Experte für Verdichtung: «Das Niederdorf ist eines der am dichtesten besiedelten Gebiete Zürichs»

Zürich braucht mehr Wohnraum und Hochhäuser könnten hier helfen. Raumplaner Markus Nollert erklärt im Interview, warum sie nicht immer die beste Lösung für Verdichtung sind und weshalb Zürich trotzdem mehr von ihnen sehen wird.

Niederdorf Zürich Kirchgasse
Früher wurden wie hier im Niederdorf die Häuser enger zusammenstehend und die Wohnungen kleiner gebaut. (Bild: Unsplash / Tomek Bagniski)

Verdichtung ist das Zauberwort, wenn es um die Schaffung von mehr Wohnraum geht. Und angesichts der Zürcher Wohnungskrise und einer Leerstandsquote von 0,07 Prozent scheint die Lösung auf der Hand zu liegen: Wenn die Stadt in der Horizontalen keinen Platz mehr hat, dann baut man halt in die Höhe. Und obwohl Hochhäuser in Zürich umstritten sind und sich Kritik an ihnen längst nicht immer entlang politischer Lager festmachen lassen: Das Potenzial des vertikalen Raums beschäftigt auch die Politik. Derzeit berät die zuständige Kommission des Gemeinderats die neuen Hochhausrichtlinien der Stadt Zürich. Diese verkleinert die Gebiete für Bauten bis 80 Meter, schuf aber zusätzliche Zonen für Gebäude bis 60 Meter.

Markus Nollert
Markus Nollert: «Wir müssen viel ausprobieren. Dichte kann unterschiedlich aussehen und wirken.» (Bild: Patrizia Vitali)

Markus Nollert beschäftigt sich beruflich mit der Frage, wie sich der städtische Raum verdichten lässt. Das macht er einerseits als Planer und Geschäftsleiter bei Urbanista.ch, einem Büro für Stadtentwicklung und als Dozent am Departement Bau, Umwelt und Geomatik der ETH Zürich. Nina Graf: Sie sagen, Verdichtung muss nach innen geschehen. Sind Hochhäuser also die Lösung für die Zürcher Wohnkrise?

Markus Nollert: So einfach ist das leider nicht. Es kann sein, dass ein vierstöckiger Bau schlussendlich mehr Wohnraum schafft, als ein Hochhaus.

Das müssen Sie erklären.

Wir können beispielsweise die Überbauung Grünau aus den 70ern in Altstetten mit der Blockrandsiedlung an der Bertastrasse von 1898 vergleichen. Auf den ersten Blick scheint der Fall klar: Die Überbauung Grünau mit ihren 20 Stockwerken muss viel mehr Wohnraum bieten. Tatsächlich aber ermöglicht – bezogen auf die verwendete Grundstücksfläche – die Blockrandsiedlung in Wiedikon viel mehr Wohnraum.

Woran liegt das?

Ein Hochhaus wirkt visuell dichter, benötigt aber aus diversen baurechtlichen und städtebaulichen Gründen viel Freiraum rundherum. Bei Blockrandsiedlungen sind die einzelnen Gebäude geschlossen aneinander gebaut und meist direkt an die Strasse gebaut. So können Blockrandsiedlung das Grundstück oft flächendeckender nutzen, als das bei der sogenannten offenen Bauweise der Fall ist, bei der Häuser rundherum Freiflächen und einen Mindestabstand zum nächsten Haus brauchen.

Dass ältere Gebäude mehr Wohnraum bieten, liegt ja auch daran, dass heute viel grosszügiger gebaut wird als früher.

Die durchschnittliche Wohnungsfläche ist in der Schweiz in den letzten Jahren gestiegen. Das ist so. Früher wurden die Häuser enger zusammenstehend gebaut und die Wohnungen waren kleiner geschnitten. Das sieht man sehr eindrücklich, wenn man sich alte Ortskerne anschaut: Bis heute ist das Niederdorf eines der am dichtesten besiedelten Quartiere in Zürich.

Bedeutet das, dass sich traditionelle Bauformen wie die Blockrandsiedlung auch heute Modell für verdichtetes Bauen sein sollten?

So einfach kann man das nicht sagen. Viele der Blockrandsiedlungen, die Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gebaut wurden, entstanden auch auf der grünen Wiese. Eine offene Bauweise nachträglich in eine geschlossene umzuwandeln, ist nicht so einfach. Trotzdem sollten wir es versuchen. Denn wenn wir mit solitären Bauten verdichten, entstehen zwangsläufig sehr grosse oder auch hohe Bauten.

Spielen Hochhäuser für Sie überhaupt eine Rolle in einer optimal verdichteten Stadt?

Sie sind kein Allheilmittel, aber natürlich können Hochhäuser zur Verdichtung beitragen. Wir werden in den kommenden Jahren mehr Hochhäuser in Zürich sehen. Wichtig ist, dass man sich fragt: Habe ich andere Optionen? Und was ist in einem Quartier verträglich? Da gibt es auch gelungene Beispiele. Das Hochhaus «Hohes Haus West» an der Weststrasse mit Baujahr 2013 ist so eines.

Was macht das zu einem für Sie gelungenen Projekt?

Das Gebäude ist knapp 40 Meter hoch, also deutlich höher als die meisten Gebäude in Wiedikon. Doch es steht nicht solitär da, sondern bildet den Abschluss einer bestehenden Blockrandsiedlung. Das Hochhaus setzt einen punktuellen Akzent, fügt sich aber gut ins Quartier ein.

Auch im Gemeinderat werden derzeit die neuen Hochhausrichtlinien besprochen, doch gleichzeitig sind Hochhäuser in Zürich seit jeher umstritten. Was sagen Sie jenen Stimmen, die befürchten, dass Zürich eines Tages eine «hässliche Stadt» ist, deren Stadtbild von Hochhäusern verschandelt wird?

Zustände, wie man sie in asiatischen Metropolen wie Shanghai hat, wo Hochhaus neben Hochhaus steht, wird es in Zürich nicht geben. Mehrere Faktoren verhindern das. So darf ein Hochhaus im Kanton Zürich nicht länger als drei Stunden Schatten auf bewohnte Gebäude werfen.

Wichtig ist aber bei Hochhäusern vor allem, wie sie «auf den Boden kommen» – also welche Nutzungen sie im Erdgeschoss anbieten. Denn da nehmen wir die Häuser am meisten wahr. Wir laufen ja nicht täglich mit dem Kopf im Nacken durch die Strassen. Angesichts des knappen Raums und steigender Nachfrage - wie kann Verdichtung in der Stadt Zürich sonst machbar sein?

Ich glaube, wir müssen viel ausprobieren. Dichte kann wie gesagt sehr unterschiedlich aussehen und auch wirken. Das müssen wir anschaulich machen. Und dann müssen wir gemeinsam verhandeln, welche Dichte wo verträglich ist und welche mir meinen.

Derzeit wird vor allem über die bauliche Dichte verhandelt. Ich denke, wir sollten die Nutzendendichte, also wie viel Menschen auf einer gewissen Fläche Wohnen und Arbeiten können, in den Vordergrund stellen. Das gibt uns sehr viel mehr Optionen.

Im Wohnbrief vom 03. Juni findest du News und Tipps zu Wohnthemen in Zürich.

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2023-05-02 Nina Graf Portrait-13

Aufgewachsen am linken Zürichseeufer, Studium der Geschichte, Literatur- und Medienwissenschaft an den Universitäten Freiburg (CH) und Basel. Sie machte ein Praktikum beim SRF Kassensturz und begann während dem Studium als Journalistin bei der Zürichsee-Zeitung. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin untersuchte sie Innovationen im Lokaljournalismus in einem SNF-Forschungsprojekt, wechselte dann von der Forschung in die Praxis und ist seit 2021 Mitglied der Geschäftsleitung von We.Publish. Seit 2023 schreibt Nina als Redaktorin für Tsüri.ch.

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Kommentare

Julia
02. Juni 2025 um 08:26

Spannendens Thema, schade, dass das Interview dort aufhört, wo es spannend wird... vielleicht gibt's eine Fortsetzung?