«Wir sind hier, wir sind queer, gewöhnt euch dran!»
Glitzer, High-Heels und Identitätspolitik: Das Schauspielhaus Zürich bringt mit «Die kleine Meerjungfrau» eine Inszenierung auf die Bühne, die Drag und Theater vereint. Dragqueens Ivy Monteiro und Klamydia von Karma im Gespräch über Kunst, Kapitalismus und Politik.
Wer diese Show als fulminant beschreibt, untertreibt. Hier kommst du glitzernd wieder raus – innen wie aussen. Der perfekte Einstieg ins Theater für Menschen, deren Dopamin-Rezeptoren von Tiktok verdorben und die durch herkömmliche Theater nicht zu beeindrucken sind. So oder so ähnlich lässt sich das Stück «Die kleine Meerjungfrau» beschreiben, das im Schauspielhaus Zürich zu sehen ist.
Hellblaue Pailletten, neongrüne Boas, orange Puff-Quilts, feder-Headpieces, blonde und blaue Perücken, silberne, rote und goldene High-Heels («laufen wie auf Messern» werden die Dragqueens später darüber sagen), ein Rettungsring, eine übergrosse Haarbürste. All das zu sehen, noch bevor das Spiel losgeht.
Es könnte oberflächlich wirken, doch glitzernd fällt das Schauspiel in die Tiefe, berührt, verstört, vor allem aber erhellt es. Ein Lacher jagt den nächsten. Minutenlange Standing Ovation zum Schluss. Und während man dem seelischen und wortwörtlichen Striptease zusieht, während Glitzerteil für Glitzerteil abfällt, wird sichtbar, welche Verbindung Arielle zur Welt des Drags hat – und welche Rolle Drag in der Gesellschaft spielt.
In den zwei Stunden und 15 Minuten – etwas kürzer hätte es wohl sein dürfen – fällt man als Zuschauer:in von einer Emotion in die nächste.
Szenenwechsel: Ivy Monteiro und Anis Meschichi schälen sich aus ihren Kostümen, verwandeln sich zurück in jene Personen, die sie abseits der Bühne verkörpern. Während sich Monteiro mit einem Ingwertee in den Händen Zeit bei den Antworten lässt, sprüht Anis Meschichi noch immer vor Energie, gestikuliert lebhaft und wischt sich die letzten Spuren der Kunstfigur Klamydia aus dem Gesicht.
Sofiya Miroshnyk: Was wollt ihr mit diesem Stück erreichen, was soll man davon mitnehmen?
Anis Meschichi (Klamydia): Hinter all diesem Make-up, hinter diesem Fake ist ein Kern, ein Mensch mit einer Geschichte.
Ivy Monteiro: Ich will, dass sich die Menschen befreit fühlen. Kunst sollte immer befreien. Wir erzählen auf der Bühne auch viel aus unserem Privatleben, was nicht leicht ist. Ich hoffe, dass Menschen davon profitieren können.
Meschichi: Wir bieten einen Vorgeschmack auf eine Welt, die frei von all den sozialen Regeln und Normen ist. Ziel ist es, die Schönheit einer solchen idealen Welt aufzuzeigen.
Anis Meschichi, aka Klamydia von Karma, wird in Tunesien als Sohn einer Französin und eines Tunesiers geboren, in eine «ziemlich konservative Familie», wie Meschichi sagt. Was als Schüchternheit des Kindes gelesen wird, deutet Klamydia heute als den Versuch, sich zu verstecken. Durch Drag habe das Versteckspiel ein Ende und Anis Meschichi eine Stimme gefunden.
Dass Dragqueens auf der Theaterbühne auftreten, ist alles andere als selbstverständlich und politisch aufgeladen: Noch 2023 musste die «Drag Story Time», eine Vorlesestunde für Kinder, unter Polizeischutz durchgeführt werden. Der Anlass mit Dragqueens und -kings wurde von der rechtsextremen Gruppierung «Junge Tat» gestört und von Teilen der SVP kritisiert. Nun findet eine Drag-Aufführung auf einer der renommiertesten Bühnen in Zürich statt: dem Schauspielhaus.
«Drag ist Mainstream geworden.»
Ivy Monteiro, Dragqueen
Ist Drag in der Mitte der Gesellschaft angekommen?
Meschichi: Ja und nein. Denn das Schauspielhaus bleibt eine Bühne für ein elitäres Publikum, längst nicht alle können sich ein Ticket leisten. Somit bedeutet dieser Schritt vor allem den Wechsel von der Underground-Szene auf die Theaterbühne.
Monteiro: Da sehe ich anders, Drag ist Mainstream geworden. Es hat nahezu jede Kultur erreicht, die Zugang zu Medien hat, und eröffnet finanzielle Möglichkeiten für Menschen, die früher nicht davon leben konnten. Aber die Geschichte queerer Kulturbewegungen verdeutlicht, dass wir rasch aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwinden und in den Untergrund zurückgedrängt werden, wenn die Unterdrückung an die Tür klopft.
Meschichi: Okay, stimmt, spätestens seit RuPaul's Drag Race (lacht).
«Viele Menschen machen Drag, ohne sich dessen bewusst zu sein.»
Anis Meschichi aka Klamydia von Karma
Über die Herkunft des Wortes Drag scheiden sich die Geister. Drag wird etwa als Akronym für «dressed as a girl» (gekleidet als Mädchen verwendet). Was bedeutet aber Drag für euch persönlich?
Meschichi: Für mich bedeutet Drag, Dinge zu verbiegen. Wir verbiegen Codes, Strukturen, Regeln und Normen – und wir tun das mit Make-up und High-Heels. Und da, wo die Sollbruchstelle ist, wo es bricht, liegt die Schönheit verborgen. Drag hat schon immer existiert und viele Menschen machen Drag, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Zum Beispiel?
Meschichi: Wenn wir zur Arbeit gehen und uns eine Persönlichkeit genauso wie einen Anzug überziehen.
Monteiro: Historisch gesehen hat sich immer wieder gewandelt, was als feminin und maskulin gilt. Für mich bedeutet Drag: Freiheit. Ich kann schüchtern sein im Alltag, aber als Drag kann ich mich frei ausdrücken und tun, was ich will.
Ist Drag also eine Art Schutzanzug, um sich sicherer zu fühlen in der freien Ausdrucksweise?
Monteiro: Von sicher kann keine Rede sein. Es gibt von rechter Seite immer noch viele Angriffe. Im Gegenteil: Drag zu machen ist gefährlich, aber eben auch sehr kraftvoll. Wenn ich auf der Bühne stehe, fühle ich keine Angst.
Meschichi: Die Heuchelei der Rechten ist verblüffend. Sie sagen, sie «wollen die Meinungsfreiheit schützen», verbieten dann aber genau diese, indem sie unsere Kunst unterdrücken. Das ist Nonsens!
«Es ist nicht meine Aufgabe, jemanden mit Kunst zu beschenken, der mich wohl am liebsten umbringen würde.»
Ivy Monteiro, Dragqueen
Drag ist auch politisch, hat eine Message. Doch den allerletzten cis-Hetero aus dem hinterletzten Dorfe zu erreichen ist gar nicht euer Ziel, oder eben doch?
Monteiro: Es ist nicht meine Aufgabe, jemanden mit Kunst zu beschenken, der mich wohl am liebsten umbringen würde. Politiker:innen sollten Räume schaffen, in denen sich Künstler und Öffentlichkeit in einem sicheren und unvoreingenommenen Rahmen treffen können.
Meschichi: Der eine liebt es, der andere ignoriert es, der dritte reagiert mit Gewalt. Die letzten zwei sind typische Reaktionen kognitiver Dissonanz. Wenn die Realität nicht mit dem eigenen Selbstbild übereinstimmt, reagieren viele mit Abwehr. Aber wisst ihr was? Wir sind hier, wir sind queer, gewöhnt euch dran!
Die meisten Drags sind Freelancer, «wenn du jemanden findest, der davon leben kann, lass es mich wissen», sagt Ivy Monteiro. Für viele bleibt Drag eine Kunstform, die durch andere Berufe finanziert werden muss. Monteiro hält sich mit Bühnenauftritten, Eventorganisation und Tanzunterricht über Wasser. Anis Meschichi kritisiert den Mangel an Anerkennung – selbst innerhalb der Kunstszene, wo Drag noch zu oft als Kunstform zweiter Klasse gelte, «deshalb fordern wir von den Institutionen, uns ernst zu nehmen». Regisseur Bastian Kraft habe genau das getan und ihnen diese Bühne gegeben. «Er hat an uns geglaubt», sagen beide.
Nicht der nackigste Popo des Abends. (Bild: Toni Suter / T+T Fotografie)
Michel von Känel als Paprika. (Bild: Toni Suter / T+T Fotografie)
Während Monteiro hauptsächlich in der Kulturbranche arbeitet, ist Dr. Meschichi bei der ETH in der Zellbiologie angestellt und forscht an Pflanzen. Das Make-up ist inzwischen fast weg, nur die schwarzen Smokey-Eyes sind nicht wegzukriegen, sodass Meschichi zwischenzeitlich an einen wild gestikulierenden Waschbären erinnert.
Gibt es Überschneidungen zwischen Wissenschaft und Drag?
Meschichi: In der Wissenschaft materialisieren wir Prozesse, die von blossem Auge nicht sichtbar sind. In der Kunst tun wir dasselbe mit Emotionen. Beide bedienen sich dabei der gleichen Methodik. Am Anfang steht die Frage, dann erstellen wir ein Design, dann kommt das Ganze auf der Bühne zusammen. Sei es auf einer Drag-Show oder an einer wissenschaftlichen Konferenz.
Was ist die nervigste Frage, die man Ihnen immer wieder stellt?
Meschichi: Jene über das sogenannte «Tucking». Wenn wir die Mona-Lisa betrachten, fragen wir auch nicht, was bei ihr zwischen den Beinen ist. Es geht niemanden was an.
Tucking beschreibt das «Hineinschieben der Hoden in den Bauch» und das Ankleben des Penises am Körper, um die Illusion der glatten Schamregion zu erschaffen, wie in der Aufführung erklärt wird. «Alles, was ich will, ist meinen Schwanz loswerden», sagt eine Figur im Stück am Schauspielhaus, und so genau weiss man gar nicht mehr, ob dieser Satz von Arielle oder einer der Dragqueens gesprochen wird.
Monteiro: Mich stört die immer wiederkehrende Frage: «Kannst du mir Drag beibringen?»
Warum?
Monteiro: Erstens meinen es die Leute nie ernst. Sie versuchen uns damit nur in ein Gespräch zu verwickeln. Zweitens: Du wirst weder die Zeit noch die Resilienz haben, all das zu lernen. Drittens: Wenn du es wirklich ernst meinst, buche mich.
Meschichi: Dafür haben wir keine Zeit. Für mich zeigt die Frage, wie Mainstream Drag geworden ist.
Monteiro: Alle meinen, es sei so leicht. Und klar, alle können Drag. Ich verbiete oder verderbe es hier niemandem, aber es ist eine Kunstform, und jede Kunst braucht Zeit und Hingabe.
Das Stück beginnt in der Garderobe. (Bild: Toni Suter / T+T Fotografie)
«Dezenz ist für Provinzfische». (Bild: Toni Suter / T+T Fotografie)
Haben Sie jemals daran gedacht, aufzugeben?
Monteiro: Jeden Tag (lacht). Es ist sehr ermüdend. Früher habe ich in San Francisco drei bis vier Shows in der Woche gemacht, heute finde ich eine pro Woche viel. Denn ich respektiere diese Kunst und will sie mit der nötigen Vorbereitung ausüben. Ich habe Performance studiert und im Auslandssemester in San Francisco zu Drag gefunden. Dort herrscht ein hoher Standard, diesem will ich auch hier gerecht werden.
Die vielen Rollen der Karin Pfammatter. (Bild: Toni Suter / T+T Fotografie)
Die vielen Rollen der Karin Pfammatter. (Bild: Toni Suter / T+T Fotografie)
Die vielen Rollen der Karin Pfammatter. (Bild: Toni Suter / T+T Fotografie)
Meschichi: Das ist eben das Problem, wenn eine Kunstform mainstreamig wird. Dann verdient der Kapitalismus daran mit, indem er dir Dinge, und damit auch das vermeintliche Gefühl der Freiheit, verkauft. Vivienne Westwood hat mal gesagt: «Kunst ist nicht da, um beliebt zu sein», und ich will ergänzen: Sie ist dazu da, um Fragen zu stellen. Kapitalismus hingegen folgt nur der Masse.
Aber der Kapitalismus sorgt dafür, dass Sie bezahlt werden?
Monteiro: Ja, dank Kapitalismus werde ich bezahlt, aber ich würde viel lieber in einer Welt leben, in der das nicht nötig ist, und wir zum Beispiel vom Tausch ohne Geld leben könnten. Das ist eine totale Utopie, ist mir klar, aber wenn ich könnte, würde ich sie dem Kapitalismus vorziehen.
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Medien. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 1800 Menschen dabei und ermöglichen damit den Tsüri-Blick aufs Geschehen in unserer Stadt. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 2000 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für Tsüri.ch und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 8 Franken bist du dabei!
Sofiya Miroshnyk begann ihre berufliche Laufbahn als Chemielaborantin mit einer Ausbildung beim Labor Spiez und anschliessender Tätigkeit bei Givaudan. Nach ihrer Weiterbildung über die BMS am Inforama Zollikofen und der Passerelle am Gymnasium Neufeld studierte sie Philosophie, Politik und Wirtschaft an der Universität Luzern.
Bereits während des Studiums entdeckte sie ihre Leidenschaft für den Journalismus und sammelte erste Erfahrungen bei Tink.ch, wo sie später als Chefredaktorin tätig war. Nach einem Praktikum bei SRF in der Sendung SRF-Schawinski war sie ein halbes Jahr Produzentin bei Schawinski, danach arbeitete sie drei Jahre als Produzentin und Redaktorin bei der SRF-Arena. Es folgten Stationen bei Blick TV und der NZZ am Sonntag. Derzeit ist sie als Redaktorin beim SRF-Club tätig und arbeitet parallel in einem befristeten Teilzeitpensum bei Tsüri.ch.