Umnutzung in Wipkingen: Wie aus einem Sozialzentrum teure Wohnungen wurden
An der Hönggerstrasse in Wipkingen baut ein privater Eigentümer Büros zu Wohnungen um. Wo früher Menschen in finanziellen Notlagen Hilfe fanden, werden bald Gutverdiener:innen in 3,5-Zimmer-Wohnungen für bis zu 6550 Franken pro Monat wohnen.
Ein Schnäppchen sind die Mietpreise für die neuen Wohnungen an der Hönggerstrasse 24 nicht. Mit 6550 Franken pro Monat für eine 3,5-Zimmer-Wohnung liegen sie weit über dem, was als «marktüblich» bezeichnet werden könnte. Trotzdem trägt ihr Bestehen dazu bei, der Wohnungsknappheit in der Stadt Zürich entgegenzuwirken. Denn vor seinem Umbau wurde das Gebäude als Sozialzentrum genutzt und stand seit Juni 2022 leer.
Dass an der Adresse bald gewohnt statt nur gearbeitet wird, hat auch damit zu tun, dass die Nachfrage nach Büroräumen abnimmt, während der Druck auf den Wohnungsmarkt weiter steigt. Doch noch bleiben solche Umnutzungen selten – auch, weil baurechtliche Bestimmungen diese erschweren.
Grossprojekte preschen vor
Die Idee ist nicht neu: In Japan und Deutschland wurden schon vor knapp zehn Jahren Bürotürme zum Wohnraum umgebaut. In der Schweiz jedoch nahm diese Entwicklung erst nach der Pandemie richtig Fahrt auf – unter anderem aufgrund neuer Arbeitsmodelle und wachsenden Gewerbemieten in den Innenstädten. Mittlerweile gibt es gleich eine Handvoll Projekte: So wurde in Bern beispielsweise der ehemalige Post-Hauptsitz zu 142 Wohnungen umfunktioniert. In Genf entstehen durch die Immobiliengesellschaft Swiss Prime Site aus einem früheren Swisscom-Gebäude 136 Wohneinheiten. Und in Zürich befinden sich zwei ehemalige SRF-Bürogebäude in Leutschenbach im Umbau: Die Stiftung PWG will dort bis ins Jahr 2025 Wohnraum für rund 200 Menschen erstellen.
Maria Conen vom ETH-Wohnforum und Professorin für Architecture and Housing an der ETH räumt der Umnutzung von Gewerbegebäude viel Potenzial ein. Denn während bei der Zählung der Stadt vergangenen Juni nur 0,06 Prozent aller Wohnungen in Zürich leer standen, blieben im letzten Quartal 2023 rund 234’000 Quadratmeter Büroflächen nicht vermietet. Das zeigt eine aktuelle Auswertung des Immobilienberaters CBRE. «Unbebaute Gebiete in der Stadt Zürich sind rar, es ist deshalb durchaus sinnvoll, bereits bestehende Gebäude umzunutzen», so die Architektin. Zumal eine Umnutzung, je nach Alter der Liegenschaft, kostengünstiger kommen kann als ein Neubau und in der Ökobilanz besser abschneidet als ein Abriss.
Ein Zimmer für 2150 Franken
Weshalb das 1973 erbaute Gebäude an der Hönggerstrasse der Abrissbirne entkommen ist, darüber kann nur spekuliert werden. Weder die zuständige Kreisarchitektin, noch das Planungsunternehmen oder der Eigentümer aus dem Kanton Schwyz will dazu Auskunft geben. Es ist nicht das erste Mal, dass sich der private Unternehmer in Schweigen hüllt; ihm gehören noch weitere Grundstücke in Zürich. Bereits im Kündigungsfall von «Andys Fischershop» an der Molkenstrasse 20 wollte er sich nicht zu seinen Plänen äussern. Während das Haus unweit des Helvetiaplatzes noch kein neues Gesicht erhalten hat, wurden in Wipkingen mittlerweile 40 neue Wohnungen fertiggestellt. Ab 1. April 2024 können die ersten Mieter:innen einziehen.
Ob die kurzzeitige Besetzung im Herbst 2022 das Bauvorhaben beschleunigt hat, lässt sich nicht herausfinden. Damals befürchteten die Aktivist:innen, dass auf dem Grundstück «Luxus-Mietwohnungen» entstehen könnten. Private Büroflächen sollten viel mehr als gemeinnütziger Wohnraum genutzt werden, lautete ihre Forderung.
Daraus wurde nichts. Zwar scheinen die Wohnungen auf den Bildern in den Verkaufsportalen keineswegs luxuriös, die Mietpreise sind allerdings weit davon entfernt, was im gemeinnützigen Wohnbau verlangt wird: Zwischen 2150 und 2300 Franken brutto kosten die 24 1-Zimmer-Studios mit 34 bis 45 Quadratmetern pro Monat. Und der Mietzins für eine der zehn 2,5-Zimmer-Wohnungen beläuft sich auf bis zu 3100 Franken.
Wer es sich leisten kann, entscheidet sich für 124 Quadratmeter, verteilt auf 3,5 Zimmer für 6550 Franken monatlich. Das entspricht einem Quadratmeterpreis von 53, bei den Studios sogar von bis zu 65 Franken. Damit liegen die Wohnungen einiges über dem Preis, den man in Wipkingen bei Neumieten sonst zahlt. Gemäss der Bewertungsplattform Real Advisor kostet ein Quadratmeter im Quartier durchschnittlich 40 Franken pro Monat.
Im Vergleich zu den Bestandsmieten ist der Unterschied noch extremer, wie die Mietpreiserhebung der Stadt aus dem Jahr 2022 zeigt: Der Median lag in Wipkingen dazumal bei 1413 Franken pro Monat für eine 3-Zimmer-Wohnung, der gesamtstädtische Quadratmeterpreis bei Mietobjekten gerade einmal bei knapp 20 Franken. Eine 4-Zimmer-Wohnung mit 100 Quadratmetern kostete im Mittel 1800 Franken pro Monat.
Stadt bezahlte fast 750’000 Franken jährlich
Bei derart hohen Angebotsmieten zahlt sich die Umnutzung für den privaten Eigentümer aus: Die Nettomieteinnahmen der 40 Wohneinheiten belaufen sich auf jährlich über 1,2 Millionen Franken. Mit kleinteiligen Wohnungen lässt sich aktuell in der Stadt Zürich mehr Geld verdienen als mit Bürovermietungen. Während in vielen Fällen nicht klar ist, wie hoch die Mieten einzelner Unternehmen sind, weiss man: Der frühere, aber auch der jetzige Besitzer, der die Liegenschaft im Jahr 2005 erworben hat, nahm mit der Liegenschaft an der Hönggerstrasse jährlich mindestens 750’000 Franken ein. Denn Mieterin war die Stadt Zürich.
Von 2003 bis 2022 befand sich an der Adresse das «Sozialzentrum Hönggerstrasse». Weil die Liegenschaft jedoch hätte saniert werden müssen und zu klein geworden war, entschied man sich für den Kauf des Gebäudekomplexes an der Röschibachstrasse 24/26. Im Juni 2022 wurde das neue Sozialzentrum «Wipkingerplatz» eröffnet. Auch diese Liegenschaft musste zuerst umgebaut werden – für fast 60 Millionen Franken.
Weniger Bestimmungen, mehr Innovation
Wie hoch die Kosten für den Umbau an der Hönggerstrasse ausgefallen sind, bleibt ein gut gehütetes Geheimnis. Dass eine Büroumnutzung aber je nach Zustand der Gebäudestruktur relativ aufwändig und entsprechend kostenintensiv sein kann, bestätigt Maria Conen von der ETH. Das habe damit zu tun, dass Gewerbegebäude nach anderen Kriterien geplant würden als Wohnbauten: So sind oftmals nur wenige Treppenhäuser vorhanden für die Erschliessung der Geschosse, es gibt weniger Steigschächte für die Haustechnik und durch die grosse Gebäudetiefe fehlt es an Nutzflächen mit genügend Tageslicht.
Deshalb sei konventionelles Wohnen bei grossflächigen Bürogebäuden schwierig umzusetzen. «Es braucht einen innovativen und offenen Umgang mit der Frage, wie wir solche Strukturen bewohnen können», sagt Conen. Sie nennt das Beispiel der PWG in Leutschenbach. Die städtische Stiftung will auch neue Wohnformen wie Clusterwohnungen im ehemaligen Fernsehgebäude umsetzen.
Doch auch wenn Bauherr:innen gewillt wären, sich von alten Wohnnormen zu lösen, bedeutet das nicht, dass Umnutzungen ohne weiteres gemacht werden können. Neben diversen Baunormen, die Conen zufolge eigentlich für Neubauten ausgelegt sind, gibt es noch ein anderes Hindernis: Die Bauzonenordnung (BZO). Steht ein Gebäude in einer Gewerbe- oder Industriezone, darf es nicht einfach zu Wohnraum umgebaut werden. Und als private:r Eigentümer:in ein einzelnes Grundstück umzonen zu lassen, sei praktisch unmöglich, da die BZO eine übergeordnete städtebauliche Idee und nicht private Interessen abbilde, erklärt die Architektin.
Dass das Haus an der Hönggerstrasse in einer Quartiererhaltungszone liegt, kam dem Eigentümer also entgegen. Und so werden die neuen Mieter:innen bald einziehen – nichts ahnend, dass in ihrem Zuhause früher mittellose Menschen Sozialhilfe beantragen konnten.
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