Eine Schweiz-Palästinenserin zwischen Trauma, Tabu und neuer Hoffnung - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Isabel Brun

Redaktorin

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3. Januar 2024 um 05:00

«Das Menschenrecht gilt für alle Beteiligten im Nahen Osten»

Sarah El Bulbeisi gilt aktuell als eine wichtige Stimme der palästinensischen Diaspora im deutschsprachigen Raum. Dabei wollte sie das gar nie sein. Bis die Situation im Nahen Osten am 7. Oktober 2023 erneut eskalierte – und die Schweiz-Palästinenserin sich gezwungen sah, mit dem Tabu um ihre Herkunft zu brechen.

Früher habe sie sich für ihre palästinensische Herkunft geschämt, heute kämpft sie für mehr Sichtbarkeit. (Foto: Isabel Brun)

Für Sarah El Bulbeisi gibt es nicht zwei Seiten, nicht eine israelische und eine palästinensische Perspektive. Wer das denkt, mache es sich zu einfach, nehme sich aus der Verantwortung, findet sie. Doch wegschauen, das könne der Westen gut, wenn es um die Situation der Menschen im Nahen Osten gehe. Es wird das einzige Mal bleiben, dass die Schweiz-Palästinenserin im Gespräch energisch wird.

El Bulbeisi ist keine, die einen Sturm anzettelt. Sie führt keinen Demozug an, taggt keine Hauswände, schwingt keine Fahnen. Ihr Widerstand ist leise. Wenn sie spricht, kommt es einem Flüstern gleich. Die Stimme einer, welche die Aufmerksamkeit scheut. Doch in ihr lodert ein Feuer. Sie ist fest entschlossen, den Diskurs rund um Palästina in der Gesellschaft zu ändern. 

Antisemitismus als Waffe?

Einen Grossteil des Jahres lebt El Bulbeisi im Libanon, wo sie am Orient-Institut in Beirut forscht. Dass die Sozialwissenschaftlerin gerade in der Schweiz ist, hat auch mit dem zunehmenden Medieninteresse an ihrer Volksgruppe zu tun: Alle suchen verzweifelt nach Repräsentant:innen aus Palästina. Kurz nach dem Angriff der Hamas auf Israel sei das noch anders gewesen: «Die Berichterstattung war extrem einseitig, für Palästinenser:innen als Menschen hat man sich kaum interessiert.» Zudem seien die Israeli als die Guten und die Palästinenser:innen als die Bösen dargestellt worden. Ein Narrativ, das El Bulbeisi zufolge auch der Angst geschuldet sei, sich dem Vorwurf des Antisemitismus stellen zu müssen.

Eine wirksame Strategie, um sich die Finger nicht zu verbrennen. Doch für die Selbstzensur zahlen Palästinenser:innen einen hohen Preis. Nicht zum ersten Mal in der Geschichte. 

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Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden jüdische Auswanderer:innen aus Europa im neu gegründeten Israel eine Heimstätte. Gemäss El Bulbeisi erfolgte die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina auf Kosten des palästinensischen Volkes. Mindestens 750’000 Menschen wurden aus dem Gebiet vertrieben. Die «Nakba», wie die Massenvertreibungen in den Jahren 1947/48 von Araber:innen genannt werden, habe das Schicksal der Palästinenser:innen besiegelt: «Die Welt schaute weg, als im Nahen Osten ein ganzes Volk vertrieben wurde, nachdem Millionen von Jüdinnen und Juden dem Nazideutschland zum Opfer fielen.»

«Die Angst, des Antisemitismus bezichtigt zu werden, hindert eine tiefere Auseinandersetzung damit.»

Sarah El Bulbeisi

Dass die Folgen des Holocausts für die Palästinenser:innen in den hiesigen Geschichtsbüchern nicht thematisiert werden, bezeichnet die Wissenschaftlerin als verheerend: Die meisten Menschen in der Schweiz wüssten nichts über die Vertreibungen der Palästinenser:innen, oder darüber, dass diese Vertreibungen bis heute andauern würden. «Sie sehen nicht das Trauma, unter dem wir leiden», so El Bulbeisi. Der Genozid an Jüdinnen und Juden hingegen präge unsere kollektive Erinnerung. Dies führe dazu, dass Kritik an Israel heute kaum möglich sei – auch nicht seitens von Jüdinnen und Juden. «Die Angst, des Antisemitismus bezichtigt zu werden, hindert eine tiefere Auseinandersetzung damit.» Eine Waffe, die zu funktionieren scheint.  

Scham weicht Stolz

Sarah El Bulbeisi schlägt ihren Schal um den Hals. Es nieselt. Bald verlässt sie die nasskalte Schweiz wieder, an einen Ort, wo wärmeres Klima herrscht – auch Palästinenser:innen gegenüber. Sie habe sich hier nie richtig gesehen gefühlt, erinnert sich die Anfang 40-Jährige. Als El Bulbeisi von ihrer Kindheit in Zürich erzählt, wird sie nachdenklich. Ihre Herkunft und die Geschichte Palästinas begleitet sie schon ihr ganzes Leben lang – und damit auch das Tabu, darüber zu sprechen. «Es macht einen Unterschied, ob man aus einem Land stammt wie Ägypten, wohin man gerne in die Ferien reist, oder einem Volk angehört, das nicht existieren darf.» Die Erklärungsnot, sie bleibt bis heute bestehen.

Zwar erkennen 138 von 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen Palästina als unabhängigen Staat an, doch westlich geprägte Nationen wie die USA, die DACH-Länder oder Israel sprechen dem Land ihre Existenz ab. 

Die politischen Verhältnisse im Nahen Osten seien in ihrer Familie oft diskutiert worden. Auch, weil El Bulbeisi Verwandte in Gaza hat. Sie selbst wuchs als Tochter einer Schweizerin und eines Palästinensers in Wiedikon auf; inmitten der jüdischen Diaspora. Heute leben im Zürcher Kreis 3 so viele orthodoxe Jüdinnen und Juden wie sonst nirgends in der Schweiz. Man habe einander respektiert: «Meinem Vater war es sehr wichtig, dass mein Bruder und ich an Samstagen während dem Sabbat keinen Lärm verursachten.» Als Kind habe sie das nie verstanden. El Bulbeisi muss schmunzeln.

Das traumatisierte Volk

Während die Bäckeranlage allmählich in der Dunkelheit verschwindet, gehen die Lichter im Bistrosaal des Quartierzentrums an. Einmal im Monat findet hier das Café Palestine statt. El Bulbeisi war an der Gründung im Jahr 2010 beteiligt. Das Projekt bietet Schweiz-Palästinenser:innen und solidarischen Menschen eine Plattform, um die Öffentlichkeit über die Situation im Nahen Osten zu informieren. Das sei nicht erst seit dem 7. Oktober wichtig.

«Wenn man einem unterdrückten Volk den gewaltfreien Protest nicht erlaubt, bietet das einen Nährboden für radikales Gedankengut.»

Sarah El Bulbeisi

Spricht El Bulbeisi über Israel und Palästina, spricht sie nicht von einem «symmetrischen Konflikt». Für sie kann ein solcher nur zwischen zwei ebenbürtigen Seiten existieren. Und das seien sie eben nicht: «Es ist ein Konflikt zwischen Unterdrückern und Unterdrückten.» Zwar hat sich Israel aus Gaza im Jahr 2007 zurückgezogen, doch die Aussengrenzen des 365 Quadratkilometer grossen Gebiets blieben seither unter israelischer Kontrolle. So blieb die Ein- und Ausreise beinahe unmöglich. Israel legitimiert die Blockade mit der Angst vor einem Angriff der Hamas, die von den meisten westlichen Staaten als terroristische Vereinigung eingestuft wird. 

El Bulbeisi verurteilt den Angriff der Hamas, sieht die Radikalisierung der Organisation jedoch auch als Folge der systematischen Unterdrückung seitens des israelischen Staats. «Wenn man einem unterdrückten Volk nicht einmal den gewaltfreien Protest erlaubt, bietet das einen Nährboden für radikales Gedankengut.» Dass pro-palästinensische Demonstrationen zeitweise auch in Zürich nicht mehr erlaubt waren, ist laut der Wissenschaftlerin ein Beispiel dafür, wie Antisemitismus dafür missbraucht wird, um kritische Stimmen zu disqualifizieren. Dadurch würde ihre Volksgruppe entmenschlicht. 

Was das für Auswirkungen haben kann, hat El Bulbeisi vor einigen Jahren im Rahmen ihrer Dissertation erforscht. «Wie die Gesellschaft mit der Situation von Palästinenser:innen umgeht, hat einen Einfluss darauf, wie gut wir das erlebte Trauma verarbeiten können.» Das Nicht-Anerkennen der systematischen Gewalterfahrung von Palästinenser:innen wirke re-traumatisierend, sagt sie.

Dabei nehme auch die Schweiz ihre Verantwortung nicht wahr, so El Bulbeisi. Erst Mitte Dezember wollte der Nationalrat die Gelder für das Palästina-Hilfswerk UNRWA streichen, weil die Organisation dem «antiisraelischen Narrativ verfallen» sei. Der Vorstoss, eingereicht aus den Reihen der SVP, wurde schliesslich zwar vom Ständerat als auch vom Bundesrat abgelehnt, doch die Message ist für El Bulbeisi klar: «Palästinenser:innen wird ihr Leid erneut abgesprochen.»

Eine völkerrechtliche Perspektive

El Bulbeisi besuchte Gaza nur ein paar wenige Male in ihrem Leben. In Westjordanland hingegen war sie schon öfters. Das Landstück zwischen Jordanien und Israel wird von der palästinensischen Autonomiebehörde verwaltet, unterliegt jedoch israelischer Kontrolle. Gemäss Völkerrecht gilt das Gebiet als besetzt. Schätzungsweise 2,5 Millionen der insgesamt 3 Millionen Einwohner:innen sind Palästinenser:innen. Doch auch dort muss das palästinensische Volk fürchten, vertrieben zu werden. In den letzten Wochen wurde in den Medien vermehrt darüber berichtet, dass jüdische Siedler palästinensische Bauernfamilien getötet und gewaltvoll aus ihren Häusern vertrieben haben – unter Beihilfe des israelischen Militärs.

Das, was jetzt in Westjordanland und Gaza passiere, sei eine Fortführung der Nakba, so El Bulbeisi. Es sei nicht das erste Mal, dass ein Krieg dafür genutzt werde, Palästinenser:innen aus der Region zu vertreiben, sagt sie: «Man tut so, als wäre es ein Kollateralschaden. Dabei folgt die Vertreibung einem System.»

«Kontext ist wichtig, um systematische Gewalt zu erkennen.»

Sarah El Bulbeisi

Wenn El Bulbeisi über die systematische Unterdrückung von Palästinenser:innen spricht, betont sie immer wieder, dass es nicht darum gehe, eine Meinung zu vertreten: Sowohl Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder B’Tselem als auch Sonderberichterstatter:innen der UN würden mittlerweile von Apartheid, ethnischer Säuberung und im Zusammenhang des aktuellen Krieges gegen die palästinensische Zivilbevölkerung in Gaza sogar von Genozid sprechen. 

Für sie gibt es deshalb nur eine Perspektive; die des Völkerrechts und der Menschenrechte. Alle Menschen sollen gleich behandelte werden. Ganz egal, ob jemand jüdisch oder muslimisch, israelisch oder palästinensisch ist. «Die Seiten müssen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Was zählt, ist, dass das Menschenrecht für alle Beteiligten gilt.» Und das ist ihr zufolge momentan aufgrund der systematischen Unterdrückung von PalästinenserInnen in den besetzten Gebieten Gaza und Westjordanland, inklusive Ostjerusalem, sowie in Israel selbst nicht der Fall. Dazu gehöre auch die Praxis in den Medien, die Situation der Palästinenser:innen nicht zu kontextualisieren. «Kontext ist wichtig, um zu verstehen, um systematische Gewalt zu erkennen und dem Leid Rechnung zu tragen», so El Bulbeisi. 

Ihre Stimme ist im Verlauf des Gesprächs deutlicher geworden. Als hätte sie gemerkt, dass man ihr nichts Böses will. Sie sei eigentlich niemand, der gerne im Rampenlicht steht, gibt El Bulbeisi zu. Doch als privilegierte Person stehe sie ihrem Volk in einer Bringschuld. Lieber leiser Widerstand als gar keinen.

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