«Es geht um das gute Gewissen, aber auch um das Portemonnaie»
Der Architekt und ehemalige ETH-Professor Vittorio Magnago Lampugnani hat mit seinem Buch ein Plädoyer gegen die «kapitalistische Wegwerf-Ideologie» der Baubranche geschrieben. Im Gespräch erläutert er, was wir aufgeben müssen und weshalb die zeitgenössische Zertifikationskultur überwiegend eine Alibiübung ist.
Dieser Text ist am 8. Dezember 2023 erstmalig in der PS Zeitung erschienen. Diese gehört wie Tsüri.ch zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz.
Sergio Scagliola: Sie beschreiben in Ihrem Buch «Gegen Wegwerfarchitektur»ein abgedroschenes Klischee: Zu jedem zeitgenössischen Bauvorhaben gehört eine selbstdeklarierte Nachhaltigkeit. Inwiefern ist das ein Trugschluss? Oder: Wieso ist zeitgenössischer Städtebau nicht nachhaltig?
Vittorio Magnago Lampugnani: Eigentlich wäre Städtebau das Instrument der Nachhaltigkeit schlechthin – je nachdem, wie Häuser gruppiert werden, kann man zum Beispiel den Energieverlust minimieren, das Klima in den dazwischenstehenden Stadträumen verbessern oder Platz für Parkanlagen oder Uferpromenaden schaffen. Menschen können durch Städtebau zusammengebracht werden, was zur sozialen Nachhaltigkeit beiträgt; und der Raum kann so gestaltet werden, dass wenig Pendlerreisen nötig sind – dass man sich hauptsächlich zu Fuss oder per Langsamverkehr bewegen kann.
Das sind alles Dinge, die mit gutem Städtebau getan werden könnten, aber es bedingt auch eine grosse Umstellung. In meinen Augen liegt das grösste Problem des zeitgenössischen Städtebaus darin, dass er zu klein gedacht wird: Es geht meistens um ein spezifisches Grundstück, über die Eigentumsgrenzen zu schauen traut man sich nicht und der grosse Atem fehlt – oder er wird nicht durchgesetzt.
Sie kritisieren auch, dass wirtschaftliche Kräfte mit dem Nachhaltigkeitsbegriff eine Alibiübung abhalten, die diametral entgegen nachhaltiger Prinzipien wirkt. Wie meinen Sie das?
Die Nachhaltigkeitsdiskussion wird noch immer scheibchenweise geführt. Das war auch ein Grund, warum ich dieses kleine Buch geschrieben habe: Ich wollte versuchen, Nachhaltigkeit im Bauen übergreifend zu beschreiben. Ein Beispiel für eine Teilbetrachtung ist die Wärmedämmung. Als wir entdeckt haben, wie viel Wärme wir mit unseren Häusern verschleudern, kam eine regelrechte Wärmedämmungsmanie auf.
Ich bin natürlich nicht gegen Wärmedämmung – aber schon früh hat man herausgefunden, dass der Effekt ab einer gewissen Dicke stark abnimmt. Trotzdem baut man immer wieder so dick wie möglich und dämmt auch mit Materialien, deren Entsorgung höchst problematisch ist. Manchmal hat es den Anschein, es gehe nicht darum, wirklich eine gute ökologische Gesamtbilanz zu erzielen, sondern darum, unter dem Vorwand der Ökologie möglichst viele neue Produkte zu verkaufen.
Das geschieht oft auch zur Besänftigung des Gewissens.
Es geht um das gute Gewissen, aber auch um das Portemonnaie. Mit einem Haus, das zertifiziert ist, kann auch eine höhere Miete verlangt werden.
Sie erkennen darin eine Marketingmasche. Dabei denke ich direkt an Begriffe wie «klimaneutral» oder «Netto-Null». Sind das ähnliche Verwirrungen?
Grösstenteils. Andererseits sind es die einzigen Konzepte, an denen wir uns heute orientieren können. Trotzdem glaube ich, eine gesunde Skepsis ist angebracht. Wir sind noch nicht soweit, dass wir wissenschaftlich nachweisen können, speziell beim Bauen, was wirklich ökologisch entscheidend ist und was nicht.
«Wir wollen ökologisch sein, aber sind nicht bereit, dafür auch nur ein Stück von dem, was wir in unserer Wohlstandsgesellschaft gewohnt sind, aufzugeben. »
Vittorio Magnago Lampugnani
Sie plädieren dafür, dass eigentlich nicht mehr gebaut werden dürfte, respektive dafür, dass kein neues Bauland ausgewiesen werden darf. Wie bringt man baupolitische Sparsamkeit mit Bevölkerungswachstum in Einklang?
Zunächst muss man festhalten, dass das Bevölkerungswachstum nicht flächendeckend ist. Es gibt auch in Europa viele Städte, deren Bevölkerungszahl schrumpft. Die Herausforderung ist, Massnahmen zu schaffen, dass auch solche Städte wieder attraktiv werden, und damit den Druck von den ohnehin prosperierenden Städten zu nehmen. Auch ist es durchaus nicht so, dass Neubau unbedingt mehr Fläche bedeutet. Die meisten Neubauten entstehen, weil Altbauten abgerissen werden, und bieten zwar grössere, aber weniger Wohnungen. Es gibt auch zahlreiche Gebäude, die leerstehen – nicht nur Bürogebäude. Man muss Wege finden, die Bausubstanz, die man hat, besser und flexibler zu nutzen.
Und man muss wegkommen von Wergwerfideologie.
Das sowieso. Obsoleszenz ist eine künstliche Erfindung: Zum Beispiel, wenn man sagt, dass ein Gebäude eine Lebensdauer von 20 bis 25 Jahren hat, bevor der Wert auf dem Papier 0 ist, weshalb es abgerissen und neu gebaut werden kann. Das ist eine fatale Haltung, die die Art und Weise, wie wir bauen, konditioniert. Hat man sich nämlich diese Denkweise angeeignet, lohnt es sich auch, Gebäude so schlecht zu bauen, dass sie nach 20 bis 25 Jahren tatsächlich kaputt sind – ein eingebautes Verfallsdatum, wie wir es aus der Techbranche kennen.
Das hat sicherlich auch mit Ästhetik zu tun.
Es hat mit forcierter Wertschöpfung zu tun, und ja, auch mit Ästhetik. Doch wir müssen akzeptieren, dass unsere Städte nicht immer die letzte Mode tragen müssen, und dass das auch nicht erstrebenswert ist. Stile müssen eine Spur hinterlassen.
Im Buch gibt es eine Passage zur Pariser Altstadt im 19. Jahrhundert: Präfekt George-Eugène Haussmann sah das Pariser Zentrum als «fast unbenützbares Labyrinth, in dem sich hauptsächlich Kriminelle und Aufständische verbergen». Das wollte er aufbrechen. Funktioniert Gentrifizierung ähnlich, wenn man ein unbeliebtes soziales Gewebe verdrängt, sodass die bürgerliche Zivilisation sich darin ausbreitet?
Ja und nein. Gentrifizierung ist nicht unbedingt mit Abbrechen identisch, sie geschieht auch unabhängig von Neubauten und hat primär mit Nutzung und Bewohner:innen zu tun. Es gibt allerdings Strategien, Gebäude abzureissen, wenn sie sozial problematisch sind. Dabei schiebt man die gesellschaftlichen Probleme auf die Gebäude. Der Trellick-Tower in London ist ein solches Beispiel. Ein sozialer Wohnungsbau aus den frühen siebziger Jahren, mit klugen Ideen, allerdings schlecht bewirtschaftet. In der Boulevardpresse wurde es als Terror-Tower verunglimpft und geriet zum Setting für dystopische Filme.
Dann hat sich das geändert, auch weil ein Architekt einen positiven Film über das Gebäude gedreht hat, der die Qualitäten des Gebäudes aufzeigte. Daraufhin haben sich die Mieter:innen organisiert, die Drogenkriminalität, die sich eingenistet hatte, vertrieben – und heute ist das eine tolle Adresse. Städtebau hat viel mit Erzählungen zu tun – und damit, wie Gebäude verwaltet werden.
Eine andere interessante Passage in Ihrem Buch ist die Frage: Wer will angesichts Klimakatastrophe schon kleinlich sein. Klimapolitik wird aber oft als sehr teuer beschrieben. Wo lohnt es sich, kleinlich zu sein und wo nicht?
Es geht mir nicht so sehr um das Finanzielle, es geht mir mehr um das Angemessene. Und auch hier wieder um die Alibihaltung. Wir stürzen uns gerne auf bestimmte Massnahmen, die gerade im Trend sind, blenden dabei aber alles andere aus. Vor allem wollen wir ökologisch sein, aber sind nicht bereit, dafür auch nur ein Stück von dem, was wir in unserer Wohlstandsgesellschaft gewohnt sind, aufzugeben. Lieber zahlen wir für dubiose Zertifikate. Und üben uns in Scheinheiligkeit.
… und es ist wieder eine Äusserung des guten Gewissens.
Ja, gleichzeitig aber auch eine obstinate Weigerung, auf etwas zu verzichten. Aber wir müssen verzichten. Auf Raum, auf verschwenderischen Komfort sowie auf gewisse Luxusgegenstände, die wir uns vielleicht ökonomisch, aber sicher nicht ökologisch leisten können.
Damit sind wir gewissermassen zurück bei der Hauptthese, dass nicht neu gebaut, nicht neu konsumiert werden darf sozusagen. Wie bringt man Verzicht einer durch und durch konsumistisch geprägten und sozialisierten Gesellschaft näher?
Wir müssen uns selbst und den Menschen klarmachen, was auf sie, auf uns zukommt. Dass wir handeln müssen. Dass Erfindungsreichtum gefragt ist, aber auch ein neues Verantwortungsbewusstsein: Wenn 15 Prozent der Weltbevölkerung, zu der wir übrigens gehören, 80 Prozent der Ressourcen verbraucht, stimmt etwas nicht und hat früher oder später geopolitische Folgen. Letztlich geht es um einen Kollektivauftrag, mit dem Ziel, Wandel zu ermöglichen. Das bedarf auch ökonomisch-politischer Strategien.
In der Arbeit als Architekt:in ist es oft nicht leicht, die Bauherrschaften zu überzeugen, Baubestand zu erhalten: Weil das immer mehr oder zumindest gleich viel kostet wie ein Neubau. Das heisst, man müsste Neubauten teurer und den Erhalt günstiger machen.
Wieso kostet Erhalt mehr als Neubau?
Wegen der Arbeit. Die Vorstellung einer Wegwerfarchitektur kam erst mit der Industrialisierung auf, vorher existierte das Problem nicht: Arbeit war billig, also wurde, wo es immer ging, geflickt und repariert. Doch die Baupolitik kann Einfluss nehmen, kann Widerstand leisten. In den 1920er-Jahren, als alle von industrieller Produktion gesprochen haben, als Le Corbusier und Walter Gropius alles mit dem Kran bauen wollten, hat man sich im sozialdemokratisch regierten Wien dagegengestemmt und gesagt: Nein, wir bauen konventionell und arbeitsintensiv. Wir könnten zwar schneller und vielleicht billiger mit vorgefertigten Teilen bauen, aber wir müssen unsere Leute beschäftigen. Das Resultat ist die bekannte Erfolgsgeschichte des Roten Wiens mit seinen wunderbaren Gemeindebauten.
«Stadtplaner:innen und Investor:innen ziehen grundsätzlich am selben Strang, nur merken sie es zuweilen nicht.»
Vittorio Magnago Lampugnani
Die Hauptthese beinhaltet aber auch, dass Verdichtung gefördert werden muss. Das sei aber nicht nur schlecht – gleichzeitig sind Sie kein Fan von Hochhäusern.
Hochhäuser sind problematisch, weil sie mit hohen Kosten verbunden sind. Es gibt immer Ausnahmefälle, aber in der Regel zerstören sie auch gewachsene Stadtstrukturen. In München beispielsweise, einer traditionell und weitestgehend immer noch flachen Stadt, wo nur die Kirchtürme über den Dächern herausragen, werden am Bahnhof zwei Hochhäuser gebaut. Das hat nichts mit Städtebau zu tun, sondern nur mit Profit.
Sie plädieren deshalb für mittelhohe Wohnblöcke, wie wir sie in Zürich gut von Genossenschaften und städtischen Wohnungen kennen. Liegt es an den Privaten?
Die Genossenschaft ist ein wunderbares Modell, weil sie als Non-Profit ausgelegt ist und so erträgliche Mieten verlangen kann. Ihre Blöcke, etwa jene um den Röntgenplatz, sind angenehm bescheiden, sie könnten sogar noch ein oder zwei Stockwerke mehr vertragen. Aber die ebenso schönen und wohnlichen Häuser am Idaplatz wurden von privaten Investoren gebaut. Das geht also auch. Die Mietpreise sind eine andere Geschichte.
Das heisst, es geht auch um ein Zurückholen alter Konzepte, um Inspiration an dem, was schon da ist?
Sicher, wenn es sich bewährt hat. Aber es braucht natürlich auch neue Konzepte. Wichtig scheint mir, dass die öffentliche Hand beim Auslegen der Regeln ansetzt: ökologisch sinnvolle städtische Typologien unterstützt und das entmutigt, was wir zugunsten eines nachhaltigen Bauens aufgeben sollten.
Was müsste denn aufgegeben werden?
Schon einiges, darunter auch die Gartenstadt, die natürlich ihren Charme hat, aber nie zu einer 15-Minuten-Stadt werden kann, wie wir sie heute anstreben. Das schafft nur die kompakte Stadt mit substanzieller Dichte. Aufgeben sollte man grundsätzlich vieles, was man sich privat schafft – das eigene Grün, das eigene Schwimmbad – und eigentlich viel besser gemeinschaftlich bereitgestellt und genutzt werden kann.
Wie macht man das den Investor:innen schmackhaft, wenn Profitinteresse an vorderster Stelle steht?
Eine ökologische Stadt der kurzen Wege muss man vielleicht Investor:innen erklären, aber schmackhaft machen braucht man sie ihnen nicht: Sie ist alles andere als ein schlechtes Geschäft. Die grossen europäischen Städte, die wir lieben, ob sie Paris oder Barcelona heissen, sind überwiegend Produkte der Bauspekulation, aber sie hatten eine starke, präzise Stadtplanung, der sich die Spekulation fügen musste. Stadtplaner:innen und Investor:innen ziehen grundsätzlich am selben Strang, nur merken sie es zuweilen nicht.
Insgesamt fehlt es also an Inspiration und einer klaren Richtung. Gleichzeitig besinnt man sich heute dennoch oft zurück an Konzepte des letzten Jahrhunderts. Das heisst, die Richtung stimmt ja eigentlich doch, oder nicht?
Was ich nicht verstehe, ist, warum diese Konzepte nicht auch in der Agglomeration angewendet werden. Da sehe ich am meisten Handlungsbedarf. Ich plädiere nicht dafür, dass Dietikon so werden sollte wie das Josefsviertel oder das Unterdorf. Unsere Städte sind auch deshalb attraktiv, weil sie sich aus ausgesprochen unterschiedlichen Vierteln zusammensetzen. Aber sie sollten, bei aller Unterschiedlichkeit, möglichst überall wohnlich, einladend und nicht zuletzt auch überall nachhaltig sein.
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