Postulat eine Nulltoleranz gegenüber dem offenen Drogenkonsum. Repression allein löse das Problem nicht, sondern verschärfe es, sagte Suchtexperte und Psychiater Thilo Beck in einem Interview mit Tsüri.ch, wenige Wochen nach dem Artikel, der die Welle losgetreten hatte. «Nur, weil man Plätze sperrt oder Menschen vertreibt, verschwinden die Abhängigen nicht, sie verschieben sich nur», so Beck.
Opfer und Täter schnell definiert
Inzwischen hat sich die Situation rund um die Bäckeranlage beruhigt. Im November 2023 eröffnete die Stadt auf dem Kasernenareal ein K&A-Provisorium, das im Zuge der Neugestaltung des Areals frühestens ab 2030 einer definitiven Lösung weichen soll.
Was bleibt, ist ein gewisser Beigeschmack. Die Opfer in dieser Geschichte waren schnell definiert. Besorgte Anwohner:innen, die Polizei, die die Situation im Griff halten musste, Politiker:innen, von denen rasche Lösungen erwartet wurden. Die Sicht der Abhängigen wurde viel zu wenig eingenommen. Der Tenor: Die Abhängigen sind das Problem, sie sollen aus der Öffentlichkeit verschwinden, am besten ganz unsichtbar werden.
Es ist wichtig, dass wir Journalist:innen uns immer wieder an der Nase packen und den Anspruch hochhalten, so gut es möglich ist, aus allen Perspektiven zu berichten. Rund um die Berichterstattung und den Umgang, mit denen man den Menschen auf der Bäckeranlage teilweise begegnet ist, wäre etwas mehr Empathie (und damit meine ich auch uns) vielleicht ein bisschen menschlicher gewesen.
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