Zurich Versicherung reisst Siedlung ab – 450 Menschen auf Wohnungssuche
In Schwamendingen verschwinden 152 Wohnungen und mit ihnen die Bewohner:innen. Das Versicherungs-Projekt steht stellvertretend für die Entwicklungen im Quartier. Diesen hält die Nachbarschaft nun entgegen: mit Briefen und einer Demonstration.
«Es ist nicht einfach», so Ahmed. «Du kannst auch ruhig beschissen sagen», sagt Kristian. Die beiden lachen. Sie sitzen auf dem Sofa in Saids Wohnung. Die drei Männer sind Nachbarn, sie wohnen in derselben Siedlung, dem «gelben Quartier», wie sie es nennen.
Vor einem Jahr haben sie die Kündigung erhalten. Bis im September müssen alle Wohnungen an der Grosswiesenstrasse 2 bis 50 und an der Glattwiesenstrasse 24 bis 30 leer sein. Eigentümerin ist die Anlegerin Zurich Invest AG, eine Tochtergesellschaft der Zürich Versicherung. Die Siedlung in Schwamendingen soll einem Ersatzneubau weichen, verschwinden werden mit ihr die rund 450 Bewohner:innen.
Said, der uns in seinem Wohnzimmer willkommen heisst, wohnt seit 2007 in seiner Wohnung. Für die drei Zimmer bezahlt er 1200 Franken. Er arbeitet in einem Zürcher Museum, die Stadt verlassen will er nicht. «Nach 17 Jahren im Quartier kennst du die Menschen und die schönen Ecken. Schwamendingen ist unser Zuhause», sagt Said. Doch die Mietpreise werden ihn wohl oder übel dazu zwingen: «Mein Hauptkriterium ist eine günstige Miete. Ich will leben und nicht nur Miete zahlen.»
Dem pflichtet Ahmed, der zusammen mit seinen zwei Kindern seit bald vier Jahren im Haus nebenan wohnt, bei. Für vier Zimmer bezahlt er 1550 Franken. Der alleinerziehende Vater will im Quartier bleiben, sowohl für seine Kinder, als auch für seinen Job im Hort in der nahe gelegenen Schule in Stettbach. «Ich fühle mich alleine gelassen», sagt er und zeigt auf seinem Handy zig Bewerbungen.
Die drei Männer auf dem Sofa diskutieren. Auf den Immobilienportalen sind sie Konkurrenten, in Saids Wohnung Leidensgenossen. Das schweisse zusammen. Die Wohnungssuche gestaltet sich für alle schwer. Da wären die hohen Preise und der Fakt, dass gleichzeitig mit ihnen auch die ganze Nachbarschaft auf Wohnungssuche ist. Hinzu kommt, dass in der Siedlung viele sonst schon auf dem Wohnungsmarkt benachteiligte Menschen wohnen: Senior:innen, Familien, migrantische Personen und Menschen mit geringem Einkommen.
«Meine Partnerin bekommt IV, mein Antrag ist hängig, aktuell bin ich noch von der Sozialhilfe abhängig. Das macht es uns unmöglich, eine Wohnung zu finden. Du wirst sofort aussortiert», sagt Kristian, der seit über 20 Jahren in Zürich wohnt. Anfang 2023 ist er in eine 3-Zimmer-Wohnung mit Balkon für 1440 Franken an der Grosswiesenstrasse gezogen. Sein Mietverhältnis war, nicht wie bei den anderen beiden, von Anfang an befristet.
Solche befristeten Mietverträge haben System, ist sich Oliviero Reusser vom Mietenplenum, einem Bündnis aus aktivistischen Mieter:innen, sicher. «Leer werdende Wohnungen werden wenige Monate vor Abbruch noch an Menschen vermietet, die besonders dringend auf der Suche sind. Hauptsache Profit», sagt er.
Dieser Beobachtung pflichten auch die drei Männer bei. Wird eine Wohnung in der dem Abriss geweihten Siedlung frei, zieht sogleich eine neue Partei ein, wenn auch nur noch für wenige Monate.
Am Ende des Lebenszyklus
Die Wohnung von Said hat einen einfachen Ausbaustandard: Laminat, Klinkerboden, weisse Tapeten, die sich teilweise ablösen, alte Küche und Bad. Das Gebäude aus den 50er-Jahren mag in die Jahre gekommen sein, doch die Bewohnenden sind überzeugt, dass eine etappenweise Renovation es auch getan hätte.
Dem widerspricht die Eigentümerin der 70-jährigen Siedlung: Sämtliche Bauteile stünden am Ende ihres Lebenszyklus. Anstelle der jetzigen 152 Wohnungen sollen 255 Neubauwohnungen kommen. Die Wohnfläche werde von heute durchschnittlich 50 Quadratmetern auf rund 70 Quadratmetern zunehmen und so «den heutigen Bedürfnissen» entsprechen. Die Anlegerin spricht von zeitgemässen Grundrissen, einem alters- und behindertengerechten Ausbau sowie einer grossen Wohnungsvielfalt von Studios bis Familienwohnungen.
Wie viele Personen bis anhin in der Siedlung gewohnt haben, ist laut Eigentümerin unbekannt, das Mietenplenum geht von 450 bis 500 Menschen aus. «Die Vermietung der künftigen Wohnungen steht allen offen, also auch den heutigen Mieter:innen», beteuert das Tochterunternehmen der Versicherung auf Anfrage. Die Frage nach den zukünftigen Mietpreisen bleibt aber unbeantwortet. «Die Mieten der neuen Wohnungen werden marktgerecht ausfallen. Luxusappartements sind keine geplant.»
Während die Bestandsmiete für eine durchschnittliche 3-Zimmer-Wohnung gemäss Zahlen der Stadt Zürich bei 1260 Franken im Monat liegt, liegt die marktübliche Miete laut einer Auswertung aller derzeit im Kreis 12 ausgeschriebenen 3-Zimmer-Wohnungen durch Tsüri.ch bei 2270 Franken.
«Immobilienfirmen bauen Schwamendingen für eine neue Klientel um, uns will man hier weg haben.»
Kristian, Mieter aus Schwamendingen
Leisten können sich das nur wenige der Mieter:innen im gelben Quartier. Da wäre etwa eine vierköpfige Familie mit Aufenthaltsstatus B, deren Kinder in Schwamendingen in die Schule gehen, oder ein pensioniertes Paar, das Freund:innen und Familie im Umfeld hat – sie beide wohnen in einer 3-Zimmer-Wohnung für 1300 Franken. Das zeigt eine Liste des Mietenplenums mit den jetzigen Mieter:innen und ihren Bedürfnissen. Die Budgets der Bewohner:innen an der Grosswiesenstrasse gehen maximal bis 2000 Franken, bei vielen liegt die Schmerzgrenze um 1500 Franken.
«Für eine bessere Wohnung würden einige von uns etwas mehr bezahlen», sagt Kristian. Doch die Mittel seien begrenzt. Die Argumentation der Zurich Invest findet er scheinheilig, zumal der Bauherrin sehr wohl bewusst sei, dass sich nur wenige der Bewohnenden «marktübliche» Mieten leisten können. «Immobilienfirmen bauen Schwamendingen für eine neue Klientel um, uns will man hier weg haben», sagt er.
Aktivist:innen helfen dem gelben Quartier
Die Verzweiflung der Bewohner:innen war Ende Februar in der reformierten Kirche Hirzenbach spürbar. Das Mietenplenum organisierte bereits zum dritten Mal ein Treffen unter dem Motto «Schwamendingen bleibt». Es fanden sich gegen 30 Mieter:innen im Saal ein, die meisten waren von der Siedlung an der Grosswiesenstrasse, einige weitere Menschen von anderen Gebäuden, die ebenfalls leer gekündigt wurden.
Für den 6. April ist eine Kundgebung auf dem Schwamendingerplatz geplant. «Wer kommt alles im April protestieren?», fragte eine Aktivistin in die Runde. Hände schnellen nach oben. Und es sind nicht jene gewohnten Hände von Aktivist:innen, wie man es sich in Zürich sonst gewohnt ist, wenn es um den politischen Kampf geht. Es sind Hände von älteren Menschen, von Müttern und von People of Color. Und auch jene von Kristian, Said und Ahmed.
Ahmed hat seine persönliche Misere politisiert. «Wir müssen uns mit anderen Quartieren vernetzen, denen ein ähnliches Schicksal droht», sagt er. Da setzt das Mietenplenum an: Gemeinsam mit den Menschen in Schwamendingen tauschen sich seine Mitglieder über die Wohnungskrise aus, organisieren Kundgebungen und schreiben Briefe.
Um auf die Notlage der Bewohnenden aufmerksam zu machen, haben die Mieter:innen zusammen mit dem Mietenplenum Mitte März ein Schreiben an Genossenschaften, an die Stadt Zürich, an Politiker:innen, an die Eigentümerin und weitere Akteur:innen verschickt. Quasi ein Hilferuf, die Augen offenzuhalten nach freien Wohnungen. «Wir wissen nicht, wie weiter. Wir haben uns nun zusammengeschlossen, denn wir wollen und müssen weiterhin im Quartier leben», heisst es da. Im Anhang befand sich die Liste mit allen Wohnungssuchenden und ihren konkreten Bedürfnissen.
Schwamendingen wird neu gebaut, die Stadt schaut zu
Die Gentrifizierung in Schwamendingen wird auch in naher Zukunft weiter zunehmen.
Gemäss Prognosen der Stadt steigt die Einwohner:innenzahl im Kreis 12 in den nächsten 20 Jahren von 33’000 auf über 45’000 an. Das ist das stärkste Wachstum aller Stadtkreise. Auch das Durchschnittseinkommen ist im Kreis 12 in den letzten Jahren deutlich stärker gestiegen als im Rest der Stadt.
Die gelbe Siedlung steht bei weitem nicht alleine da mit ihrem Schicksal. Läuft man im Quartier herum, sieht man zig Siedlungen, denen die Abrissbirne droht: Bauvisiere zieren diverse Wohnblöcke.
«Die Menschen in Schwamendingen sind traumatisiert, die Entwicklungen machen ihnen Angst.»
Walter Angst, Mieterinnen- und Mieterverband Zürich
Auch Walter Angst vom Mieterinnen- und Mieterverband Zürich (MV) beobachtet die Veränderungen im Kreis 12 und zeigt sich besorgt. «Die Menschen in Schwamendingen sind traumatisiert, die Entwicklungen machen ihnen Angst», sagt er. Böse Zungen würden gar behaupten, dass diese Aufwertung gewollt ist – lange war Schwamendingen bekannt als «Problemquartier».
Das Bauprojekt von Zurich Invest wurde Anfang 2023 an einer Informationsveranstaltung zu den Entwicklungen im Quartier vorgestellt. Über den Neubau wusste die Stadt Bescheid, dass dieser eine grosse Verdrängung mit sich bringen wird, ist unbestritten. Die Stadt habe verpennt, so Angst. «Zürich ist nicht auf der Höhe, diese Prozesse aufzufangen.»
Die Vorwürfe weist die Stadt vehement zurück und stellt klar, dass ihre Einflussmöglichkeiten bei privaten Bauherr:innen rechtlich beschränkt sind. «Wir können an ein sozialverträgliches Vorgehen appellieren, es bleibt jedoch im Entscheidungsrahmen der Eigentümerschaft», heisst es auf Anfrage.
Die Stadt ist immer wieder damit konfrontiert, dass mit der Autobahn-Einhausung in Schwamendingen das Quartier zusätzlich aufgewertet wird. Die Verwaltung verweist hier auf einen Bericht, der zum Schluss kommt, dass im Kreis 12 von einem geringen Verdrängungsrisiko ausgegangen wird. Da dieser einen hohen Anteil an gemeinnützigen Eigentümer:innen wie Genossenschaften hat.
Mit ihrer «aktiven Boden- und Wohnpolitik oder der konsequenten Verfolgung des Drittelsziels» trage die Stadt dazu bei, dass auch zukünftig möglichst viele Mieter:innen, die durch einen Neubau ihr Zuhause verlieren, in der Stadt wohnhaft bleiben können.
Zürich Versicherung treibt Mieten in die Höhe
Zürich braucht mehr Wohnraum. Auf dieses Argument stützt sich auch die Zurich Invest: Um in Zürich mehr Wohnraum anbieten zu können und dem breiten gesellschaftlichen Anliegen nach verdichtetem und nachhaltigem Bauen nachzukommen, plane man Ersatzbauten wie jene in Schwamendingen.
Dass Neubauwohnungen meist aber weniger Gutverdienende verdrängen, wird ignoriert. Eine Studie der ETH zeigt auf, dass nach Renovationen die Mietenden ein rund 3600 Franken höheres Haushaltseinkommen haben als ihre Vorgänger:innen.
Einen ähnlichen Ersatzneubau mit etwa 270 Wohnungen baut aktuell auch die Zürich Anlagestiftung, deren Geschäftsführerin die Zurich Invest AG ist, an der Austrasse in Wiedikon. Dort kostet eine 5-Zimmerwohnung 6400 Franken. Wie ein Kassensturz-Beitrag kürzlich offenlegte, besteht dabei der Verdacht von missbräuchlichen Mieten.
Erworben hat die Anlagestiftung die Immobilie im Kreis 3 zu einem ihr zufolge marktkonformen Preis von der Zürich Versicherung. Die Bruttorendite würde sich im Rahmen der gesetzlich zulässigen Renditen bewegen.
Die Rendite eines Neubaus berechnet man mit dem Kaufpreis und den Baukosten. Wie hoch diese sind, gab die Versicherung aber gegenüber SRF nicht preis. Walter Angst ist sich sicher, dass der Kaufpreis zwischen den miteinander verbandelten Firmen künstlich hoch angesetzt wurde, damit hohe Mieten verlangt werden können. Die Zürich Versicherung weist diesen Vorwurf gegenüber SRF zurück.
An die Liegenschaft in Schwamendingen kam die Zurich Invest ebenfalls via einer ihr nahen Firma. 2019 wurde das Grundstück infolge einer Vermögensübertragung der Zürich Lebensversicherungs-Gesellschaft AG überschrieben.
Auch wenn das Projekt in Schwamendingen weit weniger luxuriös sei, die Grössen der Wohnungen moderater sind und demnach auch die Mietpreise etwas tiefer als an der Austrasse ausfallen werden, ist Angst überzeugt: «Im Kern passiert hier dasselbe wie in Wiedikon. Die Versicherung verkauft einer ihr nahen Firma ein Grundstück, baut dieses neu, verdrängt die Bewohner:innen, kassiert eine horrende Rendite und sahnt wacker ab.»
Die Versicherung weist auch in diesem Fall den Vorwurf zurück: Beide Firmen hätten je die Liegenschaft schätzen lassen und diese Schätzungen seien unabhängig plausibilisiert worden, um zu gewährleisten, dass ein marktüblicher Preis vereinbart wurde. Auch habe die Schweizer Finanzmarktaufsicht Finma den Prozess gutgeheissen. Fragen zu Baukosten und Kaufpreis bleiben unbeantwortet.
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Medien. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 1500 Menschen dabei und ermöglichen damit den Tsüri-Blick aufs Geschehen in unserer Stadt. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 2000 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für Tsüri.ch und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 8 Franken bist du dabei!