Wegen Kirchenaustritten: Zürcher Hilfsangeboten droht das Geld auszugehen
Immer mehr Menschen in der Schweiz treten aus der Kirche aus. Noch seien die Steuereinnahmen stabil, doch die Luft könnte bald dünner werden. Darunter leiden würden auch soziale Institutionen, die von der Kirche finanziell unterstützt werden.
In Zürich gibt es über 70 Kirchen. Eine hohe Anzahl, wenn man bedenkt, dass knapp die Hälfte der Stadtbevölkerung konfessionslos durchs Leben geht. Waren im Jahr 2000 lediglich 16,8 Prozent keiner Religion zugehörig, wuchs die Zahl innerhalb zwei Jahrzehnten auf 44,1 Prozent an. Der Trend, der Kirche den Rücken zu kehren, scheint ungebrochen; nicht erst, seit ein dunkles Kapitel der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz ans Licht kam.
Je mehr Leute aus der Kirche austreten, desto weniger Steuergelder stehen der Institution zur Verfügung. Noch seien die Auswirkungen gering, doch längerfristig könnten die fehlenden Einnahmen den Sozialstaat vor ein Problem stellen. Denn viele Institutionen in Zürich, die sich für mittellose Menschen einsetzen, funktionieren nur durch die Freiwilligenarbeit der Kirchenmitglieder und der finanziellen Unterstützung der Kirchgemeinden. Schwinden die Mitglieder, schwindet auch das soziale Engagement, ist man sich sicher.
Spenden in Millionenhöhe
Aktuell erhalten viele Hilfswerke Spendengelder aus den Kirchensteuern. Auch eines der grössten Sozialwerke der Schweiz erfreut sich jedes Jahr über solche Zuwendungen. Caritas wurde 1901 vom schweizerischen Katholikenverband gegründet, agiert heute jedoch als unabhängiger, gemeinnütziger Verein. Knapp 162 Millionen Franken hatte er im Jahr 2022 für seine Projekte in der Schweiz und im Ausland zur Verfügung. Davon stammten 5 Millionen von kirchlichen Institutionen.
«Die Landeskirchen sind wichtige Klammern unserer sich zunehmend polarisierenden Gesellschaft.»
Walter Von Arburg vom Sozialwerk Pfarrer Sieber
Mehr Geld erhielt das Hilfswerk der evangelisch-reformierten Kirche Schweiz, kurz HEKS: Über 15 Millionen Franken erhielt es im selben Jahr von der Kirche. Die Stiftung steht ihr nicht nur finanziell nahe: «Unsere Verankerung in den Kirchen prägt die Grundüberzeugungen, welche für unser Engagement von zentraler Bedeutung sind», schreibt der Medienverantwortliche Dieter Wüthrich auf Anfrage. Dem Rückgang der Kirchenmitglieder sieht man deshalb mit Besorgnis entgegen. Sollte die Zahl weiter sinken, würde sich dies «eher früher als später» im Ertragsergebnis niederschlagen. «Wir wären dann gezwungen, diese Einbussen zu kompensieren», so Wüthrich.
Walter Von Arburg vom Sozialwerk Pfarrer Sieber, das sich seit vielen Jahrzehnten für Menschen ohne Obdach oder Suchtproblematiken in Zürich einsetzt, zeigt sich ebenfalls besorgt über den Mitgliederschwund: «Die demokratisch organisierten Landeskirchen sind wichtige institutionelle und wertebasierte Klammern unserer sich zunehmend ausdifferenzierenden und polarisierenden Gesellschaft. Werden diese weiter geschwächt, erodiert auch der gesellschaftliche Zusammenhalt.» Und dieser sei für Hilfswerke unabdingbar.
Abgesehen davon sei auch die finanzielle Unterstützung von kirchlichen Institutionen wertvoll: Knapp 300’000 Franken erhält das Sozialwerk Pfarrer Sieber jährlich aus Kollekten oder anderweitigen Spenden von den Landeskirchen.
Steuereinnahmen weitgehend stabil
Noch aber scheinen die Spenderinnen volle Kassen zu haben. Die beiden kantonalen Kirchen erwirtschafteten im Jahr 2022 rund 429 Millionen Franken durch die Kirchensteuer. Die Einnahmen seien trotz Mitgliederschwund stabil geblieben, sagt der Mediensprecher der reformierten Kirche Kanton Zürich, Nicolas Mori. Aus einem einfachen Grund: Weil das Lohnniveau in den letzten Jahren anstieg, stiegen auch die Steuereinnahmen.
Mit den 164 Millionen Franken von Privatpersonen finanzierte die reformierte Kirche neben Gottesdiensten auch soziale Angebote. Ein Drittel der Steuergelder wurde 2022 für die Diakonie und Seelsorge ausgegeben. Die Zahlen des Vorjahres liegen noch nicht vor, doch Mori geht davon aus, dass es ähnlich viel sein wird.
Doch wie sieht es bei der katholischen Kirche aus? Nachdem die Universität Zürich vergangenen September eine Studie veröffentlicht hat, die über 1000 Missbrauchsfälle bei der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz dokumentierte, kam es zu einer regelrechten Austrittswelle. Innert zwei Wochen schwand die Mitgliederzahl bei den vier grössten Kirchgemeinden im Kanton Zürich um 778 Menschen.
Trotzdem glaubt Simon Spengler von der katholischen Kirche Kanton Zürich, dass auch weiterhin ein Grossteil der privaten Steuereinnahmen für soziale Zwecke eingesetzt werden kann: «Das soziale Engagement hat in der Kirche eine lange Tradition. Nächstenliebe gehört zu den Grundpfeilern unserer Arbeit.»
Im Jahr 2022 wurden 39 Prozent der Gesamteinnahmen für Soziales ausgegeben – auch für Hilfswerke wie die Caritas. Eine trennscharfe Linie zwischen nicht-sozialen und sozialen Dienstleistungen gebe es jedoch nicht, gibt Spengler zu bedenken: «Auch der Gottesdienst hat eine sozial motivierte Ader.» Gerade für ältere Menschen biete es eine niederschwellige Möglichkeit der Teilhabe an der Gesellschaft. Die Kirche sei mehr als der Glaube an Gott, so der Medienverantwortliche.
Ein Sozialstaat ohne Kirche?
Sich sozial zu engagieren, gehöre zum Selbstverständnis vieler Religionen, sagt die Religionswissenschaftlerin Dorothea Lüddeckens: «Gerade im christlichen Glauben hat es lange Tradition, sich um Bedürftige zu kümmern.» Grund dafür sei zum einen das Gebot der Nächstenliebe, zum anderen der Gedanke, durch eine gute Tat auch sich selbst etwas Gutes zu tun, da man damit Gottes Willen erfüllt. Bevor der Sozialstaat Schweiz geboren wurde, waren kirchliche Angebote oft die einzige Anlaufstelle für Menschen in Krisen.
«Zivilgesellschaftliche und kirchliche Institutionen füllen eine Lücke, die der Staat gar nicht füllen kann.»
Dorothea Lüddeckens, Religionswissenschaftlerin
Obwohl immer mehr Leistungen vom Staat übernommen wurden, schätzt Lüddeckens die Rolle von zivilgesellschaftlichen und kirchlichen Institutionen auch heute noch als sehr wichtig ein: «Sie füllen eine Lücke, die der Staat gar nicht füllen kann. Und fangen so jene auf, die unter dem Radar fliegen – Sans-Papiers beispielsweise.» Viele Hilfswerke in den Städten seien gut vernetzt und können so Menschen in Not unbürokratisch und schnell helfen. So zum Beispiel der «Pfuusbus» vom Sozialwerk Pfarrer Sieber oder die kostenlose Essensausgabe von Schwester Ariane. Zudem würde es Kirchgemeinden leichter fallen, Freiwillige zu motivieren, so die Wissenschaftlerin.
Lüddeckens glaubt deshalb, dass der Mitgliederschwund bei den Kirchen längerfristig sehr wohl negative Auswirkungen auf soziale Angebote in der Schweiz haben kann: «Wenn die gesellschaftliche Akzeptanz der Kirche bröckelt, wird sich das auch auf künftige Abstimmungen zum Thema niederschlagen.» Damit spricht sie einen wunden Punkt an.
Katholische Kirche lanciert Kampagne
Vor zehn Jahren stimmte der Kanton Zürich darüber, ob Unternehmen weiterhin Kirchensteuern zahlen müssen oder nicht. Damals sprach sich eine klare Mehrheit der Stimmbevölkerung gegen die Reform aus: Über 70 Prozent wollte die Steuerpflicht beibehalten. Doch in den Parlamenten und Medien wird sie regelmässig diskutiert.
Nicht nur Religionswissenschaftlerin Dorothea Lüddeckens, auch die Kirchenvertreter Simon Spengler und Nicolas Mori gehen davon aus, dass es bei einer erneuten Abstimmung schwierig werden könnte, weil sich zunehmend Menschen von der Kirche abwenden. «Dann stehen wir vor einem riesigen Problem», sagt Mori. Im Jahr 2022 erhielt die reformierte Kirche 69 Millionen Franken von Zürcher Unternehmen und auch bei der katholischen Kirche spülte die Steuer für juristische Personen 78 Millionen ein.
Um die Anerkennung und das Image der Kirche in der Bevölkerung zu stärken, hat die katholische Kirche Kanton Zürich vergangenen Dezember eine Kampagne lanciert. Unter dem Motto «Kirchensteuer wirkt» will man aufzeigen, wofür die Steuergelder eingesetzt werden. «Vielen ist nicht bewusst, dass die Kirche wichtige Aufgaben im sozialen Bereich erfüllt, die der Staat nicht leisten kann», so Spengler. Deshalb sei es wichtig, dass man die Menschen darüber informiere.
Solche Kampagnen seien wichtig, sagt Lüddeckens. «Kirchen müssen lernen, besser und transparenter zu kommunizieren. Zum Beispiel darüber, dass man nicht religiös sein muss, um Kirchenmitglied zu sein.» Damit könne der Trend vielleicht abgeschwächt werden.
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