Sabian Baumann über den Film «Wem gehört der Himmel» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Noëmi Laux

Redaktorin

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21. April 2023 um 04:00

Sabian Baumann: «Als non-binäre Person ist man fast gezwungenermassen Aktivist:in»

Sabian Baumanns Film «Wem gehört der Himmel» feiert Ende April am Pink Apple Filmfestival Premiere. Der Zürcher Regisseur* hat für die Dokumentation während zehn Jahren mit diversen Aktivist:innen aus der Schweiz und Argentinien gedreht.

Sabian Baumann ist 60 Jahre alt. Als non-binäre Person bevorzugt Sabian als Künstler* bezeichnet zu werden – also mit Stern. (Foto: Noëmi Laux)

Noëmi Laux: Als du vor etwa zehn Jahren mit den Dreharbeiten zu «Wem gehört der Himmel» begonnen hast, hast du dich als trans und non-binär geoutet. Was hat der Film mit deiner eigenen Geschichte zu tun?

Sabian Baumann: Ich habe mich schon 15 Jahre vor meinem offiziellen Outing in meinem engsten Freund:innenkreis als trans-non-binär identifiziert. Damals habe ich in den Medien und Büchern, in akademischen Kreisen und im Kunstkontext nach Informationen gesucht, um mich selbst und die politischen Zusammenhänge zu verstehen. Das war anstrengend. Heute ist das anders. Alle wissen, was trans oder non-binär bedeutet. Deshalb: Ja, viel von der Recherche, die ich für mein persönliches Verständnis gemacht habe, ist in den Film eingeflossen. Ich sehe den Film deshalb auch als eine Art Vermittlungsprojekt für mich und das Publikum.

Inwiefern ein Vermittlungsprojekt?

Der Film besteht zu einem grossen Teil aus Gesprächen mit Aktivist:innen aus der queeren Szene in der Schweiz und in Argentinien. Sie erzählen von ihren eigenen Erfahrungen, aber es wird auch viel historisches und politisches Hintergrundwissen vermittelt. Ich hätte mir gewünscht, dass ich mit 20 Jahren einen leichteren Zugang zu diesen Themen gehabt hätte. Ich habe keinen akademischen Hintergrund und musste mir vieles selbst aneignen oder von Leuten erklären lassen, die sich in akademischen Diskursen besser auskennen. Deshalb war es mir wichtig, dass der Film auch für Menschen mit anderen Ausbildungen und für solche, die bisher wenig Berührungspunkte mit diesen Themen hatten, verständlich ist. Der Film richtet sich nicht nur an queere Menschen, sondern an alle. Er soll zu einem besseren gegenseitigen Verständnis beitragen.

Die Erfahrungen, von denen die Menschen im Film erzählen, gehen über sexuelle Diskriminierung hinaus, viele berichten von Mehrfachdiskriminierung.

Ja, der Film hat einen intersektionalen Ansatz und soll die Überschneidung von Rassismus und Sexismus beleuchten und erklären. Intersektional bedeutet, dass eine Person wegen mehreren Faktoren diskriminiert wird. Zum Beispiel wird eine Schwarze Frau als Person of Colour und als Frau diskriminiert. 

Die Gespräche, die du für den Film geführt hast, fanden in der Schweiz und in Argentinien statt. Warum Argentinien?

Das Genderidentitätsgesetz in Argentinien war, als ich mit den Dreharbeiten begonnen habe, das fortschrittlichste der Welt. Seit 2012 ist in Argentinien ein dritter Passeintrag ausserhalb der Binarität möglich. Erst als ich von der Einführung dieses Gesetzes hörte, entstand die Idee zum Film.

Ende April wird der Film am Pink Apple Festival in Zürich uraufgeführt. Als das Festival 1997 ins Leben gerufen wurde, hiess es noch Schwul-Lesbisches Filmfestival. Letztes Jahr wurde es zum queeren Festival umbenannt. Was sagt das über die aktuelle Entwicklung aus? 

Das Wort «queer» ist im allgemeinen Sprachgebrauch noch relativ neu. Bis vor einigen Jahren kannten die Meisten ausserhalb der Queerszene vor allem die Bezeichnungen schwul und lesbisch. Früher war «queer» im englischsprachigen Raum ein Schimpfwort. Die Theoretisierung des Begriffs kam im deutschsprachigen Raum erst Anfang der 1990er Jahre auf. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass queer ein Überbegriff für alle Identitäten ist, die nicht der Cis-Heteronorm (Anmerkung der Redaktion: Eine Hetero-Cis-Person stimmt mit der zugeschriebenen Geschlechterrolle überein und hat die sexuelle Orientierung Heterosexualität) entsprechen. 

Was bedeutet es für dich als non-binärer Künstler*, dass das Festival nun queer und nicht mehr schwul-lesbisch heisst?

Ich finde es gut, dass es einen Überbegriff gibt, der versucht, alle Identitäten miteinzuschliessen, also auch inter-, trans- und non-binäre Identitäten. 

Und was bedeutet queer für dich persönlich?

Für mich war queer die Antwort auf viele feministische Fragen, die mir teilweise widersprüchlich vorkamen. Es war aber auch zentral für mein Verständnis von mir selbst. Queer ist das Weiterdenken und die Auflösung der Geschlechterstereotype.

«Die Geschlechtsangabe soll ganz abgeschafft werden.»

Sabian Baumann über den dritten Geschlechtseintrag im Pass

Wie erlebst du den gesellschaftlichen Wandel seit deinem Outing?

Der Wandel, der in den letzten zehn Jahren diesbezüglich stattgefunden hat, ist unglaublich und stimmt mich zuversichtlich. Politisch ist für mich zur Zeit die grösste Errungenschaft ganz klar, dass man seit letztem Jahr ohne Auflagen und den Geschlechtseintrag im Pass ändern kann – wenn bislang auch nur innerhalb der Binarität. Wir sind heute in der Schweiz so weit wie Argentinien vor zehn Jahren. Dennoch stehen wir im europäischen Vergleich nicht schlecht da. Aber nicht nur politisch hat sich viel verändert. Auch gesamtgesellschaftlich wird mehr auf Diversitätsbewusstsein geachtet als noch vor zehn Jahren.

Das Genderidentitätsgesetz in Argentinien wird vom Staat unterstützt. Braucht es in der Schweiz mehr staatliche Unterstützung?

Auf jeden Fall. Es braucht mehr Forschung zu Transgesundheit und eigene Abteilungen in Krankenhäusern für queere und non-binäre Menschen. Ich würde mir auch wünschen, dass Non-Binarität in Lehrmaterialien vorkommt und dass es geschlechtsneutrale Toiletten und Umkleideräume gäbe.

Was müsste sich sonst konkret verändern?

Ich hoffe, dass in der Schweiz bald ein dritter Geschlechtseintrag im Pass möglich ist. Oder noch besser, dass die Geschlechtsangabe ganz abgeschafft wird. Das würde natürlich Arbeit bedeuten, weil Gesetzestexte geändert werden müssten. Ich verstehe nicht, warum sich die Leute dagegen wehren. Es geht ja nicht darum, jemandem etwas wegzunehmen. Im Gegenteil: Es gehört zu einer Demokratie, dass alle zu ihrem Recht kommen. Aktivismus sollte meines Erachtens gar nicht nötig sein, sondern alle Identitäten und Gruppierungen sollten in der Politik vertreten sein und ihre Bedürfnisse in die Gesetzgebung einbeziehen können. Es sollte nicht so sein, dass diskriminierte Menschen, die eh schon Mehrarbeit leisten, auch noch in ihrer Freizeit in Gratisarbeit um ihre Rechte kämpfen müssen. Das wird der Demokratie nicht gerecht. Gesellschaften verändern sich sowieso, es wäre schön, wenn es mit Verständnis, Vertrauen und Respekt passieren könnte, anstatt durch Kämpfe. Das würde allen Seiten viel Zeit, Arbeit und Nerven sparen.

In der Dokumentation «Wem gehört der Himmel» kommen auch Zürcher Aktvist:innen vor wie hier Brandy Butler (links). (Foto: zvg)

Es outen sich heute viel mehr Menschen als nicht-hetero und generell sind Themen wie geschlechtergerechte Sprache, aber auch feministische Anliegen stärker in der Diskussion. Woher kommt dieses Umdenken?

Der politische Druck ist sicher grösser geworden und bekam eine neue, globale Kraft durch Bewegungen wie «Ni Una Menos», wo die erste Demo übrigens 2015 in Argentinien stattfand. Aber auch der «Feministische Streik» und die «Black Lives Matter» Bewegung tragen einen grossen Teil zu einem neuen Bewusstsein bei. Die meisten Bewegungen werden heute intersektionaler und breiter gedacht; viele Diskriminierungsformen werden berücksichtigt.

Inwiefern hat die Diskriminierung einer Minderheit Einfluss auf die gesamte Gesellschaft?

Nicht der vorherrschenden Norm zu entsprechen, löst negative Gefühle aus und kann sehr belastend sein, krank machen und sogar zum Suizid führen. Wenn ein Mensch nicht zu sich selbst stehen kann oder darf, wirkt sich das auch negativ auf sein:ihr soziales Umfeld und damit auf die ganze Gesellschaft aus.

Aber es gibt auch kritische Stimmen. Gerade wenn es um eine genderneutrale Sprache geht.

Das merke ich auch. Sprache ist ein umkämpftes Terrain. Das war schon immer so und erinnert mich sehr an die Kämpfe, als in den 1980er Jahren das Binnen-I eingeführt wurde. Es zeigt, dass Sprache immer auch ein Spiegel der Gesellschaft ist. Gerade deshalb ist es wichtig, dass sie sich mit der Gesellschaft entwickelt. Ich verstehe, dass es vielen Menschen schwerfällt, die Sprache zu verändern, neue Wörter in den eigenen Wortschatz aufzunehmen und andere nicht mehr zu verwenden. Aber es ist nötig, da in der Sprache Machtverhältnisse und Wertungen abgebildet sind und es daher Worte und Formulierungen gibt, die für einen Teil der Menschen verletzend sind.

«Nicht der Norm zu entsprechen, ist anstrengend.»

Sabian Baumann

Wie erlebst du Diskriminierung als non-binäre Person in der Schweiz?

Die Diskriminierung findet oft unterschwellig statt: Man wird nicht verstanden, falsch gegendert oder angestarrt. Das kann sehr energieraubend sein. Nicht der Norm zu entsprechen, ist anstrengend. Im Grossen und Ganzen geben sich die Leute aber grosse Mühe. Aber beispielswiese falsche gendern, das passiert auch mir gelegentlich und zeigt, dass diese NormenJahrhunderte alt und tief in allen Strukturen verankert sind.

Siehst du dich als Aktivist*?

Ich würde meine Kollaborationen als Kunstaktivismus bezeichnen. Seit dem 2018 das Projekt «die grosse um_ordnung» von mir und anderen Künstler:innen auf dem Helvetiaplatz stattfand, habe ich das Gefühl, ich werde im Kunstkontext nicht mehr nur als Künstler* wahrgenommen, sondern auch als Aktivist*. Aber ich sehe mich in erster Linie als kulturschaffende Person. Aber als trans-non-binäre Person ist man zeitweise fast gezwungenermassen Aktivist:in.

Wie meinst du das?

Als trans-non-binäre Person stellt man etwas dar, das für viele eine Herausforderung ist. Allein diese Selbstbehauptung ist eine Art Aktivismus, indem man dem Umfeld Erklärungen zur eigenen Identität abgibt oder bei Institutionen eine genderneutrale Anrede einfordert. All das trägt zur Sensibilisierung bei.

Sabian Baumann in seinem:ihren Atelier in Zürich. (Foto: Noëmi Laux)

Kim de L’Horizon hat letztes Jahr als erste non-binäre Person den Deutschen und den Schweizer Buchpreis gewonnen. Was löst das in dir als non-binäre Person aus?

Ich habe mich wahnsinnig gefreut. Es ist ein grossartiges Buch. Kim de L’Horizon hat es geschafft, mit einer unglaublichen Sensibilität zu beschreiben, was es bedeutet, non-binär zu sein. Das hat dazu geführt, dass das allgemeine Interesse an diesen Themen weiter zugenommen hat und selbst die NZZ einmal eine non-binäre Perspektive zu Wort hat kommen lassen. Gleichzeitig würde ich mir wünschen, dass auch Menschen, die sich nicht so gut ausdrücken können, in ihren Bedürfnissen ernst genommen werden. Klar aber ist, dass dieser Preis eingebettet ist in einen Prozess des Aktivismus, der schon lange andauert. 

Abschliessend: Wem gehört eigentlich der Himmel?

Er sollte allen gehören. Oder nein, niemandem. Den Himmel kann man nicht besitzen.

«Wem gehört der Himmel» läuft am 27. April im Arthouse Picadilly im Rahmen vom Pink Apple Filmfestival. Im Anschluss an den Film findet ein Gespräch zwischen Sabian Baumann und Rahel El-Maawi statt.

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