Gemeinderät:innen über die Tagesschule: «Wir brauchen mehr Bildungsgerechtigkeit» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Michael Schallschmidt

Praktikant Redaktion

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4. Februar 2022 um 14:30

Aktualisiert 07.02.2022

Gemeinderät:innen über die Tagesschule: «Wir brauchen mehr Bildungsgerechtigkeit»

Im Rahmen des Projekts «Tagesschule 2025» wollen Stadt und Regierung die Volksschule flächendeckend umgestalten. Im Hinblick auf die kommenden Wahlen erläutern vier Gemeinderät:innen ihre Standpunkte zur Tagesschule, was sie leisten soll und wo ihre Grenzen liegen.

Die Schulanlage Dachslernstrasse ist seit 2021 eine Tagesschule. Bild: © Baugeschichtliches Archiv

«Es gibt nur eins, was auf Dauer teurer ist als Bildung: keine Bildung», lautet ein Zitat, das dem 35. US-Präsidenten John F. Kennedy zugeschrieben ist. Tatsächlich spielt die Bildungspolitik eine wichtige Rolle, was die Zukunft unserer Stadt betrifft. Denn nicht zuletzt entscheidet sich an ihr, wie die Generation von morgen aussieht.

Das wohl wichtigste Schlagwort in diesem Bereich lautet «Tagesschule 2025». Denn ab 2023 wollen Stadt und Regierung alle Zürcher Schulen im Rahmen dieses Grossprojekts in Tagesschulen überführen. Im Hinblick auf die kommenden Wahlen erklären vier amtierende Gemeinderät:innen von GLP, Grüne, SVP und SP, wie sie zu diesem Plan stehen und welche Anliegen sie vertreten.

Kanton und Schulkreise reden mit

Um zu verstehen, welche Instanzen in die Volksschule involviert sind, braucht es zunächst etwas Vorwissen. Die städtischen Schulen fallen in den Aufgabenbereich des Schul- und Sportdepartements. Dessen Vorsteher ist seit 2018 der FDP-Stadtrat Filippo Leutenegger. Innerhalb des Departements kümmert sich das Schulamt um die Finanzen und Entwicklung der städtischen Volksschule. Darüber hinaus arbeitet es mit dem kantonalen Volksschulamt zusammen, das Vorgaben für den Schulbereich erlässt.

Die Schule Aegerten ist eine von sechs Pilotschulen, die 2016 den Tagesschulbetrieb einführte. Bild: © Baugeschichtliches Archiv, Hanspeter Dudli

Weiter ist die Stadt in sieben Schulkreise aufgeteilt, denen je eine Kreisschulbehörde vorsteht. Diese haben mitunter für einen geregelten Schulbetrieb zu sorgen. Die stimmberechtigten wählen alle vier Jahre die Mitglieder ihrer jeweiligen Behörde und eine:n hauptamtliche:n Präsident:in.

Diese sieben Präsident:innen bilden gemeinsam mit dem Vorsteher des Schul- und Sportdepartements die Schulpflege. Sie steuert die Entwicklung der Volksschule, legt Standards für Schulen und Schulkreise fest und teilt ihnen Ressourcen zu.

Mithilfe dieses Systems unterhält die Stadt rund 100 Schulen, an denen 3500 Lehr- sowie 3200 Betreuungspersonen arbeiten.

Mehr Betreuung für Schüler:innen

Im Rahmen des Tagesschulmodells bleiben Schüler:innen ab dem zweiten Kindergartenjahr an Tagen mit Nachmittagsunterricht über den Mittag an den Schulen. Solche Betreuungszeiten laufen unter dem Namen «gebundene Mittage». Die Eltern bezahlen einen Einheitstarif von sechs Franken pro Mittag. Während Kindergartenkinder zwei gebundene Mittage pro Woche haben, sind es bei Primarschüler:innen drei bis vier und bei Sekundarschüler:innen vier.

Weiter sieht das Modell betreute Lern- und Aufgabenstunden vor, die den regulären Unterricht ergänzen. Diese sollen Schüler:innen die Möglichkeit geben, unter Betreuung ihre Hausaufgaben zu erledigen oder sich auf Vorträge vorzubereiten. 

Seit 2016 überführte die Stadt im Rahmen zweier Pilotphasen 30 Schulen in den Tagesschulbetrieb.

«Schule, Betreuung und Bildung sind einer der letzten Orte, wo wir sparen sollten»

Isabel Garcia, Gemeinderätin GLP

Weniger Geld und kein Platz

Im Projekt widerspiegeln sich mehrere bildungspolitische Herausforderungen. Zum einen die seit Jahren wachsende Zahl der Schüler:innen: Waren es im Schuljahr 2015/16 noch rund 29'200, so besuchten im Schuljahr 2020/21 über 34'000 Kinder und Jugendliche die Volksschule. 

Die Stadt musste deshalb im letzten Jahr auf Pavillons ausweichen und sich in Bürogebäude einmieten, um genügend Platz für alle Schulklassen zu gewährleisten. Da Schulen mit Tagesschulmodell zusätzliche Räume für Betreuungsplätze benötigen, verschärft sich das Platzproblem zunehmend (wir berichteten). 

Weiter bildet die Finanzierung ein grosses Spannungsfeld. Die Schulpflege plant, die Betreuungskosten um 3,4 Prozent zu senken, wie der Tages-Anzeiger berichtet. Langfristig sollen 3,7 Millionen Franken pro Jahr gespart werden, so die Zeitung. Konkret bedeute das weniger qualifiziertes Betreuungspersonal für städtische Schulen und Horte.

Die Schulanlage Manegg soll ab 2030 den Tagesschulbetrieb aufnehmen. Bild: Bild: © Baugeschichtliches Archiv, Wolf-Benders Erben

Der letzte Ort für Sparmassnahmen

Das kantonale Volksschulamt empfiehlt einen Richtwert von einer qualifizierten Betreuungsperson auf elf Kinder. Dieses Verhältnis wäre in der Stadt trotz Sparmassnahmen gewährleistet: «Dennoch sind Schule, Betreuung und Bildung einer der letzten Orte, wo wir sparen sollten», sagt GLP-Gemeinderätin Isabel Garcia. Um ein Projekt wie das Tagesschulmodell zu realisieren, brauche es Investitionen, was sowohl für sie als auch ihre Partei ausser Frage stehe.

Das Projekt Tagesschule sieht ein einheitliches und flächendeckendes Betreuungssystem für die Stadt vor. Das helfe den Eltern dabei, Arbeit und Familie besser zu vereinbaren, sagt Garcia: «Und auch die Kinder profitieren davon, nicht mehr zwischen verschiedenen Horten hin und her wechseln zu müssen.»

Mehr Zeit in der Schule zu verbringen, helfe mitunter auch Schüler:innen aus Haushalten mit einer anderen Muttersprache als Deutsch. Die Tagesschule leiste deshalb einen grossen Beitrag zur Chancengerechtigkeit, sagt Garcia: «Die Kinder haben auf diese Weise auch ausserhalb des Unterrichts ein Umfeld, in dem sie ihr Sprachgefühl trainieren können.» 

Die GLP stehe aus diesen Gründen seit Beginn hinter dem Tagesschulmodell. Auch der bestehende Einheitstarif von sechs Franken pro betreuten Mittag sei vertretbar, sagt Garcia: «Wir sind jedoch dafür, dass der Tarif für einkommensschwache Haushalte auf null gesetzt werden kann.»

Die Schule Neubühl stellte 2019 auf Tagesschulbetrieb um. Bild: © Baugeschichtliches Archiv, Edmund Labhart

Zürcher Schulen fehlt Bildungsgerechtigkeit

«Es ist grundfalsch, dass bei der Betreuung gespart werden soll», sagt Gemeinderat Balz Bürgisser. Der Grünen-Politiker ist seit 2017 Mitglied der Spezialkommission des Schul- und Sportdepartements. Das Tagesschulmodell eigne sich sehr gut, um Schüler:innen aus benachteiligten Verhältnissen zu fördern: «Dafür braucht es jedoch gut geschultes und qualifiziertes Personal».

Eine hohe Chancengerechtigkeit und pädagogischen Mehrwert zu gewährleisten, habe beim Tagesschulmodell die höchste Priorität: «Alle Schüler:innen sollen ihre Fähigkeiten optimal entfalten können», betont Bürgisser. Aus diesem Grund plädiert er für ein breit angelegtes Angebot in den Tagesschulen – als Ergänzung zum obligatorischen Unterricht.

«Die Tagesschule soll Abhilfe bei der Bildungsgerechtigkeit leisten.»

Balz Bürgisser, Gemeinderat Grüne

Insbesondere betreute Aufgabenstunden, in denen Schüler:innen individuell lernen, sich auf Prüfungen und Vorträge vorbereiten und ihre Hausaufgaben erledigen können, sollen den regulären Unterricht ergänzen: «Wir setzen uns deshalb für Tagesschulen ein, die mindestens von acht bis 16 Uhr durchgehend Unterricht und Betreuung gewährleisten.» Dabei solle der Elternbeitrag für die Mittagsverpflegung so festgelegt werden, dass alle Schüler:innen teilnehmen können, sagt der Grünen-Politiker.

Auf diese Weise könne die Volksschule die Bildungsrückstände sozial benachteiligter Schüler:innen ausgleichen: «Die Tagesschule soll hier Abhilfe leisten. Denn bei der Bildungsgerechtigkeit besteht Handlungsbedarf an den Zürcher Schulen.»

Wenig pädagogischer Mehrwert

«Wenn ein Kind zuhause gefördert wird, hat es immer einen gewissen Vorsprung. Die Volksschule kann das nicht vollständig ausgleichen», sagt SVP-Gemeinderat Stefan Urech. In der Vergangenheit hätten dies auch grossangelegte Studien belegt. Das Tagesschulmodell könne das Versprechen, mehr Chancengerechtigkeit zu schaffen, daher nicht vollumfänglich halten.

Im Rahmen des Projekts Tagesschule 2025 sollen sich Unterricht und Betreuung ergänzen, lautet eine weitere Zielsetzung von Stadt und Regierung. Beides miteinander zu verschmelzen, solle jedoch nicht das oberste Ziel sein, sagt Urech: «Der pädagogische Mehrwert und der Unterricht müssen bei der Planung immer im Vordergrund stehen.» Lehrkräfte in die Mittagsbetreuung zu integrieren, wie es das Tagesschulmodell vorsieht, ergebe deshalb keinen Sinn: «Vor dem Nachmittagsunterricht soll sich eine Lehrperson Zeit nehmen können, um die Details der kommenden Lektionen zu planen.»

Seit 2016 ist die Schule Albisriederplatz eine Tagesschule. Bild: © Baugeschichtliches Archiv, Thomas Hussel

SVP will mehr Betreuungsplätze

Von seinen insgesamt drei Zielen könne das Tagesschulmodel nur eines erfüllen, sagt Urech. Dabei handle es sich um die verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Sowohl er als auch seine Partei sprechen sich für ein ausgebautes und besseres Angebot an Betreuungsplätzen aus: «Wichtig ist jedoch, dass die Tagesschule für alle Familien freiwillig ist», ergänzt Urech. Das jetzige Modell wäre nicht flexibel genug, zum Beispiel weil Eltern die Betreuungstage nicht individuell buchen können: «Derartige Lenkungsmassnahmen unterstützen wir nicht. Wir setzen uns deshalb für mehr Gestaltungsfreiheit ein.» 

Auch die FDP spricht sich für flexiblere Tagesschulen aus: «Wir setzen uns auch künftig dafür ein, dass die Volksschule vielfältige Familienmodelle und damit Wahlfreiheit bei der Tagesschule ermöglicht», geht aus einer Mitteilung vom Juni letzten Jahres hervor. Die Partei lehne «faktische Zwänge» deshalb ab, heisst es weiter. Dazu könne auch eine zu kurze Mittagspause gehören, die es den Schüler:innen unmöglich macht, zu Hause zu essen.

Die Schule Leutschenbach arbeitet seit sechs Jahren nach dem Tagesschulmodell. Bild: © Baugeschichtliches Archiv, Thomas Hussel

Es muss keine Entscheidung sein

«Die Volksschule soll kostenlos bleiben. Es handelt sich um eine wichtige Errungenschaft, die wir verteidigen müssen», betont SP-Gemeinderätin Ursula Näf. Sie und ihre Partei setzen sich deshalb für eine unentgeltliche Mittagsbetreuung an Tagesschulen ein – unabhängig vom Einkommen der Haushalte.

Da Betreuung und Unterricht in der Tagesschule einen fixen Zeitraum abdecken, bringe das Modell für die Eltern, wie auch die Schüler:innen Vorteile mit sich, sagt Näf: «Man muss sich nicht zwischen Chancengerechtigkeit und einem qualitativ guten Betreuungsangebot entscheiden, sondern hat beides in einem.» Familien, Kinder und Lehrkräfte würden die Tagesschule deshalb grösstenteils befürworten, wie die jüngste Evaluation zu den Pilotschulen zeige.

Um den Erfolg der Tagesschule zu garantieren, brauche es jedoch genügend finanzielle Ressourcen, sagt Näf: «So können die Schulen ein Angebot mit pädagogischem Mehrwert gewährleisten.»

Bevor die Tagesschule in die nächste Runde geht, muss das Projekt noch eine Hürde schaffen. Denn in diesem Jahr entscheidet die stimmberechtigte Bevölkerung an der Urne, ob das Modell ab 2023 flächendeckend in allen Schulen eingeführt werden soll.

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