Alt-Gemeinderat Matthias Probst: «Niemand trägt mehr eine Krawatte»

Knapp zwei Jahrzehnte sass Matthias Probst (Grüne) im Gemeinderat. Original für die einen und Reizfigur für die anderen. Jetzt hat er den Ratssaal mit dem Bauernhof getauscht. Ein Portrait.

Matthias Probst Gemeinderat
Aus dem Grünen Politiker Matthias Probst wurde ein Landwirt. (Bild: Nina Graf)

Kommt das Gespräch auf Matthias Probst, geht es schnell um ein Thema, das bei weiblichen Politiker:innen heute Tabu ist: die Kleidung.

Seine Uniform als Grünen Gemeinderat war 19 Jahre lang dieselbe: T-Shirt, Cargohose und Pferdeschwanz.

In einem Plenum, wo die Mehrzahl der Anwesenden Bluse oder Hemd trägt, war Probsts Auftritt Provokation – in Kleidung und Auftreten.

Als «grüne Reizfigur» bezeichnete ihn einst der Tages-Anzeiger.

Diesen Sommer ist er nach knapp zwei Jahrzehnten aus dem Parlament zurückgetreten – und mit der Familie auf einen Bauernhof gezogen. Was macht der Provokateur aus der Stadt in der Landidylle? Eine Nachforschung im Zürcher Oberland.

Nackt vor der Wache, im Tanktop auf dem Bock

Zuerst die Vorgeschichte: Matthias Probst war 24, als er für die Grünen im Kreis 11 in den Gemeinderat gewählt wurde. Schon sein Einstand in die Politik sorgte für Schlagzeilen: 2007 war er einer der Jungen Grünen, neben Aline Trede und Bastien Girod, die sich aus Protest gegen die Leibesvisitationen der Stadtpolizei nackt vor der Wache präsentierten.

In der Diskussion im Gemeinderat teilte er aus und ab Aussagen wie «nur ein toter Parkplatz ist ein guter Parkplatz» pochte die bürgerliche Halsschlagader.

In den letzten zwei Jahrzehnten setzte er sich ein für Gratisveloabstellplätze am HB, flexible Parkplatzgebühren in der Innenstadt, eine Einschränkung von Flugreisen der städtischen Angestellten und dass die Josefstrasse zur Haupt-Velo-Achse wird.

Geblieben ist auch der Moment, als er bei seiner letzten Sitzung als Gemeinderatspräsident das Hemd auszog und im Tanktop durch die Traktanden führte.

Beim Besuch in seinem neuen Zuhause wirkt die «Reizfigur» entspannt.

Vom Rathaus auf den Bauernhof 

Im Juni zog er mit seiner Lebenspartnerin und den zwei kleinen Töchtern auf den Bauernhof in Hittnau im Zürcher Oberland, wo einst seine Grosseltern lebten. Grüne Wiesen, viel Umschwung, vom Stall aus reicht der Blick bis zum Pfäffikersee.

Hier fügt sich seine Uniform in die Umgebung ein. Probst, 42 Jahre, Umweltwissenschaftler trägt eine Allzweck-Arbeitshose und ein verwaschenes, oranges T-Shirt. Darauf steht: Ik ben Gesloopt – «Ich bin fertig, ich bin erschöpft».

Gerade hat er noch am Umbau des Nebenhauses gearbeitet. Jetzt lehnt sich Probst auf dem Gartenstuhl zurück und wiegelt ab. Klar provoziere er ab und an, doch das gehöre zum politischen Geschäft. 

Probst wuchs im Zürcher Oberland auf und zog fürs Studium nach Zürich. Ob er diesen konfrontativen Charakterzug schon immer gehabt habe, das könne er nicht mehr sagen. «Vermutlich kam das mit dem Amt.»

Matthias Probst Gemeinderat
Das neue Zuhause von Probst liegt im Grünen und hat Platz für einen Gemüsegarten. (Bild: Nina Graf)

Wenn Probst über seine Ideen für die Stadtentwicklung, die Landwirtschaft, die Gesellschaft spricht, ist er ein selbstbewusster Verkäufer.

Für Probst ist klar: Die Städte der Zukunft sind autofrei. Dass Kanton und Bund dagegenhalten und den Gemeinden Kompetenzen entziehen, bereitet ihm keine Sorgen. Er verweist auf Richterswil oder Rüschlikon, Orte ausserhalb der Grossstadt, die vermehrt Tempo 30 einführen.

Probsts Vision der Gesellschaft ist eine, in der alle einer erfüllenden Arbeit nachgehen können. Während andere den Einsatz von künstlicher Intelligenz mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit verbinden, sieht er darin die Chance, dass dadurch «Bullshit-Jobs» verschwinden und ein bedingungsloses Grundeinkommen möglich wird.

Der Tonfall ist ruhig, die Forderungen lassen aber nicht viel Raum für Alternativen. Dass er damit aneckt, kann man sich vorstellen.

Berufsjugendlicher oder Scharfmacher 

Für Markus Kunz, ehemaliger Gemeinderat und Präsident der Grünen Stadt Zürich, ist Probst «eine Mischung aus Berufs-Jugendlichem und Politprofi». Er könne die Leute an die Wand reden, Mehrheiten schaffen und habe ständig neue Ideen: «Neunzig Prozent sind Schrott, die anderen zehn genial.»

2020 wurde Matthias Probst Vize-Präsident des Parlaments. Als er zwei Jahre später das Gemeinderatspräsidium übernehmen wollte, sorgte das für einen Aufschrei. So einer könne nicht den Vorsitz haben, liessen sich bürgerliche Politiker:innen in den Medien zitieren. Und auch ein paar Linke hätten sich an Kunz, damals Fraktionspräsident, gewendet, mit der Sorge, der Grüne sei «nicht präsidial».

Probsts Wahlresultat als Gemeinderatspräsident war das schlechteste der letzten 70 Jahre. Kunz sagt dazu: «Nach seiner Amtszeit hätte er wohl einige Stimmen mehr erhalten.»

FDP-Gemeinderat Michael Schmid sagt: «Vermutlich waren einige erstaunt, dass er, für viele ein Scharfmacher am linken Rand der Grünen, seine polemisierende Art auch zurückstecken kann.»

Schmid ist Mitglied in der Geschäftsprüfungskomission (GPK) des Gemeinderats, der Probst zweimal vorsass. «Charakteristisch für Matthias Probst ist, dass er in der Debatte kräftig austeilt. Dann aber als GPK-Präsident ein sehr gutes Rollenverständnis aufwies und bedacht war, dass alle ihre Sicht einbringen konnten.»

Garten Gemüse
Probst setzt auf Gemüse und Reben, die Tierhaltung überlässt er anderen. (Bild: Nina Graf)

Für die Bürgerlichen sei das Ratspräsidium noch eng mit Würde verbunden, sagt Probst. «Für sie war es undenkbar, dass einer, der so wenig auf Äusserlichkeiten gibt, auf dem Bock sitzt und Zürich vertritt.» Dabei hätten sie aber vergessen, dass das Parlament aus Volksvertreter:innen besteht, und auch entsprechend aussehe. 

Probst ist Vorstandsmitglied der Genossenschaft «Mehr als Wohnen», im Vorstand von Pro Velo Kanton Züri und Mitgründer einer Initiative für solidarische Landwirtschaft. In seinem Umfeld rede man über Überkonsum, statt Modetrends, sagt Probst. «Und sowieso: Niemand trägt mehr eine Krawatte.»

Als junger Politiker habe auch er in «richtig/falsch»-Kategorien gedacht, sagt dazu Probst. Heute störe ihn, dass die Linke die Gegenseite oft ignoriere: «So wie in Zürich politisiert wird, könnte Rechts-Bürgerlich auch zuhause bleiben.» Doch wer langfristige Lösungen suche, müsse auch mit Andersdenkenden diskutieren und sie mitnehmen. Sonst verliere man sie ganz und «dann droht spätestens auf kantonaler Ebene die bürgerliche Gegenreaktion».

Versöhnliche Töne, die fast wie Amtsmüdigkeit klingen. Müde sei er nicht, sagt Probst. Doch es sei an der Zeit gewesen, Neues auszuprobieren.  Also wird der selbstständige Umweltberater jetzt Landwirt.

Bauernhof als Gemeinschaftsprojekt

Noch sind die neun Hektaren Land, die zum Betrieb gehören, verpachtet. In drei Jahren will Probst sie selbst bewirtschaften. 

In seiner Zeit als Gemeinderat forderte Probst, dass die städtischen Landwirtschaftsbetriebe bis 2035 klimaneutral werden – woraufhin Bäuer:innen fürchteten, man nehme ihnen die Kühe weg. Er selber wolle keine Tiere besitzen, sagt Probst. «Aber falls sich jemand am Betrieb beteiligen will, der beispielsweise Schafe züchtet, wäre das schön.»

Zum Bauernhof gehören zwei weitere Wohnungen. In eine ziehen die Eltern von Probst, für die andere suchen sie noch Mieter:innen. Im Haupthaus wohnen bereits heute schon zwei Mitbewohner:innen. Ziel sei es, hier eine Gemeinschaft aufzubauen, «sonst wird es ja langweilig».

Als Einnahmequelle schwebt Probst Weinbau vor; die nötige Ausbildung hat er bereits abgeschlossen. In einer Art Reben-Patenschaft sollen Interessierte für einen Jahresbeitrag Wein aus ‹ihren› Reben bekommen.

Auch zeigt sich Probst unbeirrbar in seiner Vision. Sicher ist: Hier sagt ihm niemand, er soll ein Hemd anziehen.

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nina

Aufgewachsen am linken Zürichseeufer, Studium der Geschichte, Literatur- und Medienwissenschaft an den Universitäten Freiburg (CH) und Basel. Sie machte ein Praktikum beim SRF Kassensturz und begann während dem Studium als Journalistin bei der Zürichsee-Zeitung. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin untersuchte sie Innovationen im Lokaljournalismus in einem SNF-Forschungsprojekt, wechselte dann von der Forschung in die Praxis und ist seit 2021 Mitglied der Geschäftsleitung von We.Publish. Seit 2023 schreibt Nina als Redaktorin für Tsüri.ch.

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