«Die Schweiz muss sich in 30 Jahren offiziell für das Leid entschuldigen»

Das Schweizer Asylsystem sei menschenunwürdig, findet Malek Ossi. Er flüchtete 2015 aus Syrien in die Schweiz und unterstützt heute abgewiesene Asylsuchende.

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Malek Ossi kennt das Schweizer Asylwesen von beiden Seiten: als Betroffener und als Berater für geflüchtete Menschen. (Bild: Noëmi Laux)

Noëmi Laux: Was läuft Ihrer Meinung nach falsch im Schweizer Asylsystem?

Malek Ossi: Allein die Tatsache, dass Familien mit Kindern über Monate hinweg in einem Luftschutzkeller ohne jegliche Privatsphäre leben müssen, ist menschenunwürdig. Der Prozess, bis man ein Bleiberecht bekommt und arbeiten darf, dauert insbesondere bei abgewiesenen Asylsuchenden teilweise mehrere Jahre und erfolgt oft willkürlich. Niemand weiss genau, nach welchen Kriterien ein Gesuch angenommen oder abgelehnt wird. Abgewiesene Asylsuchende haben es besonders schwierig. Sie wissen teilweise über Jahre nicht, ob sie in der Schweiz bleiben dürfen, haben keinerlei Rechte, dürfen weder arbeiten noch darüber mitentscheiden, wo sie mit wem leben. Ich bin überzeugt, dass sich die Schweiz in 30 Jahren offiziell für das Leid entschuldigen muss, das sie diesen Menschen angetan hat.

Jährlich fliessen in der Schweiz mehrere Milliarden Franken in die Migration. Warum reicht das nicht?

Damit Integration gelingt, braucht es mehr als Geld. Es müssen Strukturen geschaffen werden, die es geflüchteten Menschen ermöglichen, zu arbeiten und sich gesellschaftlich in der Schweiz einzubringen. Das ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch des Willens. Es braucht mehr Mittel, mehr Ressourcen und mehr Personal. Ganz abgesehen davon, dass wir als Gesellschaft dazu verpflichtet sind, Menschen in Not zu helfen, braucht die Schweiz Migration, um wirtschaftlich zu wachsen, was wiederum die Basis des Wohlstandes in der Schweiz ist.

Malek Ossi

Ende 2015 flüchtete Malek Ossi (31) über die Balkanroute in die Schweiz. Er stammt aus dem kurdischen Autonomiegebiet Rojava in Syrien. Ein grosser Teil seiner Familie lebt inzwischen in der türkisch-syrischen Grenzstadt Derik. Ossi hat soziale Arbeit an der Fachhochschule Luzern studiert und arbeitet als Co-Leiter beim Solinetz. Er hat eine anderthalb jährige Tochter und lebt in Zürich.

Indem geflüchtete Menschen die Jobs übernehmen, die Schweizer:innen nicht machen wollen?

Sicherlich auch. Der Fachkräftemangel ist ein riesiges Problem, das sich in den kommenden Jahren weiter zuspitzen wird. Indem man Menschen, die auf ihren Asylantrag warten, erlauben würde, diese Stellen zu besetzen, könnte das Gesundheitssystem entlastet werden. Es kommen aber auch viele gut gebildete Menschen in die Schweiz, denen es schwer gemacht wird, in dem Bereich zu arbeiten, den sie studiert haben, oder das Studium abzuschliessen. Ich habe in Syrien begonnen, Jura zu studieren. An der Universität Zürich wurde ich abgewiesen, weil meine syrische Matura nicht anerkannt wurde. 

Sie haben es dennoch geschafft, konnten Soziale Arbeit an der Fachhochschule Luzern studieren und arbeiten heute als Co-Geschäftsleiter vom Solinetz, einem Verein, der sich für geflüchtete Menschen einsetzt.

Ich hatte in vielerlei Hinsicht Glück, dass ich diesen Weg gehen konnte. Zunächst einmal, dass ich überhaupt nach Zürich gekommen bin, wo es viele freiwillige Angebote für geflüchtete Menschen gibt. Ich konnte bis zum C1-Level kostenlos an der Autonomen Schule Deutsch lernen. Dass ich mir das Studium überhaupt leisten konnte, liegt aber auch daran, dass es meiner Familie in Syrien finanziell relativ gut geht. Sie ist nicht auf meine Unterstützung angewiesen. Dieses Privileg haben viele andere nicht. Sie müssen vor allem schnell Geld verdienen, um ihre Familien zu unterstützen.

Haben Sie für Ihr Studium finanzielle Unterstützung erhalten?

Ja, ich habe einen Tag, bevor ich mit dem Studium begonnen habe, den Status B bekommen und hatte somit Anspruch auf ein Stipendium und Integrationszulagen. Mit Status F hätte ich diese Unterstützung nicht erhalten.

Wie helfen Sie heute geflüchteten Menschen, die nach Zürich kommen?

Das ist ganz unterschiedlich. Die meisten Leute, mit denen wir arbeiten, sind abgewiesene Asylsuchende. Viele kommen zu uns, weil sie rechtliche Beratung brauchen. In Zürich bieten wir auch 26 Deutschkurse an und helfen Geflüchteten, schwimmen zu lernen.

Ein grosses Problem ist die fehlende Mobilität, besonders für Menschen, die ausserhalb der Stadt untergebracht sind. Das merke ich täglich bei meiner Arbeit. Viele von ihnen würden gerne regelmässig zu unseren Deutschkursen kommen, können sich das Zug- oder Trambillet aber nicht leisten.

Das Existenzminimum für Personen im Asylverfahren liegt – je nach Aufenthaltsstatus – bis zu 30 Prozent unter dem von Schweizer:innen. Mit wie viel Geld mussten Sie auskommen, während Sie auf Ihren Asylbescheid gewartet haben?

Das war je nach Verfahrensstand und Unterbringung unterschiedlich. Die ersten Wochen war ich in einem Übergangszentrum und bekam 20 Franken die Woche. Danach wurde ich an einen anderen Ort verlegt, an dem wir selber kochen mussten. Da waren es dann 71 Franken in der Woche.

«Die Solidarität und der politische Wille haben in den letzten Jahren abgenommen.»

Malek Ossi

Wie lebt man mit so wenig Geld in Zürich?

Die ersten Wochen war mir das Geld egal. Ich war so damit beschäftigt, mich hier irgendwie einzufinden, dass ich gar keine Zeit hatte, etwas zu unternehmen. Je länger ich hier war, desto neugieriger wurde ich, wollte am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Für Ausflüge oder mal einen Cafébesuch reichte das Geld jedoch meistens nicht. In dieser Zeit lernte ich sehr gut, zu sparen und mein Geld klug einzuteilen.

Hat sich die Lage für geflüchtete Menschen in der Schweiz verschlechtert, seit Sie 2015 selbst den Asylprozess durchlaufen haben?

Definitiv. Die Solidarität und der politische Wille haben in den letzten Jahren abgenommen. Gerade letzte Woche wurde im Nationalrat darüber debattiert, ob afghanische Frauen in der Schweiz weiterhin Asyl erhalten sollen. Nur ganz knapp, mit einer Stimme Differenz, wurde der Antrag angenommen. Ich bin überzeugt, dass dieser Entscheid 2015 anders ausgefallen wäre. Zürich tut im Vergleich zu anderen Kantonen viel, einige Gesetze wurden dennoch verschärft.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Als ich 2015 in die Schweiz kam, bekamen Menschen mit dem Status F noch Sozialhilfe und andere Integrationsmöglichkeiten. Mittlerweile wurden diese Zulagen für diese Menschen abgeschafft. Ständig wird der F-Status verschärft, aber die Realität zeigt: Das bringt nichts. Es ist ein Denkfehler zu glauben, dass weniger Menschen kommen, wenn die Gesetze strenger werden. Migration lässt sich nicht unterbinden. Statt mit Repression müssen wir langfristig denken und die Menschen integrieren.

Wir befinden uns mitten in den Europawahlen. Prognosen deuten auf einen starken Rechtsrutsch, was sich politisch auch auf die Schweiz auswirken würde. Macht Ihnen diese Entwicklung Angst?

Ich habe keine Angst mehr, dass man mich ausschafft. Was mich aber schon beunruhigt, ist der starke Rechtsrutsch in ganz Europa. Ich finde es beängstigend, dass in Deutschland an öffentlichen Veranstaltungen Naziparolen gesungen werden und Ausdrücke wie «Remigration» bis tief in die politische Mitte salonfähig werden.

Wenn Sie einen Tag die Macht hätten, das Schweizer Asylsystem komplett nach Ihren Vorstellungen zu ändern, was würden Sie tun?

Ich will auf keinen Fall einen ganzen Tag an der Macht sein, das wäre mir viel zu gefährlich. Drei Stunden würden mir völlig reichen. 

Und was würden Sie in diesen drei Stunden Amtszeit verändern?

Als Erstes würde ich mich für die Rechte abgewiesener Asylsuchender einsetzen. Menschen, die sechs, sieben, teilweise noch mehr Jahre in der Schweiz leben, sollten auch legal hier bleiben dürfen. Wäre ich Finanzminister, würde ich die 800 Millionen Franken, die momentan in die Nothilfe fliessen, für die Integration einsetzen.

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