Verwaltung des Kantons will Menschen mit Behinderungen stärker einbeziehen
Der Kanton Zürich will, dass Menschen mit Behinderungen künftig noch besser integriert werden. Wie dies gelingen kann, sollen Mitarbeitende der Verwaltung in sogenannten Partizipationsseminaren lernen.
Dieser Beitrag wurde von einer Autorin der Organisation «Reporter:innen ohne Barrieren» realisiert. Das Projekt wurde 2021 ins Leben gerufen, um die Medienlandschaft inklusiver zu gestalten und das Bewusstsein für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu stärken.
Der Kanton Zürich will die Behindertenrechte aus der UNO-Behindertenrechtskonvention mit einem umfassenden Aktionsplan umsetzen. Dazu gehört auch, Menschen mit Behinderungen ins Handeln der Verwaltung mitzudenken und sie als mögliche Arbeitnehmende, Nutzende von Dienstleistungen oder Kooperationspartner:innen miteinzubeziehen.
Gemeinsam mit der Behindertenkonferenz Kanton Zürich BKZ lanciert das kantonale Sozialamt ein neues Projekt. In Partizipationsseminaren können Verwaltungsangestellte lernen, was beim Einbezug von Menschen mit Behinderungen wichtig ist und wie er in der Praxis gelingen kann.
Situationen, in denen Menschen mit Behinderungen mit Behörden in Berührung kommen, sind zahlreich: Da gibt es beispielsweise die Dozentin mit einer Sehbehinderung: Sie benötigt Unterstützung zur Bedienung der Technik im Hörsaal, die üblichen Touchscreens kann sie nicht lesen.
Ein Rechtsexperte mit einer Hörbehinderung will an einer Veranstaltung des Kantons teilnehmen: Erhält er Zugang zu den mündlich vorgetragenen Informationen?
Eine junge Frau mit einer Lernbehinderung sucht auf der Website des Kantons nach einem Formular: Wie findet sie das Gesuchte, ohne sich auf der Website zu verlieren?
Diesen Aspekten wurde in der Vergangenheit wenig Rechnung getragen. Nicht zuletzt, weil Menschen mit Behinderungen in der Politik, als Mitarbeitende und bei Entscheidungsprozessen des Kantons unterrepräsentiert sind. Mit der Folge, dass Betroffene viele Dienste der Verwaltungen gar nicht oder nur mit Unterstützung und viel Zusatzaufwand nutzen können.
Fehlendes Wissen in der Verwaltung
Bei den nun lancierten Seminaren ist Matyas Sagi-Kiss Dozent. Der Jurist und SP-Politiker, erklärt den Zweck von Partizipation: «Verwaltungen haben oft wenig Praxiswissen, wenn es um den konkreten Alltag von Menschen mit Behinderungen geht. Wenn sie dann ohne deren Einbezug einen Spielplatz, eine Website oder Prozesse planen, ist die Gefahr gross, dass das Resultat am Ende gar nicht, oder nur für einen Teil der Betroffenen zugänglich ist. Dann kommt bei allen Beteiligten viel Frustration auf.»
«Wir hören immer wieder von Unsicherheiten und Irritationen auf beiden Seiten.»
Saphir Ben Dakon, Inklusionsexpertin
Ein früher, systematischer Einbezug von Betroffenen führe hingegen zu qualitativ besseren Lösungen. Ausserdem würden die Ressourcen des Kantons geschont, wenn es keine nachträglichen Korrekturen brauche.
Seine Kollegin Saphir Ben Dakon, Inklusions- und Kommunikationsexpertin, ergänzt: «Obwohl der Kanton und die Gemeinden schon länger Massnahmen zum Einbezug von Menschen mit Behinderungen kennen, hören wir immer wieder von Unsicherheiten und Irritationen auf beiden Seiten.» Verwaltungsangestellte wüssten oft nicht, wie ein Einbezug konkret funktioniere und fühlten sich mitunter hilflos. Menschen mit Behinderungen hingegen seien zu Recht irritiert darüber, dass sie gewisse Dinge immer wieder neu erklären müssten.
Ben Dakon führt aus: «Mit den Seminaren wollen wir die Mitarbeitenden des Kantons bei der konkreten Ausgestaltung der Partizipation unterstützen. Sie zum Beispiel über verschiedene Formen und Möglichkeiten der Teilhabe aufklären.»
Als Grundlage für die Seminare nutzen die beiden einen speziellen Leitfaden. Diesen haben sie gemeinsam mit zwei weiteren Fachexpert:innen konzipiert und mit weiteren Personen gespiegelt.
In den Praxisseminaren soll der Leitfaden nun auf seine Benutzerfreundlichkeit geprüft und gemäss den Bedürfnissen der Verwaltungsangestellten angepasst werden. Er soll nicht nur als Lehrmittel, sondern auch als Nachschlagewerk dienen, wenn Verwaltungsangestellte einen Einbezug von Menschen mit Behinderungen planen.
Erfolgreiches Beispiel: Website des Kantons Zürich
Die Stelle in der Verwaltung, welche die Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderungen bereits seit einigen Jahren erfolgreich durchführt, ist die Abteilung für Digitale Verwaltungskommunikation unter Roger Zedi. Er ist der zentrale Ansprechpartner für die Website des Kantons und auch verantwortlich für deren Barrierefreiheit.
Es sind vor allem Menschen mit Seh-, Hör- und Lernbehinderungen, denen der Zugang zu Informationen auf Websiten erschwert ist. Auch sind deren Anforderungen an eine Website unterschiedlich: Menschen mit Hörbehinderung hilft es, genügend Bilder zu haben.
Hingegen können Menschen mit einer Sehbehinderung mit visuellen Informationen nicht viel anfangen. Sie benötigen ausserdem barrierefreie Dokumente, die der Screenreader, ein Programm, das Texte laut vorliest oder in Braille-Schrift übersetzt, lesen kann. Menschen mit einer Lernbehinderung wiederum profitieren davon, wenn die zentralen Botschaften leicht auffindbar und verständlich sind und nicht zu viele Inhalte angezeigt werden.
Als es vor einigen Jahren darum ging, die ganze Webauftritt des Kantons neu zu gestalten, wusste Zedi nicht, wie er vorgehen konnte: «Wir hatten zwar eine technische Mängelliste, die aufgezeigt hat, welche Aspekte der Website noch nicht barrierefrei waren, aber es fiel uns schwer herauszufinden, wie wir die einzelnen Mängel gewichten müssen, also welche relevant und welche weniger relevant sind. Wir merkten: Ohne Menschen mit Behinderungen können wir unseren Job nicht richtig machen.»
Daraufhin lud Roger Zedi ein bis zwei Personen pro Behinderungsart zu einem runden Tisch ein. Später ging seine Abteilung dazu über, Sitzungen nach Behinderungsart getrennt durchzuführen. Der Erfolg sei rasch spürbar gewesen: «Menschen mit Behinderungen können wertvolles Praxis-Wissen mit uns teilen und uns damit die Arbeit massiv erleichtern.» Die Zusammenarbeit bestehe deshalb bis heute.
Die Barrierefreiheit einer Website ist aber keine einmalige Sache, sondern ein langfristiges Projekt, das in immer neuen Teilschritten umgesetzt wird. So sollen 2025 beispielsweise mehr Videos in Gebärdensprache auf der Website integriert werden
Etwas ist Roger Zedi dabei besonders wichtig zu erwähnen: «Menschen mit Behinderungen arbeiten nicht gratis für uns. Für die Zusammenarbeit gibt es einen Vertrag. Die Tätigkeit ist ein Zusatzaufwand, den man nicht einfach in seiner Freizeit leisten soll.»
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