50 Mietende können bleiben: So saniert die Stadt sozialverträglich

Während in Zürich Leerkündigungen in Rekordhöhe verzeichnet werden, geht die Stadt einen anderen Weg: Die Siedlung Heiligfeld I im Sihlfeld wird im Bestand saniert. Ein Grossprojekt – auch für die betroffenen Mieter:innen.

Die Siedlung Heiligfeld I bietet rund 325 Menschen ein Zuhause – dies wird sich laut der Stadt durch die Sanierung kaum verändern. (Bild: Isabel Brun)

Die Häuserzeile an der Brahmsstrasse 51 im Sihlfeld wird gerade eingekleidet. Drei Bauarbeiter mit Leuchtwesten klettern auf dem Gerüst umher, es ist laut. Daran müsse sie sich erst noch gewöhnen, sagt Susanne Fiechter.

Eigentlich heisst Fiechter anders, aber wie alle im Text vorkommenden Mieterinnen möchte sie nicht öffentlich mit ihrem richtigen Namen auftreten. Bis sie in eine Übergangswohnung im Nachbarhaus ziehen kann, wird sie den Baustellenlärm durch den Alltag begleiten. 

Seit sieben Jahren wohnt Fiechter zusammen mit ihrem Partner in einer 3-Zimmer-Wohnung im Heiligfeld I in Wiedikon. Dass die insgesamt 14 Häuser früher oder später saniert würden, habe man ihnen bereits bei der Besichtigung mitgeteilt, so die Mieterin. In den Wohnungen mit Baujahr 1948 wird noch immer mit Holz geheizt, beim Spülbecken im Bad gibt es kein Warmwasser.

Nun soll die Siedlung eine Generalüberholung erhalten. Über zwei Jahre werden die Bauarbeiten laut der Stadt dauern. Doch anders als bei vielen privaten Eigentümer:innen, die Leerkündigungen bevorzugen, kann ein Teil der langjährigen Mieter:innen im Heiligfeld bleiben. Dafür sorgt das sogenannte Rochadeverfahren, bei dem die Bewohner:innen vorübergehend in eine Ersatzwohnung umziehen.

Eine Monsteraufgabe für die Stadt, «ein Riesenglück» für Menschen wie Susanne Fiechter, wie sie sagt.

750 Franken für drei Zimmer

Fiechter ist 42 Jahre alt und als selbstständige Grafikerin auf günstigen Wohnraum angewiesen. «Auf dem freien Markt hätten wir mit unserem Einkommen keine Chance.» Nur 750 Franken pro Monat bezahlt das Paar für die drei Zimmer – zusammen, nicht pro Person. Sie scheue es, den Mietzins öffentlich zu nennen, denn ihr sei durchaus bewusst, dass er nicht marktüblich ist, so Fiechter.

Deshalb findet sie die geplante Erhöhung nach der Sanierung gerechtfertigt. 1350 Franken monatlich werden die beiden Mieter:innen für ihre Wohnung im 3. Stock künftig bezahlen. 

Wie genau der neue Grundriss aussehen wird, wissen sie noch nicht. Klar ist aber: Der Holzofen kommt raus, die Fernwärme kommt rein. Photovoltaikanlagen auf den Dächern sollen Strom liefern und neue Fenster Energie sparen. Äusserlich wie innerlich soll die Siedlung ihren Charakter behalten. So will es der Denkmalschutz.

Siedlung sollte Wohnungsnot lindern

Vergangenen Sommer kommunizierte die Stadt, dass sie die Siedlung aus der Nachkriegszeit sozialverträglich sanieren will. 42,5 Millionen Franken kostet das Unterfangen. Die insgesamt 112 Wohnungen und drei Kunstateliers befänden sich in einem schlechten Zustand, so das Argument. Fast 80 Jahre haben die Gebäude auf dem Buckel. 

  • In der Siedlung leben noch immer viele Kinder – das soll nach den Plänen der Stadt auch so bleiben. (Bild: Isabel Brun)

  • Neben den Umbauarbeiten nimmt das Leben seinen Lauf. (Bild: Isabel Brun)

  • Ein Dorf in der Stadt: Viele der langjährigen Mieter:innen kennen sich. (Bild: Isabel Brun)

Gebaut wurden sie zu einer Zeit, in der die Leerwohnungsziffer um einiges tiefer lag als heute. Am Stichtag im Jahr 1947 standen laut dem Statistischen Amt in Zürich lediglich 20 Wohnungen leer. Während des Zweiten Weltkriegs kam die Bautätigkeit beinahe zum Erliegen; Baumaterial war teuer, Arbeitskräfte waren rar. Entsprechend gross war die Wohnungsnot. 

Mit den drei Überbauungen Heiligfeld I, II und III versuchte die Stadt, das Problem in den Griff zu bekommen und erstellte im Gebiet zwischen dem Friedhof Sihlfeld und Letzigrund fast 350 kostengünstige Wohnungen.

Während das Heiligfeld III 1955 als die ersten Wohnhochhäuser der Stadt Zürich in die Geschichte eingingen, wurden die Wohnbauten im Heiligfeld I und II vor allem auf Familien ausgerichtet.

Wohnkolonie Heiligfeld
Das Areal Heiligfeld anno 1950 mit den gleichnamigen Neubau-Siedlungen Heiligfeld I und Heiligfeld II im Hintergrund und Heiligfeld III neben der Tramstation. (Bild: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Comet Photo AG)

Dabei setzte die Bauherrschaft auf einen modernen Ausbaustandard: Waschmaschinen, elektrische Herde und Wasserboiler sollten Frauen, die damals aufgrund der wirtschaftlich prekären Lage berufstätig wurden, die Hausarbeit erleichtern. Die parkähnliche Umgebung lädt bis heute zum Verweilen ein. Eine «Pioniersiedlung», die aufgrund architektonischer und städtebaulicher Grundsätze der damaligen Zeit seit 2018 denkmalgeschützt ist.

Alleinstehende müssen wegziehen

Auch als Marie Knoll Mitte der 80er-Jahre mit ihrem Sohn in die Siedlung zog, sei ein Grossteil der Mieter:innen Frauen gewesen, erinnert sie sich. Dafür verantwortlich war unter anderem die erste Zürcher Stadträtin Emilie Lieberherr. Sie forderte damals mehr bezahlbaren Wohnraum für alleinerziehende Mütter. 

40 Jahre lang lebte Knoll an der Brahmsstrasse. Eine Ära, die durch die Sanierung ein jähes Ende fand. Da sie nach dem Auszug ihres inzwischen erwachsenen Sohnes allein in einer 3-Zimmer-Wohnung wohnte, konnte die Stadt ihren Mietvertrag nicht verlängern. Dafür sorgen die neuen Belegungsvorschriften; als Einzelperson steht ihr maximal eine 2.5-Zimmer-Wohnung zu. 

«Ich bin nicht nur mit den Menschen im Heiligfeld, sondern auch mit dem Quartier eng verbunden.»

Marie Knoll, ehemalige Mieterin

Deshalb wohnt Knoll mittlerweile an der Grimselstrasse. Die Stadt hat ihr diese Wohnung als Alternative nach der Kündigung vorgeschlagen. Keine Nettigkeit: Muss eine Mietpartei aufgrund einer Unterbelegung ausziehen, ist die Stadt dazu verpflichtet, mindestens zwei ähnliche Ersatzwohnungen anzubieten. 

Knoll kann die Gründe der Stadt zwar nachvollziehen, trotzdem habe der Wegzug aus dem Heiligfeld geschmerzt. «Ich bin nicht nur mit den Menschen dort, sondern auch mit dem Quartier eng verbunden», so die 79-Jährige. Sie beschreibt es als ein Dorf in der Stadt, einen Mikrokosmos.

Dass alle alleinstehenden Mieter:innen ausziehen müssen, werfe in ihrem Umfeld Fragen auf: Warum hat die Stadt den Wohnungsmix im Zuge der Sanierung nicht angepasst?

Mieter:innenfreundlich, aber teuer

Grund dafür ist laut Kornel Ringli von Liegenschaften Stadt Zürich der Denkmalschutz, der grössere Anpassungen von Grundrissen verunmöglicht. Die Stadt sei sich darüber bewusst, dass der Abschied von der langjährigen, vertrauten Wohnumgebung für Menschen wie Marie Knoll schwierig ist.

Vermeiden liessen sich solche Umsiedlungen jedoch auch bei mieter:innenfreundlichen Sanierungen nicht, so Ringli. Insgesamt neun Personen müssten die Siedlung deshalb bis spätestens Ende August verlassen.

Gleichzeitig könnten durch die etappierte Bauweise und das Rochadeverfahren über 50 Mieter:innen im Heiligfeld bleiben. Für die Stadt Argument genug, den Mehraufwand sowie die Mehrkosten zu tragen, die dadurch entstehen.

  • Im Treppenhaus verrät ein Plan den Ablauf des Umbaus. (Bild: Isabel Brun)

  • Wohnen auf der Baustelle: Einige Arbeiten finden im bewohnten Zustand statt. (Bild: Isabel Brun)

  • Über 80 Jahre wurde in den Wohnungen mit Einzelöfen geheizt. Dies sorgte in der jüngsten Vergangenheit auch für Kritik. (Bild: Isabel Brun)

Wie viel teurer das Vorgehen im Vergleich zu einer Leerkündigung ist, darüber kann Ringli keine Auskunft geben. Die Aufwände seien nicht «quantifizierbar». Da dadurch jedoch die Mieterschaft weitgehend erhalten und die soziale Durchmischung im Quartier gefördert werden könne, lohne sich diese Lösung. 

Solche Umbauprojekte setzt die Stadt schon seit längerem immer wieder um, zuletzt bei den Wohnsiedlungen Bullingerhof im Kreis 4 und Birkenhof im Kreis 6 gemacht – bei beiden setzten die Verantwortlichen auf eine Sanierung im Bestand.

Dabei sei man auch auf die Unterstützung von verschiedenen Organisationen wie dem Jugendwohnnetz Juwo oder der Asylorganisation Zürich angewiesen, welche einen Teil der Wohnungen befristet untervermieten. Nur so könnte die Stadt jene Mieter:innen, die nach der Sanierung bleiben wollen, während des Umbaus in eine andere Wohneinheit umplatzieren, erklärt der Medienverantwortliche.

Entsprechend früh begann die Stadt mit der Planung und Kommunikation: Bereits als 2019 die Gebäude analysiert wurden, informierte die Stadt die Bewohner:innen per Brief über die Zukunft der Siedlung.

«Die Leute klagen auf hohem Niveau»

Die Stadt habe ihren Job gut gemacht, findet Luisa Mijatov. Wie Marie Knoll zog auch sie Mitte der 80er-Jahre ins Heiligfeld. Weil Mijatov ihre 3-Zimmer-Wohnung im Hochparterre gemeinsam mit ihrem Partner teilt, wird sie nach dem Umbau wieder zurückkommen können.

Luisa Mijatov steht eine aufregende Zeit bevor: Im August wird sie für drei Monate in eine Rochadewohnung ziehen. (Bild: Isabel Brun)

Gegenüber der Stadt hegt Mijatov positive Gefühle. «Ich bin unglaublich dankbar, hier ein Zuhause zu haben, in dem ich so lange gelebt habe und alt werden darf.» Dieses Glück schätzen ihrer Ansicht nach nicht alle ihrer Nachbar:innen. So habe es an einer Infoveranstaltung zur geplanten Sanierung und dem Rochadeverfahren auch Stimmen gegeben, welche die Stadt kritisiert und Extrawünsche angebracht hätten. «Die Leute klagen auf hohem Niveau», sagt Mijatov.

Sie selbst werde den Holzofen, den vertrauten Geruch nach Rauch und die tägliche Heizroutine irgendwie vermissen, sagt sie. Aber sie verstehe auch, dass eine Renovation absolut notwendig sei und freue sich, nachher in einer modernen Wohnung zu leben.

Im Wohnbrief vom 13. Mai findest du News und Tipps zu Wohnthemen in Zürich.

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2024-02-27 Isabel Brun Redaktorin Tsüri

Ausbildung zur tiermedizinischen Praxisassistentin bei der Tierklinik Obergrund Luzern. Danach zweiter Bildungsweg via Kommunikationsstudium an der ZHAW. Praktikum bei Tsüri.ch 2019, dabei das Herz an den Lokaljournalismus verloren und in Zürich geblieben. Seit Anfang 2025 in der Rolle als Redaktionsleiterin. Zudem Teilzeit im Sozialmarketing bei Interprise angestellt.  

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