50 Jahre Paranoia City – «Dieser Buchladen ist ein politischer Ort»

Der Zürcher Buchladen Paranoia City steht seit 1975 für linke Literatur. Mithilfe eines Crowdfundings soll sich nun einiges ändern. Ein Gespräch mit Margot Ortiz und Melina Korros über neue Regale, intersektionale Perspektiven und die Rückkehr des Verlags.

Paranoia City
Am 5. Juli schmeissen Melina Korros (links) und Margot Ortiz von Paranoia City eine Jubiläumsfeier im Helsinki Klub. (Bild: Sophie Wagner)

Seit einem halben Jahrhundert ist die Buchhandlung «Paranoia City» an der Ankerstrasse ein Fixpunkt für linke, widerständige Literatur. Auch der gleichnamige Verlag ist ein wichtiger Teil dieser Geschichte.

Er wurde 1975 von Tommy Geiger ins Leben gerufen, der den Laden über 45 Jahre mitprägte. Zwischen 15 und 20 Bücher brachte der Verlag heraus, darunter den Klassiker «bolo’bolo» von P.M..

Seit fünf Jahren führt ein neues Kollektiv den Buchladen: Melina Korros, Margot Ortiz und Auline Sanchez. Die jungen Frauen planen nicht nur eine bauliche und strukturelle Erneuerung der Buchhandlung, sondern wollen auch den Verlagsbetrieb wieder aufnehmen. Für ihr Projekt sammeln sie nun 100'000 Franken – je 50'000 Franken für den Laden und den Verlag. 

Sophie Wagner: Sie möchten die Buchhandlung neu gestalten und den Paranoia City Verlag wiederbeleben. Dafür sammeln Sie Geld. Trotzdem haben Sie sich mit dem Gedanken an ein Crowdfunding anfangs schwergetan. Warum?

Melina Korros: Ich kenne Geldsammeln vor allem aus dem politischen Kontext. Aus dem Aktivismus. Ein Buchladen wirkt da im ersten Moment nicht dazu berechtigt. Ganz lange dachte ich: Wenn ich nicht explizit aktivistisch arbeite, ist es keine politische Arbeit.

Bis ich gemerkt habe: Dieser Laden ist ein politischer Ort. Paranoia City ist eine kleine Buchhandlung, die keinen Profit erwirtschaftet und genau deshalb fehlen uns die Mittel für nötige Investitionen. Es ist vollkommen legitim, auch dafür Unterstützung zu suchen.

Sie wollen bis zum 14. Juli 100'000 Franken sammeln. Was machen Sie mit dem Geld?

Margot Ortiz: Paranoia war früher ein Wein- und Buchgeschäft. Deshalb haben wir heute noch Regale, die ursprünglich auf die Höhe von Weinflaschen ausgelegt sind. Das nimmt uns viel Raum, der eigentlich für Bücher genutzt werden könnte. 

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Zugänglichkeit. Der Laden wird aufgrund der Infrastruktur wie beispielsweise der Toiletten nie komplett rollstuhlgängig sein, aber wir wollen ihn so zugänglich wie möglich umgestalten. Geplant ist eine neue, bessere Rampe für den Eingang und eine kleine Rampe im Innenraum, um den Zugang zu erleichtern.

Korros: Ausserdem arbeiten wir aktuell noch mit einem sehr aufwendigen System zur Buchbestellung und -verwaltung. Andere Buchhandlungen nutzen dafür spezielle Software, die viel effizienter ist. 

Neben den räumlichen und technischen Änderungen: Wird sich auch das Sortiment weiterentwickeln?

Ortiz: Das Sortiment ist wie Paranoia City eine Geschichte im Wandel. Die Kontinuität ist, dass es ein links ausgerichteter Buchladen ist, ein Teil einer linken, zum Teil auch linksautonomen Bewegung. Tomi Geiger, einer der Gründer, hatte seine Schwerpunktthemen und Klassiker. Als wir vor fünf Jahren die Leitung übernahmen, haben wir jedoch neue Fokusthemen gesetzt und Augenmerk auf Neuerscheinungen gelegt.

«Wir sind sehr bemüht, auch Leute anzusprechen, die nicht privilegiert aufgewachsen sind.»

Melina Korros

Korros: Viele verbinden uns inzwischen mit queer-feministischer Literatur – was zwar stimmt, aber unser Anspruch geht darüber hinaus.

Ortiz: Bücher zu sozialer Gerechtigkeit, trifft es besser. Wir haben den Anspruch auf ein intersektionales Sortiment.

Und wer kauft heute bei Ihnen ein – hat sich Ihre Kundschaft mit dem Angebot verändert?

Ortiz: Die Kundschaft ist breiter geworden. Anfangs kamen vor allem Leute, die wir kannten. Das ist nicht mehr so, es kommen ganz viele andere auch. 

Korros: Wir sind sehr bemüht, auch Leute anzusprechen, die nicht schon sehr vernetzt oder privilegiert aufgewachsen sind. Das versuchen wir beim Sortiment mit Einführungstexten und einfach zugänglichen Büchern, aber auch bei Veranstaltungen, indem wir niederschwellig sind und keinen festen Eintrittspreis verlangen.

Die anderen 50’000 Franken des Crowdfundings sind für den Paranoia City Verlag bestimmt. In Zürich gibt es doch bereits unzählige Verlage.

Korros: Es gibt kaum einen dezidiert linken Verlag in der Deutschschweiz, der so konsequent feministisch, intersektional und antikapitalistisch ausgerichtet ist. Viele wichtige Texte erscheinen nur im Ausland oder auf Englisch. Unser Verlag will da eine Lücke schliessen.

Nach welchen Kriterien wählen Sie Autor:innen und Themen aus?

Ortiz: Das Verlagsteam entscheidet gemeinsam. Es gibt keine festgelegte Liste, aber einen klaren Anspruch: feministisch, antirassistisch, kritisch gegenüber Machtstrukturen. Wenn jemand für ein Projekt brennt und es ins Konzept passt, stehen die Türen offen. Gleichzeitig ist es kein Wohlfühlverlag. Widerspruch ist erlaubt – auch inhaltlich.

Können Sie schon sagen, welche literarische Werke den Neuanfang prägen sollen? 

Korros: Ja, im Herbst erscheinen gleich vier Buchprojekte. Michelle Steinbeck und Marina Galli übersetzen die politischen Liebesbriefe der jüdisch-russischen Revolutionärin Anna Kuliscioff. Pipo überträgt die Erinnerungen der französischen Anarchistin und Sanitäterin Victorine Brocher an die Pariser Kommune ins Deutsche. 

Der Roman von Trailor Sparks erzählt von queerem Begehren und kollektivem Leben in Zeiten von Faschisierung und drohendem Klimakollaps. Und Ana Pinto und Nazaret Castro berichten in ihrem Buch von den miserablen Arbeitsbedingungen auf den Feldern Südspaniens – und machen Vorschläge für alternative Landwirtschaftsmodelle.

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Sophie Wagner

Ausbildung als Polygrafin EFZ an der Schule für Gestaltung in Bern und aktuelle Studentin Kommunikation mit Vertiefung in Journalismus an der ZHAW Winterthur. Einstieg in den Journalismus als Abenddienstmitarbeiterin am Newsdesk vom Tages-Anzeiger, als Praktikantin bei Monopol in Berlin und als freie Autorin beim Winterthurer Kulturmagazin Coucou. Seit März 2025 als Praktikantin bei Tsüri.ch

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