«Die Lust an der Angst treibt mich genauso an wie der Frust darüber»
Von der ambivalenten Natur der Angst handelt die Tanz- und Soundperformance «night body night voice» von Charlotte Mathiessen. Im Interview erklärt die Choreografin, warum das Gruselgefühl auch aufregend sein kann.
Sofiya Miroshnyk: Worum geht es bei «night body night voice»?
Charlotte Mathiessen: Es ist eine Performance, in der Tanz und Sound zu einem intensiven Dialog verschmelzen. Dabei geht es um die Angst, nachts allein unterwegs zu sein – eine Angst, die bei mir aus Erzählungen über persönliche Erlebnisse und überlieferten Geschichten resultiert.
Dabei stelle ich mir die Frage, was real ist und was als «cautionary tale», also eine Art «Warn-Geschichte», überhöht wird.
Was für Geschichten sind das?
Ich greife zurück auf ein breites Spektrum: von dramatisierten Warnungen bis zu realen Erlebnissen, die mir Freund:innen, Mütter und andere Menschen anvertraut haben. Viele wissen sofort, wovon ich spreche. Vor allem weiblich gelesene und queere Personen.
Auffällig ist, dass Medien vor allem Übergriffe im öffentlichen Raum durch unbekannte Täter:innen thematisieren. Dabei geschehen Gewalterfahrungen im Privaten viel öfter. Hier herrscht also eine Unverhältnismässigkeit.
Dabei stellt sich auch die Frage, inwiefern mir durch diese Geschichten beigebracht worden ist, wovor ich Angst haben soll und wovor nicht. Angst kann in bestimmten Situationen auch nützlich sein.
Ist Angst also eher gut als schlecht?
Sie ist ambivalent. In unserer Gesellschaft brauche ich Angst. Und doch ist es frustrierend, dass Menschen, die diese Angst erlernen, ihre Bewegungen als Folge davon stark einschränken. Das Schöne an der Theaterbühne ist, dass ich mir vorstellen kann, wie es wäre, wenn ich das nicht tun müsste – auch wenn das wie eine unerreichbare Utopie erscheint.
Was würden Sie wagen, ohne die Angst im Nacken?
Nachts in einem Park auf der Wiese liegen. In einem Club meinen Körper so bewegen, wie ich will. Ohne die sexualisierenden Blicke auf mir zu spüren.
Wie wird eine solche Utopie real?
Es braucht einen Shift in der Art, wie wir einander wahrnehmen. Weiblich gelesene Menschen werden oft als weniger wertvoll angesehen – werden objektiviert und sexualisiert. Daraus ergibt sich eine falsche Legitimation, Gewalt gegen sie auszuüben. Wir müssen alle Menschen als gleichwertig wahrnehmen und diese Abwertung unterbinden.
Wie?
Es gilt, mit männlich gelesenen Menschen darüber zu reden. Das bedeutet auch, sie als Täter:innen sichtbar zu machen. Ich kenne viele weiblich gelesene Personen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, aber ich kenne keine Täter:innen – da geht etwas nicht auf. Diese Menschen leben unter uns.
Wir brauchen auch bessere Angebote für Täter:innen, damit sie lernen, andere Menschen als gleichwertig zu sehen. Mein Stück allein kann das nicht ändern, aber einen Anstoss geben.
«Einmal da, ist die Angst doch auch sehr aufregend.»
Charlotte Mathiessen, Choreografin
Wie gehen Sie bei der Konzeption eines solchen Stücks vor?
Manche Bilder tauchen sofort auf. Zum Beispiel das Gefühl, etwas im Nacken zu spüren, das von hinten kommt und verschwindet, sobald man sich umdreht. Dieses Motiv habe ich damit übersetzt, dass ich mich ganz nah von hinten filme.
Gleichzeitig verstärkt der Live-Sound von Marquis' McGee meine Körpergeräusche, sodass diese Hyperwachsamkeit der Nacht, in der all unsere Sinne geschärft sind, auch auf der Bühne erlebbar wird.
Sie wollen das Publikum dazu aufrufen, die Angst vor der Nacht zu geniessen. Wie soll das funktionieren?
Das kommt auf die Person an. Mich zieht die Nacht an. Ich will allein sein in der Nacht und finde das aufregend. Die Lust an der Angst treibt mich genauso an wie der Frust über sie. Denn sie ist intensiv und unkontrollierbar. Und wenn ich mich in einem sicheren Rahmen der Angst aussetze, fühlt sich das wach an und spannend.
Ein horrorfilmartiges, kontrolliertes Panikgefühl?
Ja, das reizt mich. Zwar suche ich nicht absichtlich nach Situationen, die für mich gefährlich werden, aber einmal da, ist die Angst doch auch sehr aufregend. Wenn man mit einer Gruppe im Wald unterwegs ist und sich kindlich in eine Angst hineinsteigert, dann ist das faszinierend und nicht per se negativ – dieses Gruselgefühl.
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Sofies Begeisterung für die Medienbranche zeigt sich in ihren diversen Projekten: Sie leitete den Zeitungs-Kurs im Ferienlager, für die Jungen Jorunalist:innen Schweiz organisiert sie seit mehreren Jahren das Medienfestival «Journalismus Jetzt» mit. Teilzeit studiert sie an der ZHAW Kommunikation. Zu Tsüri.ch kam sie zunächst 2022 als Civic Media Praktikantin. 2024 kehrte sie dann als Projektleiterin und Briefing-Autorin zurück und momentan macht sie als erste Person ihr zweites Tsüri-Praktikum.