Dokumentarfilm aus dem Irak: «Wir haben unter Zensur gedreht»

Die Zürcher Regisseurin Maja Tschumi über verschwundene Protagonist:innen, patriarchale Kontrolle – und warum ihr Dokumentarfilm «Immortals» auch ein Akt der Solidarität ist.

Maja Tschumi
Maja Tschumi hat mit dem Dokumentarfilm «Immortals» den «Prix de Soleure» 2025, den höchstdotierten Filmpreis der Schweiz, gewonnen. (Bild: Filmgerberei)

Melak Madhi, im Film Milo genannt, und Mohammed Al Khalili sind zwei junge Iraker:innen um die 20, die während der Proteste 2019 in Bagdad zu Symbolfiguren einer neuen Generation wurden.

Al Khalili filmte mit der Kamera direkt in den blutigen Aufstand hinein und wurde dabei mehrfach verletzt. Milo stellte sich offen gegen das patriarchale System – und wurde dafür von ihrem Vater eingesperrt.

Die Zürcher Regisseurin Maja Tschumi begleitete die beiden Co-Autor:innen und gleichzeitig Protagonist:innen des Films über mehrere Jahre. Der Film läuft ab dem 24. April in den Kinos Riffraff und Houdini.

Sofiya Miroshnyk: Drei Menschen verschwanden während der Arbeiten an der Doku. Was macht das mit einem Film – und mit einer Regisseurin?

Maja Tschumi: Der beste Freund von Al Khalili wurde entführt und gefoltert; Milos engster Vertrauter wurde tot im Fluss gefunden. Und noch vor dem Dreh war Milo plötzlich weg. Zwei Monate lang. Wir wussten nicht, ob sie noch lebt. Ich sass da, mitten im Antrag für die Filmförderung, ich war völlig fertig und dachte: Was mache ich jetzt?

Und dann fiel mir auf: Genau das ist der Alltag, mit dem meine Protagonist:innen leben. Ihre Reaktion ist immer dieselbe: einfach weitermachen. Also schrieb ich den Antrag fertig – und dachte mir, falls Milo tot ist, widme ich ihr diesen Film.

Melak Madhi - im Film Milo genannt
Melak Madhi (Milo) ist eine willensstarke Feministin, die sich als Mann ausgibt, um sich in Bagdad freier bewegen zu können. (Bild: Cineworx)

Wie kam der Kontakt zu Milo wieder zustande?

Nach zwei Monaten meldete sie sich über Instagram – vom Handy ihres Bruders. Sie war von ihrem Vater eingesperrt worden. Alles weggenommen: Handy, Dokumente, Freiheit. Trotzdem hat sie einen Weg gefunden, sich zu melden. Für mich war das der Moment, an dem ich begriffen habe, wie tief ihr Commitment für diesen Film war.

Wie geht man mit solchen Gefahren um?

Wir mussten eine Lösung finden. So entstanden die sogenannten «Reenactments». Wir haben Szenen nach-inszeniert, die wir nicht zeigen konnten. Den Konflikt mit dem Vater zum Beispiel. Jeden Drehtag schwebte dieses Damoklesschwert über uns: Wird Milo morgen wieder verschwinden? Darf sie raus? Wird sie entdeckt?

Trägt der Film deshalb den Titel «Immortals» – zu Deutsch «Unsterbliche»?

Genau, weil die jungen Menschen sich selbst als unsterblich inszenieren. Als Superheld:innen. Sie behielten ihre Protestkleider wie Kostüme. Ihr Leben war so oft nahe am Tod – und trotzdem wollten sie etwas Grösseres, fast Übermenschliches verkörpern. Es gibt diesen Märtyrerkult im Irak. Auch Al Khalili sagte einmal, er wollte sterben, damit man sich an ihn als Held erinnert.

Was waren die grössten Herausforderungen beim Dreh?

Einen Film zu machen über Rebell:innen und einen politischen Aufstand im Irak, stellte uns vor Sicherheitsrisiken. Wir haben unter Zensur gedreht: zeigen wir zu viel, wird es gefährlich – von Seiten des Regimes oder auch Milos Familie. Bis heute sind wir mit der irakischen Crew in engem Dialog über die Sicherheit der Crew.

«Einmal stand der Sicherheitsmann meines Hauses mitten in der Nacht in meinem Zimmer.»

Regisseurin Maja Tschumi über die Dreharbeiten im Irak

Gab es auch für Sie als westliche Filmemacherin spezifische Herausforderungen?

Auch als westliche Frau im Irak zu drehen, war ein Balanceakt. Es gibt kein Gesetz, das dich schützt, die Polizei auch nicht. Deine Sicherheit hängt von den Beziehungen ab, die du hast. Ich habe von irakischen Frauen gelernt: Nie allein irgendwo hingehen. Nur Uber oder Karim. Am Anfang wusste ich das nicht. Und es kam zu Übergriffen. Einmal stand der Sicherheitsmann meines Hauses mitten in der Nacht in meinem Zimmer.

Wie haben Sie sich geschützt?

Indem ich mir ein Netzwerk aufgebaut habe von Journalisten, Filmemachern, Freunden und durch die Kollaboration mit Männern, denen ich vertraue. Wie Al Khalili oder dem irakischen Co-Produzenten. Die junge Generation, mit der wir gedreht haben, ist progressiv. Freund:innen vor Ort haben mir gesagt, wo ich wie auftreten darf. Kleidung, Bewegungsradius, Sprache. Ohne all diese Unterstützung wäre der Film nicht möglich gewesen.

Milo und Freundin Avin.
Milo (rechts) und ihre Freundin Avin sinnieren über ihr Leben und die dauernd lauernden Gefahren darin. (Bild: Cineworx)

Wie sind Sie auf Al Khalili und Milo gestossen?

2019 war ich in einem Aktivist:innen-Workshop in Berlin. Da lernte ich einen Iraker kennen, mit dem ich die ersten zwei Reisen nach Bagdad machte. Ich traf rund 40 mögliche Protagonist:innen, suchte gezielt nach Menschen, die selbst filmten. Al Khalili war schnell gesetzt. Beim dritten Treffen gab er mir seine Festplatte. Einfach so. Mit den Worten: «Ich will, dass die Welt sieht, was im Irak passiert.» Er hat mir vertraut – und zwar deshalb, weil ich zum damaligen Zeitpunkt keine Produktionsfirma, kein Geld und darum keine klare Agenda hatte.

Videojournalist Mohammed Al Khalili
Videojournalist Mohammed Al Khalili erlebte die Proteste hautnah mit – und wurde bei dem Versuch, sie mit der Kamera zu dokumentieren, mehrfach verletzt. (Bild: Cineworx)

Und Milo?

Sie war schwieriger zu finden. Viele Frauen trauten sich nicht vor die Kamera. Über eine Freundin des Aktivisten lernte ich Milo kennen. Sie hat mich sofort beeindruckt. Dieses Charisma, diese Klarheit. Sie sagte: «Ich will mitmachen. Aber nur, wenn ich ausreisen kann.» Das war ihre Bedingung – und ihre Schutzstrategie.

Wo sind die Protagonist:innen heute?

Milo und ihre Freundin Avin leben in Berlin. Wir sind Freundinnen. Beide haben Asyl erhalten. Al Khalili ist noch in Bagdad, lebt mit seiner Familie, arbeitet als Videojournalist und hat seine Traumata langsam verarbeitet.

Für Al Khalili war die Kamera seine Waffe, wie es im Film heisst – und für Sie?

Sie ist mein Schutz. Mein Zugang zur Welt. Ohne Kamera hätte ich mich sowas nie getraut. Sie gibt mir Mut. Ich glaube, da bin ich Khalili sehr ähnlich. Auch für ihn ist die Kamera eine Waffe – gegen das Vergessen, gegen die Angst.

Wie politisch darf ein Dokumentarfilm sein? Wo ziehen Sie die Grenze zwischen Beobachtung und Positionierung?

Er muss Haltung zeigen – aber nicht predigen. Mein Film ist klar auf der Seite der Protestierenden. Eltern und Regierung gebe ich keinen Raum. Aber ich wollte nicht anklagen, sondern Hoffnung zeigen. Nicht «Was läuft schief?», sondern: «Was ist möglich?» Der Film zeigt viel, benennt aber wenig. Auch aus Sicherheitsgründen.

Milo und Avin
Milo und Avin am Wasser. (Bild: Cineworx)

Was wünschen Sie sich, dass das Publikum mitnimmt?

Empathie und Neugier. Und die Erkenntnis, dass wir nicht so weit von den Iraker:innen entfernt sind, wie es oft scheint. Auch wenn die Proteste blutig niedergeschlagen wurden und weit über 800 Menschen dabei getötet wurden, gibt es Hoffnung: Die jungen Menschen haben gelernt, Nein zu sagen – zu Staat, Familie, Gesellschaft.

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2025-02-04 Sofiya Miroshnyk Portrait

Sofiya Miroshnyk begann ihre berufliche Laufbahn als Chemielaborantin mit einer Ausbildung beim Labor Spiez und anschliessender Tätigkeit bei Givaudan. Nach ihrer Weiterbildung über die BMS am Inforama Zollikofen und der Passerelle am Gymnasium Neufeld studierte sie Philosophie, Politik und Wirtschaft an der Universität Luzern.

Bereits während des Studiums entdeckte sie ihre Leidenschaft für den Journalismus und sammelte erste Erfahrungen bei Tink.ch, wo sie später als Chefredaktorin tätig war. Nach einem Praktikum bei SRF in der Sendung SRF-Schawinski war sie ein halbes Jahr Produzentin bei Schawinski, danach arbeitete sie drei Jahre als Produzentin und Redaktorin bei der SRF-Arena. Es folgten Stationen bei Blick TV und der NZZ am Sonntag. Derzeit ist sie als Redaktorin beim SRF-Club tätig und arbeitet parallel in einem befristeten Teilzeitpensum bei Tsüri.ch.

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