Winterrede Anna Auguste Penninger: «Es geht weniger ums Besitzen und mehr ums Miteinander»
Das Debattierhaus Karl der Grosse lädt auch dieses Jahr wieder zu den «Winterreden» ein. Verstummt der Glockenschlag des Grossmünsters um 18 Uhr, beginnt vom 15. bis 26. Januar 2024 eine Winterrede. Du hast die Winterrede verpasst? Bei uns kannst du sie nachlesen!
Hier geht's zum weiteren Programm.
Rede: Anna Auguste Penninger
Der Stadtraum, unendliche Weiten.
Wir schreiben das Jahr 2010. Dies sind die Abenteuer meines Raumschiffs, das mit einer eine Frau starken Besatzung jahrelang unterwegs ist, um neue Städte zu erforschen und neues Leben und neue Zivilisationen.
Mein Raumschiff flog immer. Da mein Job bei einem Technologiekonzern den Kurs bestimmte, war ich lange in dem, was man auch «Fliegendes Büro» nennt – ich reiste von Stadt zu Stadt. In Barcelona, Dubai, München, Rom, New York, Vegas, Toyko: Dort verbrachte ich einige Wochen oder Tage am Stück, aber ich war nie dort zuhause. Sie könnten sagen, das war eher wie ein Flirt mit Stadt-Partnern, nicht wie eine Ehe. Und nun ist es anders: Ich lande – bin gelandet. Ich nehme sie heute mit, 15 Minuten lang, auf meine Reise und erzähle, wo ich aus der Welt ankam, und ein bisschen, wie sich die Welt in die Stadt spiegelt.
Die Stadt erschien mir vor 13 Jahren als ein aufregender, auch gefährlicher Ort. In eine fremde Stadt zu ziehen, allein, weg vom elterlichen Eigenheim, klingt trivial – könnte aber das erste Kapitel in einem Science-Fiction-Roman sein.
Obwohl ich viele Orte in der Welt bereist hatte, war ich, vom Land kommend, nie wirklich in der Stadt zuhause. Da, woher ich komme, sieht es so aus: Duftende Blumen in einer Streuobstwiese, angrenzender Nadelwald, 300 Quadratmeter Wohnfläche mit Grosseltern zusammen. Im Sommer Botcha und Birnen, im Winter Süssmost und Sauerkraut, im Frühjahr Tulpen und Tau, im Herbst Äpfel – und bei Fön sogar Alpenblick. Das liegt alles hinter dem Mond, könnte man meinen, nichtsdestotrotz, das war Identität. Da war die Family, der Sitz und Be-Sitz derer, die Jahrhunderte vorher schon da gelebt haben. Mit Familienwappen, Land und Leuten, Glauben und einer ganzen Geschichte.
Und jetzt bin ich daraus ausgewandert. 2019, während meines Doktorats, zog ich nach einigen Jahren Space-Odyssee wirklich an einen Ort: Nach Züri.
Ich habe einen Parkplatz, also eine Wohnung, wo mein Raumschiff gelandet ist. Und seitdem beschäftige ich mich damit, mit diesem Ankommen, mit dieser Identität: Städter. In einer Stadt am Fluss lebe ich 2019 zum ersten Mal in einer wirklich eingerichteten Wohnung, nicht aus dem Koffer, und sollte ein Leben aufbauen. Und eine neue Identität finden. Das hat sich am Anfang angefühlt, als sei ich gestrandet. Der Auto-Pilot Karriere war aus, ich hatte das Raumschiff auf manuelle Steuerung gestellt, und ein neues Kapitel auf einem neuen Planeten begann. Weil ich allein in die Raum-… äh, Stadtstation ziehe, war guter Rat (damals übrigens auch das Telefonieren) teuer. Der Rat vom Heimatplaneten erreichte mich ausserdem etwas verzögert; zudem verstehen die hinter dem Mond halt auch nicht alles, was weit weg in der Stadt passiert.
Das Gefühl war befremdlich. Im wahrsten Wortsinn. Die Stadt hat nämlich auf niemanden gewartet, schon gar nicht auf mich. Ich lese ein Buch, das es gut beschreibt: In «Der Marsianer» von Andy Weir (verfilmt mit Matt Damon) strandet die Hauptfigur, ein Astronaut, als einziger Überlebender auf dem Mars. Während dieser Astronaut Maschinen für Sauerstoff und Wasserproduktion zur Verfügung hat, muss er kurzerhand zum Selbstversorger avancieren – die Vorräte sind knapp. Mit Kartoffelstücken, Dünger von sich und etwas Erde von der Erde baut er einen Kartoffelacker an. Als er in einer chemischen Reaktion zusätzliches Wasser für diese Pflänzchen aus H- und O2-Tanks gewinnen will, jagt er beinahe die Wohnraumkapsel in die Luft, die ihn und die Pflanzen vor der Kälte auf dem Mars schützt.
Nicht dass ich einen Kartoffelacker in der Wohnung hätte. Ich vermisse allerdings das Ansäen und Ernten als Anschein der Selbstversorgung. Wenn ich also in der Küche, in meinem Kokosnuss-Faser-Schalen-Garten Radieschensprossen ansäe, dann fühle ich mit Andy Weirs Romanfigur. Bei mir sieht es ehrlich gesagt gerade etwas kritisch aus, das mit dem Ernten und Selbstversorgersein. Erschwerend kommt hinzu: In meiner schlecht isolierten Stadtwohnung schützt mich und die Pflanzen die alte Heizung nicht immer vor der Kälte – auf der Erde. Ich bediene kurzerhand ein etwas in die Jahre gekommenes Cheminée, mit der Reaktion aus N, O2, knisternder, trockener Tanne und aromatischem Ahorn setze ich beinahe den 70-jährigen Fischgrät und damit die Wohnung (Kapsel) in Brand.
Aber ich bin ja nicht auf dem Mars. Wie also lebt man, wenn man schon überlebt? Das ist eine Frage, die mich (und übrigens auch den Romanhelden in der Freizeit) enorm beschäftigt hat in der Zeit um Corona herum, also 2020-2023. Wo finde ich andere Astronauten, die so drauf sind wie ich, was ist die Szene hier? Durch geschäftliche Reisen oder für mein Doktorat in Berlin und Boston habe ich schon festgestellt, dass es gar nicht so einfach ist, eine Stadt und deren Gruppen wirklich kennenzulernen – oder die dort Ansässigen für sich zu begeistern. Je nach Stadt gibt es relativ wenig Zeit, die man hat, um sich vorzustellen, und relativ viel Konkurrenz mit interessanten Menschen, die sich gekonnt als relevante Kontakte positionieren. Die Aufmerksamkeitsspanne der Menschen dort ist kurz.
Darum: Aufmerksamkeit anziehen, sich schnell, sich gut verkaufen. Das klappt kaum, wenn man an wissenschaftlich, düster und unheimlich denkt, wie in meinem Science-Fiction-Vergleich. Wir brauchen mehr Charme und Attraktion. Sowas wie in Big Bang Theorie: ein bisschen Nerd, aber make it sexy. Elite-Stadtner. City-Tinder, Cynder... anyway. Wie ich sagte – eine Dating-Phase mit der Stadt, aber mehr so für Ehe, nicht für One-Year-Stand. Jedenfalls, ich matche Zürich und dann plane ich ein Date mit ihr. Auf jedem der 10 Profil-Fotos sieht sie zwar ein bisschen anders aus, die Stadt, man weiss nie genau, wie alt sie wirklich ist – aber facettenreich ist sie.
Einmal als Workaholic, professionell, zugeknöpft, diskret – ein anderes Mal auch bunt, wild und zügellos. Sie ist gut gekleidet, manchmal etwas exzentrisch. Leute sagen, sie sei eingebildet, aber was ich wahrnehme, ist eher eine sehr selbstbewusste Person mit diversen Interessen. Sie wickelt mich charmant und direkt mit ihren Facetten um den Finger, versprüht Intensität, Inspiration. Diese Stadt ist mit hoher Wahrscheinlichkeit in Therapie gewesen, hat schon mal die Karriere gewechselt, sie zieht mich und wahrscheinlich uns alle in den Bann.
Wir schreiben das Jahr 2021 – und ich komme langsam bei ihr an, im Sommer ist das wunderbar: Beim Schwimmen, Segeln, mit Seeufer-Trips, mit langen Spaziergängen und Gesprächen. Und ich fange an zu verstehen. Die Stadt ist nicht eine Person, sie hat Kreise, Departments, Quarters – also eine ganze Verwandtschaft mit gleichem Namen: Nicht alle verstehen sich, aber sie leben alle nahe beieinander. Damit kenne ich mich wiederum sehr gut aus. Also treffe ich nach und nach Zürichs Verwandte der Kreise, die alle ein bisschen anders aussehen. Alle mag ich auf ihre Art und Weise. Ich habe ein paar dieser Orte ausgesucht und kurz beschrieben – alle Figuren sind fiktiv, sollten sie denn echten Menschen gleichkommen, so will das der Zufall eben.
Die Rote Fabrik:
Die ältere Dame, die Linksbewegungen sehr toll findet, nur Secondhand trägt, auch in der Midlife-Phase noch sprayt und rostrote Locken zur Schau stellt.
Der Escher-Wyss-Platz:
Der Herr im blauen Overall, turbo-lenter Charakter, roter Backstein-Backen, unternehmerfreundlich, abends wechselt er überraschend in die zerrissenen Jeans, ein Hemd und Doc Martens für Moules-frites.
Letten:
Die ganzkörpertätowierten und braungebrannten Zwillinge links und rechts der Limmat tragen kaum Klamotten im Sommer, sondern nur Shorts und Skateboard – und wenn, dann the latest shit – sie sieht man viel rauchen und Partys schmeissen; kunstschaffende und Kaffee betreibende Communitys scharen sich um sie.
Das Seefeld:
Ein bunter und sehr elegant gekleideter Herr Mitte 40, mit Schal, der am See Motorboot fährt, immer in weissen Leinenhemden, im Winter ist er in der Sauna und fährt in den Nachbarkanton zum Skifahren.
Finden sie sich oder andere wieder?
Nun – und dann ist da noch die Mitastronautenschaft, die auch auf dem Planeten lebt: So lange habe ich in den Städten der Welt als Gast gelebt, und nun, da ich ankomme, finde ich die Welt in Zürichs Vierteln zu Gast. Wir sind alle Einwanderer in Städten – entweder jetzt oder Generationen vorher. Diese anderen Astronauten teilen so viele Ideen mit mir und ihre Perspektive auf das Leben in der Stadt, egal, woher sie angeflogen kamen.
Eine Freundin aus der Ukraine lebt am Letten. In einer WG. Sie kuratiert TED-Talks und ist Informatikerin, sie sehe ich regelmässig für einen Austausch. Wir reden weniger über die Nachrichten als über die Leben, die wir führen in Städten. Über die Kontakte, die wir knüpfen, wie Frauen und Finanzen als Thema wichtig sind – und was wir planen, gegen unsere Pensionslücke zu tun. Meine Nachbarin in Hottingen hat Wurzeln im Libanon, in Frankreich und den USA. Wir reden beide darüber, wie eine schuhschachtelgrosse Wohnung ein Vermögen kostet in New York. Und dass Zürich dagegen günstiger erscheint. Mit mehr Grün.
Ein Job-Angebot dort habe ich damals abgelehnt: Wie es wohl heute wäre, dort zu leben? Wahrscheinlich sehr anstrengend, mit fast 10 Millionen in einer Stadt.
Eine Wissenschaftlerin und Freundin aus China treffe ich zusammen mit ihrem Mann und Sohn gelegentlich. Sie kann einreisen nach China, ihre Mutter das Land aber nicht mehr verlassen. Sie erzählt mir von ihrer Stadt. Wir sprechen über Wohnen: Es sei absolut normal, dass man sich um seine Familie kümmere, denn eine Altersvorsorge gibt es nicht in China. Und daher sei Wohneigentum sowieso eine Seltenheit.
Eine finnische Kollegin von Höngg, die für eine Wohltätigkeitsorganisation tätig ist, erzählt mir, die Situation liesse sich vielleicht über neue Wohnformen ändern – aber dafür braucht es Toleranz. Vielleicht mit einem Konzept wie dem Zollhaus, das sie bewohnte. Dort leben viele Menschen in Nestern – die Räume sind schätzungsweise 4 Meter hoch, und die Nester, die sie mit Leitern erklimmen können, besetzen nur die oberen 2 Meter. Diese Nester räumen jeder Person 16 Quadratmeter ein. Der «Boden» ist mit einer Dusche und einer Küche zum Teilen ausgestattet und mit Gemeinschaftsplätzen. Türen gibt es ausserhalb der Nester nicht. In der Münchner Studenten-Stadt gibt es ähnliche Konzepte für Einzelpersonen. In einem Container lebt eine Person, auf einer Fläche von durchschnittlich 7 Quadratmetern, darin passt ein Ausziehbett, eine Dusche im Eingangsbereich und eine kleine Küche. Wie viele Quadratmeter brauchen sie, um unbesorgt leben zu können? Das hat Max Frisch gefragt. Und ich frage mich das auch.
In den letzten 50 Jahren kam es laut Bundesamt zu einer Verdreifachung der Einzelhaushalte – ausserdem werden wir Menschen immer älter. Wie gehen wir damit um? Damit wird der Platz, den wir pro Person für uns beanspruchen, grösser – wir sind aber weit weg von der Dichte Tokyos, Istanbuls, New Yorks oder gar Manilas. In Zürich lebt man locker – 450'000 Menschen; 2016 erfasst man Menschen aus über 160 Kulturen. Oft teilt man sich seit Studentenzeiten eine WG – als Dauer-Wohnform – denn die Luft zum Leben kann für eine Person im Kreise 1, 2 und 3 sehr hoch bepreist sein. Mittlerweile bin ich leitende Angestellte und falle aus dem Redefenster, das ich heute bespielen darf. Deshalb habe ich Platz und Möglichkeiten, alleine gross zu wohnen.
Das heisst: Das Raumschiffleben ist auf den Quadratmetern, die ich bewohne, sehr spacy. Also teile ich mir die Wohnung. Und das erlebe ich als Bereicherung: Andere Menschen betreten die Räume, und unser Wohnzimmer wird ab und an zur Sternwarte in die Galaxie, da wo wir herkommen. Und das wird das neue Zuhause: Statt Rasen auf dem Planeten Stadt betrete ich im Zentrum den Wildwuchs der Ideen und Stimmen. Dort finden sich die Blumen- und Streuobstwiesen der Persönlichkeiten und man erkundet Lebensräume, sät Fragen, erntet im besten Klima interessante Einsichten.
Sie merken, diese Geschichte endet nicht wie beim Film mit Matt Damon; weder bin ich alleine auf Mission noch bedroht. Die Expedition in die Stadt ist ein Erfolg – es ist die Zukunftsform. Stadt ist für mich Zukunft. Die Stadt orientiert sich an der gesamten Planeten-Population. Es geht ein bisschen weniger ums Besitzen, ein bisschen weniger um die Autarkie und ein bisschen mehr ums Miteinander, seitdem ich in der Stadt angekommen bin. Obwohl ich aus der Welt der Eigentums-Denker komme, mit Grund, Boden, Häusern und Geschichte, ist die Identität von mir eine andere. Und so fällt mir der Spagat leicht, egal in welcher Stadt ich bin: Ob es um Proteste oder potentielle Volksbegehren geht. Linkes Seeufer für alle, und alle für das Seeufer. Ich würde nicht zurückkehren und damit habe ich mich vom Besitz der Generation verabschiedet. Das werden vielleicht in Zukunft noch mehr Menschen tun.
Ich möchte einen Moment innehalten – Angelehnt an Max Frisch gibt es einen kleinen Fragebogen, den sie erhalten haben oder noch erhalten. Bitte beantworten Sie diese Fragen zusammen mit 1-3 Personen um sie herum nach dem Ende der Rede. Sie sind auf Merkblättern aufgeschrieben, die sie anfangs erhalten haben.
Für heute entlasse ich sie mit einem kleinen Poetry Slam in die Nacht.
Der Pace der Stadt. Dort müssen sie laufen –
keiner hat Zeit,
denn die kannst du nicht kaufen
Sonst gibt's dort alles und für jeden
in der City kämpft jeder fürs Dort-Leben.
–
Die Stadt ändert alles, damit sie so bleibt
wo vorher der Schuster war, ist jetzt ne Bar im Kreis Cheib
Wir würden uns gern die Zukunft bewahren
– der Club wird auch den Wandel der Stadt erfahren
–
Wir sind alle Stadt und Städter
wollen höher, weiter, hoffentlich netter
Also lasst uns die lieben, die dort leben
1x Universum liegt in dem Menschen daneben
ich wünsch uns weniger Wohnungsmiete
statt lebenslange Mietkredite
und die Neugier das neu anzuschauen
aus was wir uns den Stadt-Alltag bauen.
–
Fragen sie sich: Wenn ich Alien wär –
was könnt ich heute Gutes tun, und wie viel Ufos verträgt der Verkehr?
Vielleicht lässt sich mit diesem Denken
mehr Richtung Stadt der Zukunft schwenken
–
Aus Karlas Fenstern, die die Stadt beschallen
entlass ich sie – und wünsche allen
die Neugierde für Neuanfang
mit Sternenstaub und Raumschiffklang:
Instead of lonely living and elderly foster
I hope we all live long, communal, and prosper.
Danke fürs Kommen und Mitmachen. Fliegen sie gut nach Hause.
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