An der Langstrasse trifft Armut auf Vergnügen

Im Zürcher Kreis 4 treffen Welten aufeinander: Frauen im Rotlichtmilieu leben dort unter miserablen Verhältnissen, während draussen das Nachtleben pulsiert. Wie ein Bordell-Besuch mit Schwester Ariane den Blick auf diese Parallelwelten verändert hat. Ein Kommentar.

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Schwester Ariane: Sie hat ihr Leben den Menschen am Rande der Gesellschaft gewidmet. (Bild: Noëmi Laux)

Ein paar Stunden habe ich sie gestreift, die Welt der Menschen im Abseits, der Diskriminierten und oft Vergessenen. Kurz vor Weihnachten begleitete ich Schwester Ariane, die sich seit vielen Jahren für die Menschen auf der Gasse einsetzt – Frauen im Milieu, Obdachlose, Süchtige. Wir gingen in die Bordelle an der Langstrasse und verteilten Geschenke. Hier, wo sich Menschen in Bars und Restaurants vergnügen, bleibt in der Regel verborgen, was hinter verschlossenen Türen passiert. Das Bild, das sich mir zeigte, erschreckte mich und stimmte mich zugleich nachdenklich. In den Bordellen leben die jungen Frauen zusammengepfercht auf engstem Raum. Und dennoch sagte mir eine Frau zwischen Tür und Angel: «I love Switzerland», und sie fügt an, dass sie in kein anderes Land mehr gehen wolle. Weder in Italien noch in Spanien habe sie zu Weihnachten je ein Geschenk bekommen von freiwilligen Helfer:innen.

Wie ist das möglich in einem reichen Land wie der Schweiz, habe ich mich immer wieder gefragt, während ich Schwester Ariane begleitet habe. Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, dass fast alle Frauen im Zürcher Rotlichtmilieu aus Westafrika oder Südamerika stammen? Wie kann ich die unterschiedlichen Welten der feuchtfröhlich feiernden Langstrassenbesucher:innen und der Menschen im Milieu und den Obdachlosen zusammenbringen?

Ganz ehrlich: Ich bin überfordert und werde sicher noch grübeln, wenn ich mit meiner Familie bei gutem Essen, Kerzenschein und bunt geschmücktem Weihnachtsbaum auf das Leben und auf uns anstosse. Und ich werde in Gedanken auf die Frauen in der Langstrasse anstossen, die über die Festtage genau wie jeden Tag in einem Bordell auf den nächsten Freier warten. Und auf Menschen wie Schwester Ariane, die das Leben dieser Menschen durch ihren Einsatz zumindest ein bisschen menschlicher machen.

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