Selnau-Quartier kämpft ums Kraftwerk als Kulturort

Die Stadt und das EWZ wollen den Mietparteien im Unterwerk Selnau künden und dort eine Energiezentrale für ihr Grossprojekt «Cool City» errichten. Doch aus dem Quartier regt sich Widerstand.

Kraftwerk Zürich IG Selnau
Schon bald soll das Unterwerk Selnau der Stadt als Energiezentrale für das Projekt «Cool City» dienen. (Bild: Dominik Fischer/Tsüri.ch)

Am Mittwochabend lud die Interessengemeinschaft (IG) Selnau unter dem Titel «Selnau im Wandel – was bewegt unser Quartier» zu einer Infoveranstaltung, um über die Zukunft des Kraftwerks als kulturellen und sozialen Treffpunkt zu diskutieren.

Zur Vorgeschichte: Auf dem Weg zum Nettonull-Ziel bis 2040 plant die Stadt unter dem Projektnamen «Cool City», Seewasser aus dem Zürichsee für Wärme- und Kälteenergie zu nutzen. Die Energiezentrale für das Grossprojekt soll im Unterwerk Selnau entstehen, das im Besitz des Elektrizitätswerks der Stadt Zürich (EWZ) ist. Im Juli 2024 hatte der Stadtrat für das Projekt Ausgaben in Höhe von 300 Millionen Franken bewilligt. 

«Erhebliche Zweifel» am Standort Selnau 

Doch gegen die Standortwahl an solch zentraler Lage formt sich seit längerem Widerstand. Unterstützung bekam die IG Selnau dabei unter anderem von den Grünen, die in einer schriftlichen Anfrage im Gemeinderat «erhebliche Zweifel» am Unterwerk Selnau als Standort für die geplante Energiezentrale äusserten. 

Seit fast 25 Jahren ist im Unterwerk das Museum Haus Konstruktiv eingemietet. 2016 kam der Impact Hub als Mietpartei hinzu und betreibt in dem Gebäude ein Café, Eventspaces und Meetingräume. Auch Konzerte und Partys finden in dem Gebäude statt. «Alles in allem zieht das Gebäude mit seinen unterschiedlichen Nutzungen jährlich etwa 100’000 Besucher:innen an», so der Impact-Hub-Mitgründer und IG-Selnau-Mitglied Christoph Birkholz.

Um das Gebäude als öffentlichen Ort erhalten zu können, hatte die IG Selnau 2024 eigens eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben, die aufzeigte, dass sich die geplante Energiezentrale auch an anderen Orten – und zwar unterirdisch – realisieren liesse. Sowohl ein Standort unter der ETH als auch im Untergrund des Lindenhofs seien möglich, brachte die Studie hervor: «Nettonull muss nicht auf Kosten der Stadtentwicklung erreicht werden», betont Birkholz. 

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Das Unterwerk Selnau jährlich zieht jährlich etwa 100’000 Besucher:innen an. (Bild: Yusef Evans/Tsüri.ch)

Stadt und EWZ geben sich unbeeindruckt

Doch den FDP-Stadtrat und Vorsteher des Departements der Industriellen Betriebe Michael Baumer liess die Machbarkeitsstudie der IG Selnau kalt. Diese habe «keine neuen Erkenntnisse hervorgebracht», hiess es in seiner Antwort aus dem letzten Juni. Weiter schrieb er: «Die Planungsarbeiten sind so weit fortgeschritten, dass mit dem geplanten Umbau des EWZ-Unterwerks Selnau nach dem Auszug des Mieters Impact Hub pünktlich begonnen werden kann.» 

Schon im Jahr 2031 plant die Stadt die ersten Gebäude mit Energie aus der neuen Zentrale zu versorgen. Der Mietvertrag des Impact Hub wird am 30. Juni 2027 auslaufen. Das «Haus Konstruktiv» hat sich den Plänen der Stadt indes gefügt. Es wird Mitte April zum letzten Mal seine Türen an der Selnaustrasse öffnen, Mitte Mai findet die Neu-Eröffnung im Löwenbräu-Areal statt.

Nicht nur zeigte sich die Stadt von der Machbarkeitsstudie unbeeindruckt, auch verschiedene parlamentarische Anfragen von Links-Grün erzielten keine Wirkung. Gemäss dem Co-Präsidenten der IG Selnau Jean-Pierre Hoby – einst langjähriger Kulturdirektor der Stadt Zürich – wird die Energiebranche im Stadtrat allzu stark hofiert: «wenn die Energie ruft, müssen wir folgen», kritisiert er und klagt: «Wir sind mit unserem Anliegen von der Stadt nicht ernst genommen worden.» 

Kompromiss Erdgeschossnutzung? 

Dabei erfülle das Kraftwerk sozialpolitisch wichtige Aufgaben, gebe dem Quartier Selnau eine Mitte und eine Identität. «Niemand stellt die Klimaziele der Stadt infrage, aber es ist egoistisch von der Stadt und dem EWZ, diesen Standort zu wählen», so Hoby weiter. 

Einen kleinen Hoffnungsschimmer gibt es indes für die IG, denn nach den verpufften Anfragen an den Stadtrat wurde nun von Gemeinderatsmitgliedern der SP und GLP eine Motion eingereicht, die vorsieht, dass das Erdgeschoss des Unterwerks weiter öffentlich nutzbar bleibt.

Dazu soll die aktuelle Bau- und Zonenverordnung angepasst werden. Anders als bei den bisherigen Anträgen verpflichtet die Motion den Stadtrat zum Handeln, sobald diese erfolgreich übergeben wurde. «Wenn die Motion durchkäme, müsste das Erdgeschoss in irgendeiner Form bespielt werden», erklärt IG-Mitglied Christoph Birkholz hoffnungsvoll.

Ansonsten drohe das Unterwerk gemäss Jean-Pierre Hoby zu einem Fremdkörper im Quartier zu werden. «Die Stadt will das Selnau-Quartier zum toten Ort machen», warnt er und bezeichnet den Entscheid energisch als «stadtentwicklungs-politischen Sündenfall».

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Sabina Kalamujic (links) moderierte, Christoph Birkholz (Mitte) und die IG Selnau Co-Präsident:innen Antonia Cornaro (rechts) und Jean-Pierre Hoby (vorne rechts) brachten sich ein. (Bild: Dominik Fischer/Tsüri.ch)

«Das Kraftwerk ist eine Lebensader im Quartier» 

Die Co-Präsidentin der IG Selnau Antonia Cornaro betont: «Früher war diese Gegend ein Unort, eine blosse Verkehrsachse. Jetzt ist es belebt und es zieht Leute an.» Stimmen von Bewohner:innen aus dem Quartier, die an dem Infoanlass zugegen sind, unterstützen diese Sicht. «Das Kraftwerk ist eine Lebensader und gibt dem Quartier Qualität. Vor dieser Nutzung rasten hier bloss Autos zweispurig hindurch. Wir haben Angst, dass es wieder genauso kommt», sagt eine Anwohnerin.  

Eine andere Anwohnerin bemerkt, das Kraftwerk mit der aktuellen Nutzung trage dazu bei, dass die Gegend Tag und Nacht lebendig sei: «Früher war die Gegend sehr düster. Wenn ich mich als Frau hier nachts bewege, fühle ich mich inzwischen viel sicherer», sagt sie.

Nach der erfolglosen Machbarkeitsstudie will sich die IG Selnau nun vermehrt den Quartierbewohner:innen und den Besucher:innen zuwenden und dort Unterstützung für ihre Pläne sammeln. «Das Quartier muss die Stimme erheben. Wir brauchen die Bevölkerung», plädiert Jean-Pierre Hoby. 

Die Erdgeschossnutzung könnte einen Kompromiss darstellen: Das Unterwerk könnte zur Energiezentrale der Cool City werden und Teile des Gebäudes öffentlich nutzbar bleiben. Ob sich Stadtrat und EWZ davon überzeugen lassen, bleibt abzuwarten.

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