Das Lochergut – Spielplatz, Zuhause und Zufluchtsort
In den 60er-Jahren herrschte in Zürich Wohnungsnot. Die Lochergut-Hochhäuser sind ein gut sichtbares Stück Erinnerung dessen. Seit Jahrzehnten wohnen Hunderte von Menschen dort auf kleinstem Raum. Zu ihnen gehörten auch der Vater und dessen Familie unserer Redaktorin Nadia Reber. Ein Artikel über die Geschichte und Faszination des Locherguts.
Auf den 1. Oktober 1963 waren in der Limmatstadt nur rund 10 Wohnungen zu vermieten. Viele Familien standen zum ersten des Monats auf der Strasse und kamen bei Verwandten oder Bekannten unter. Man musste handeln, möglichst schnell und effektiv – die Hochhausüberbauung «Lochergut» wurde nach den Plänen des Architekten Karl Flatz in Windeseile fertiggestellt. Verlangt war eine hohe städtebauliche Dichte, das heisst möglichst viele Wohnungen auf kleinem Raum sowie viel Grünfläche.
In Windeseile wuchsen die Türme in den Himmel. (Bild: ETH-Archiv)
Diese Pläne stiessen auf teils starken Gegenwind aus der Bevölkerung. Hochhäuser in Zürich? Für viele unvorstellbar. Es mussten Kompromisse gemacht werden: Statt den geplanten 28 Stockwerken misst der höchste Turm heute 22 Etagen. 1966 war es vollbracht: 461 Wohnung boten 600 Menschen ein neues Zuhause. Zu diesen Menschen gehörten auch meine Grosseltern. Kurz nach Fertigstellung konnten sie mit ihren zwei Kindern eine Wohnung in einem der mittleren Türme beziehen. Es war die Rettung für sie. «Wäre das Lochergut nicht gewesen, hätten wir aus der Stadt raus müssen», stellt mein Grossvater klar, «es gab eine Warteliste – aber wir hatten Glück. Ich hatte kein grosses Einkommen und ich war bei der VBZ im Tramdepot als Mechaniker angestellt. Da die Wohnungen teil subventioniert waren, bevorzugten sie Bewerber*innen mit einem geringen Einkommen. Aufgrund meiner Anstellung hatte die Stadt Interesse daran, dass mein Wohnort in der Nähe des Arbeitsplatzes liegt.»
Für die Kinder meiner Grosseltern – meinen Vater und meine Tante – waren die Hochhäuser im Kreis 4 damals vor allem eines: der grösste Spielplatz der Welt. «Die Blocks waren unterirdisch durch Tunnels verbunden. Oft haben wir uns – unerlaubterweise – Zugang zu den labyrinthartigen Gängen verschafft. Dort haben wir Versteckis oder Räuber und Poli gespielt. Die älteren Kinder haben uns manchmal mit Gruselgeschichten Angst gemacht – es gab Geister in den Gängen und ja, manchmal lag da unten sogar eine Leiche», erzählt mir meine Tante mit einem Augenzwinkern. «Es hatte so viele Kinder. Immer hatte jemand Zeit zum Spielen», so mein Vater. «Ich habe noch sehr gut in Erinnerung, wie ich vor den unzähligen Klingelschildern im Eingangsbereich stand, hier und dort klingelte und ein paar Minuten später waren wir alle unten versammelt. Und Klingelstreich ging bei uns so», er hält die Hände auf Augenhöhe und tut so, als würde er mit den offenen Handflächen sämtliche Knöpfe drücken.
«Unsere Freunde*innen in der Schule fanden es immer wahnsinnig cool, dass wir in einem Hochhaus wohnen. Sie kamen auch oft zum Spielen vorbei. 1976 zogen wir dann wenige hundert Meter weiter an die Erismannstrasse, weil wir ein Zimmer mehr benötigten. Sonst wären wir sicher länger dort geblieben.»
Der Innenhof heute. (Bild: Nadia Reber)
Mein Vater 1974 im Innenhof des Locherguts. (Bild: Thomas Reber)
Hoch oben mittendrin
Unten fährt ein Tram vorbei. Man hört Kinderschreien auf dem Spielplatz. Ich stehe mit Marc auf seinem Balkon im 14. Stock des Locherguts. Trotzdem hört es sich so an, als wären wir mittendrin im Geschehen. Ich habe das Gefühl, ich könnte sogar die Gespräche, die unten von den Menschen geführt werden, von hier aus hören. «Die Akkustik ist sehr besonders hier», erzählt Marc. «Man hört alles sehr klar hier oben. Den Verkehr oder wenn sich die Leute unten etwas zurufen.»
Marc wohnt seit 6 Jahren in einer 1-Zimmer-Wohnung im «Wahrzeichen» des Kreis 4. Und er fühlt sich pudelwohl. «Es war gar nicht einfach, an eine Wohnung zu kommen. Die Leute standen Schlange, es gab um die 120 Bewerbungen.» Marc hat die Wohnung dann schlussendlich bekommen, weil sein Einkommen passte – er war damals Student – und weil sich viele Familien mit Kindern beworben haben. Dies ist natürlich nicht zumutbar in einer 1-Zimmer-Wohnung.
Die Aussicht kompensiert alles.
Marc
«Ich schätze hier vor allem die Durchmischung – es hat Leute aus unzähligen Kulturen und verschiedenen sozialen Schichten. Studenten*innen, Familien, Künstler*innen, Randständige – alle finden hier ein Zuhause. Kennen tu ich aber nur die Leute, die im gleichen Turm wie ich wohnen, weil ich diese im Lift antreffe.»
Ich erzähle Marc, dass mir meine Grosseltern gesagt haben, dass ihnen oft Velos oder andere Gegenstände aus dem Keller geklaut wurden, und frage ihn, ob das immer noch passiere. «Klar, manchmal kommt das schon vor», sagt er und muss lachen, «aber das ist der Kreis 4. Hier kommen oft Velos weg.» Ich schaue mich in seiner Wohnung um. Es hat ein Bett, einen Tisch, zwei Regale und an das einzige Zimmer grenzt eine kleine Küche. «Zugegeben, viel Platz habe ich nicht. Aber schau dir diese Aussicht an. Die kompensiert alles», schwärmt er. Und er hat Recht: Es sieht atemberaubend aus.
Ein Anblick, an den man sich gewöhnen kann.
Ein grosses Manko sei die fehlende Schalldämmung und die schlechte Isolierung. «Das ganze Gebäude ist sehr hellhörig. Zudem wird es im Sommer schnell sehr heiss in den Wohnungen», erzählt Marc und fügt grinsend hinzu: «Und im Winter muss ich die Heizung gar nicht erst aufdrehen – meine Nachbar*innen heizen für mich.» Was in diesem Fall sehr wichtig scheint, ist die gegenseitige Rücksichtnahme und Toleranz. «Es hat noch nie jemand gemotzt, wenn es bei einer Runde Bier mit meinen Freunden mal etwas laut wurde. Dafür nehme ich es in Kauf, wenn ich mal von meinen Nachbarn etwas wachgehalten werde.»
Ist das Lochergut ein mögliches Zukunftsmodell?
Wohnmaschine, Betton-Ghetto, Plattenbau: Oft fallen auch diese Begriffe, wenn man vom Lochergut redet. Vielen ist die vertikale Bauweise in Zürich noch immer ein Dorn im Auge. Die meisten Gebäude in der Stadt sind drei- bis fünfstöckig, Hochhäuser sind die Ausnahme. Das mag baurechtliche und brandschutztechnische Gründe haben – vielen geht es aber auch um die Ästhetik.
Das Lochergut wurde gebaut, weil die Wohnungsnot akut war, und eine Lösung gefunden werden musste. Heute stehen wir wieder vor einem ähnlichen Problem: Es ist zwar Wohnraum vorhanden, jedoch ist dieser durch die grossräumige Aufwertung für die meisten nicht mehr bezahlbar. Dazu kommt, dass Einzelpersonen teilweise in viel zu grossen Wohnungen wohnen. Das heisst: Der Raum ist da – er wird einfach nicht effizient genutzt. Das Problem hat vielerlei Ursachen, die komplex miteinander verknüpft sind. Die politische Debatte ist dementsprechend aufgeheizt und es wird nach Lösungen gesucht.
Der Bau aus der Froschperspektive.
Eine davon könnte die vertikale Bauweise sein. Der Filmemacher Thomas Hämmerli äussert sich in seinem Film «Die Gentrifizierung bin ich», im Fernsehen und im Interview mit Tsüri.ch positiv über das Lochergut: «Dort wohnt man gerne und die Wohnungen sind günstig. Dort funktioniert es». Klar, das Lochergut ist Kult und vor allem auch bei den jungen Leuten sehr beliebt und geschätzt. Ob weitere Hochhäuser die gleiche Anziehungskraft ausüben würden, darüber kann man diskutieren. Das Lochergut dient jedoch als gutes Vorbild für die Zukunft. Natürlich muss künftig nach den heutigen Minergie-Standards und feuerschutztechnisch auf dem neuesten Stand gebaut werden. Was aber auf jeden Fall anzustreben ist: Viel Wohnraum auf einer kleinen Fläche. Zu erschwinglichen Preisen – wohlgemerkt.
Alle Bilder von Nadia Reber, Kinderfoto von Thomas Reber
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