Aufstand gegen das Asphaltmonster: Mit Protesten zum Zürcher Velotunnel
Am 22. Mai wird der Velotunnel am Zürcher Hauptbahnhof eröffnet. Dabei war die Röhre einst für Autos vorgesehen. Zu verdanken ist diese Wendung dem Widerstand aus der Zivilgesellschaft, wie unser Kolumnist Thomas Hug-Di Lena ausführt.
Am 22. Mai wird Zürich mit grossem Pomp den neuen Stadttunnel einweihen. Politiker:innen werden Bänder durchschneiden, die Presse wird Bilder von glücklichen Velofahrenden zeigen, die durch den langen Tunnel unter dem Hauptbahnhof fahren. Alle werden die neue Velostation mit ihren 1240 Abstellplätzen bewundern. Nur 38,6 Millionen hat das Jahrhundertbauwerk gekostet – gut investiertes Geld für nachhaltige Mobilität.
Doch hinter dieser Erfolgsgeschichte verbirgt sich ein grösseres Narrativ, das bei der offiziellen Einweihung kaum Erwähnung finden wird: Dieser Velotunnel existiert nur, weil mutige Bürger:innen vor einem halben Jahrhundert aufgestanden sind und Nein gesagt haben. Nein zu einer monströsen Stadtautobahn, die Zürich für immer verändert hätte.
Alles begann 1954, als zwei deutsche Verkehrsexperten ihren Generalverkehrsplan für Zürich vorlegten. Sie schlugen die Untertunnelung des Hauptbahnhofs vor, einen gigantischen Verkehrskreisel beim Platzspitz und ein Y-förmiges Expressstrassen-System, das die drei nach Zürich führenden Autobahnen verbinden sollte.
Der Zürcher SP-Kantonsrat Otto Nauer beschrieb es 1971 in der NZZ treffend als «nicht mehr zu bändigenden Verkehrsmoloch, der in der Form eines Ypsilons in Zürich einzudringen droht». Das System sollte drei vierspurige Autobahnarme zu einem einzigen Punkt zusammenführen. Am Platzspitz würden sich N1 (Bern/Basel), N1 (Winterthur) und N3 (Chur) treffen.
Die Pläne waren apokalyptisch: Ein sechsstöckiges Verkehrsdreieck in der Sihl, eine Hochstrasse über dem Fluss, diverse Brücken über die Limmat. Hunderte von wertvollen Wohnungen sollten abgerissen, Erholungsgebiete zerstört werden.
Geplant waren zudem nicht weniger als 13’000 Abstellplätze in Parkhäusern, deren Standort weder bestimmt noch die Kosten für deren Erstellung gesprochen waren. Der Flächenverbrauch wäre enorm gewesen: Parkhäuser mit einem Bodenwert von circa 10’000 Franken pro Quadratmeter.
«Anhalten und umsteigen» – die AGU macht mobil
Doch allmählich begann sich das Blatt zu wenden. 1971 gründeten Studierende und Assistent:innen der ETH Zürich die Arbeitsgemeinschaft Umwelt (AGU) – eine der ersten Umweltorganisationen der Stadt. Sie lancierten eine Petition gegen das Expressstrassen-Y und sammelten in Rekordzeit 45’172 Unterschriften, davon 33’205 aus der Stadt Zürich.
«Bitte anhalten und umsteigen» war ihr Slogan, wie die NZZ am 30. Juni 1971 berichtete. Die Petition verlangte den völligen Verzicht auf den Bau der Expressstrassen und stattdessen die Förderung einer Ringautobahn als Alternative. Die AGU argumentierte, dass die Expressstrassen einen schweren Eingriff in die Stadtstruktur darstellen würden und stattdessen der öffentliche Verkehr ausgebaut werden solle.
Der Heimatschutz schloss sich dem Widerstand an. In einem Gutachten der Naturschutzkommission vom Oktober 1968 wurde das Y-Projekt als «Bedrohung unseres Lebensraumes» charakterisiert. Die Papiere wurden jedoch bis 1971 der Öffentlichkeit vorenthalten – ein weiteres Zeichen dafür, wie sehr die offiziellen Stellen das Projekt durchdrücken wollten.
In einer bemerkenswerten Ausstellung «An der Sackgasse vorbei...», die im März 1971 in einem Kunstatelier in der Zürcher Altstadt stattfand, stellten Architekturgruppen alternative Stadtplanungsmodelle vor. Der Ausstellungsleiter Fritz Schwarz betonte: «Wir befinden uns auf dem Weg in die Sackgasse.» Die Kritik am Ypsilon wurde immer lauter.
1976 rückte der Widerstand in eine neue, radikalere Phase. Die «Gewaltfreie Aktion Milchbucktunnel» (GAM) besetzte die Baugrube für den Milchbucktunnel, der als erster Teil des Y-Systems bereits im Bau war. Als 250 Polizeibeamte in Kampfausrüstung einschritten, kam es zu 24 Verhaftungen.
Die folgenden Prozesse gegen acht GAM-Mitglieder wegen Hausfriedensbruchs und Nötigung endeten mit einem bemerkenswerten richterlichen Eingeständnis: Die Angeklagten hätten «in einem Notstand gehandelt», urteilte das Gericht. Eine leise Solidaritätsbekundung des Rechtssystems mit den Anliegen der Aktivist:innen.
Das Netzwerk wächst
Der Widerstand beschränkte sich längst nicht mehr auf studentische Kreise. Überall in der Stadt bildeten sich Initiativen: Die Quartiergruppe Westtangente in Wipkingen kämpfte gegen die Westtangente, die als provisorische Lösung bereits den Verkehr durch dicht besiedelte Wohngebiete leitete.
Der Kur- und Verkehrsverein Wipkingen veröffentlichte 1985 den «Tangentenbrecher», eine scharf formulierte Publikation gegen die Stadtautobahn. Die Gruppe Luft und Lärm in Aussersihl besetzte 1977 die Langstrassenunterführung und sperrte 1978 die Hohlstrasse. Die Allianz «Alli gäge d'Brugg» mobilisierte ab 1981 gegen eine geplante Limmatbrücke, die Teil des Ypsilons gewesen wäre.
Fachleute leisteten ihren eigenen Beitrag zum Widerstand. Der Bund Schweizerischer Garten- und Landschaftsarchitekten (BSG) forderte 1972 in der NZZ eine «umweltfreundliche Verkehrsplanung» und warnte vor der «Zerstörung der Wohn- und Lebensräume der Arbeiter und Angestellten». Die Zürcher Arbeitsgruppe für Städtebau (ZAS) legte bereits 1971 ein Gutachten gegen das Ypsilon vor und verlangte eine Denkpause bei der Planung.
Selbst traditionelle Parteien änderten allmählich ihre Position. Das unabhängige Aktionskomitee Zürich ohne Ypsilon vereinte Politiker:innen von der SVP bis zur Partei der Arbeit (PdA).
1972 und 1977 stimmte die Zürcher Stadtbevölkerung gegen den Bau des Ypsilons. Bei der ersten Abstimmung lehnten 59 Prozent der Stimmenden den Umbau des Hardplatz für die Fortsetzung der Westtangente ab. 1977 wurde eine Initiative der «Progressiven Organisationen» (POCH) gegen das Ypsilon eingereicht. Obwohl die Stadtzürcher Bevölkerung der Initiative zustimmte, wurde sie von der Kantonsbevölkerung überstimmt.
Diese Abstimmungen waren ein deutliches Signal für die Behörden, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung – insbesondere in den betroffenen Stadtgebieten – das Projekt ablehnte. Sie zeigten die Kraft, die ein demokratisch organisierter Widerstand entfalten kann.
Vom Auto- zum Velotunnel: Eine ironische Wendung
Der Widerstand zeigte langsam Wirkung. Nach und nach wurde das Y-Projekt auf die lange Bank geschoben. Stattdessen entstanden die Nordumfahrung (eröffnet 1985) und später die Westumfahrung (2009), die den Verkehr um die Stadt herum leiten sollten.
Doch unter dem Hauptbahnhof war bereits Ende der 1980er Jahre ein Tunnelrohbau entstanden – geplant als Teil des künftigen Expressstrassen-Y. Selbst beim Bau der Durchmesserlinie in den 2000er-Jahren wurden weitere Stücke des Tunnels realisiert.
Viele Jahre lang blieb dieser Rohbau ungenutzt liegen, ein betonsteinernes Monument einer überwundenen Verkehrsphilosophie. Im Februar 2024 wurde das Y endgültig «beerdigt», indem es National- und Ständerat aus dem Nationalstrassennetz gestrichen haben.
Die Geschichte des Velotunnels ist eine Lektion in Demokratie und Bürgerbeteiligung. Was heute als Erfolg für das Velo gefeiert wird, war ursprünglich eine Niederlage der Autobahnplaner, herbeigeführt durch beharrlichen zivilgesellschaftlichen Widerstand.
Ohne die zahllosen ungenannten Aktivist:innen gäbe es heute keinen Velotunnel, sondern eine Schneise der Verwüstung durch Zürichs Stadtbild. Diese Menschen sahen früher als die damaligen Ingenieure, dass die Zukunft der Stadt nicht dem Automobil gehören sollte.
Doch der Kampf ist noch lange nicht zu Ende. Die Geschichte lehrt uns, dass Verkehrsprojekte selten wirklich verschwinden – sie schlummern nur in den Schubladen der Planungsbehörden.
Wie in Biel, wo 2020 der umstrittene «Westast» erst nach massiven Protesten sistiert, aber nicht aus dem Nationalstrassennetz gestrichen wurde. Oder in Bern beim Anschluss Wankdorf, wo unser Bundesrat Albert Rösti (SVP) gerade ein millionenschweres Autobahnprojekt bewilligt hat – trotz der verlorenen Autobahnabstimmung im November. Der Kampf um unsere Städte, um nachhaltige Mobilität und lebenswerte Räume geht weiter.
Wenn wir ab dem 22. Mai durch den neuen Velotunnel radeln, tun wir dies auf den Schultern jener, die vor 50 Jahren visionär genug waren, Nein zu sagen.
Ihre Namen mögen vergessen gehen, aber ihr Vermächtnis lebt mit jeder Fahrt durch den Velotunnel weiter. In einer Zeit, in der Klimakrise und Verkehrswende dringender sind denn je, brauchen wir wieder Menschen, die bereit sind, den Status quo infrage zu stellen.
Die wahre Errungenschaft, die wir nächste Woche feiern, ist nicht der Velotunnel selbst, sondern die Tatsache, dass Zürich eine lebenswerte Stadt geblieben ist, die nicht von einer monströsen Stadtautobahn zerschnitten wird.
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