Tram-Attacke Zürich: Stadträtin Rykart weist Verantwortung von sich
Hat die Polizei das Verhindern einer Besetzung höher gewichtet als den Schutz einer Frau? Sicherheitsvorsteherin Karin Rykart im Interview zum Vorfall am Knabenschiessensamstag.
Tsüri.ch: Am vorletzten Wochenende konnte die Stadtpolizei einer Frau nicht helfen, die im Tram angegriffen wurde. Die Polizei begründet dies mit fehlenden Ressourcen wegen Knabenschiessen, Verkehrsunfällen und weil beim Kasernenareal eine versuchte Besetzung stattfand.
Warum konnte die Polizei nicht zwei Einsatzkräfte zum Schutz der Frau abziehen?
Karin Rykart: Der vorletzte Samstag war ein Extremfall. Zum Zeitpunkt, als der Anruf der Frau bei der Notrufzentrale reinkam, gab es keine Patrouille, die man losschicken konnte. Alle Einsatzkräfte waren eingebunden, man konnte nicht einfach zwei Polizist:innen von der Kaserne abziehen. Die Polizei wurde dort massiv angegriffen, sie wurde mit grossen Steinen beworfen. Ein Polizist wurde getroffen. Zum Glück wurde er nicht verletzt. Solche Situationen sind sehr dynamisch.
Der Angriff auf die Frau war bereits schlimm, es hätte jedoch noch Schlimmeres passieren können. Muss die Polizei für Notfälle keine Reserven haben oder spontan die Einsatzkräfte verschieben können?
Ich hoffe nicht, dass es noch einmal zu einer solchen Situation kommt. Was passiert ist, tut mir unendlich leid. Aber eine hundertprozentige Sicherheit, dass man immer ausrücken kann, wenn etwas Schlimmes passiert, können wir nicht geben. Unsere Leute sind rund um die Uhr im Einsatz. Sicherheit im öffentlichen Raum ist enorm wichtig, auch für die Lebensqualität in der Stadt Zürich. Doch die Situation hat auch aufgezeigt, was die Grenzen des Machbaren sind.
«Es ist nicht meine Aufgabe, bei der operativen Polizeiarbeit die Prioritäten zu setzen. Mein Job ist es, dafür zu sorgen, dass die Stadtpolizei ihren Auftrag erfüllen kann.»
Karin Rykart (Grüne), Vorsteherin Sicherheitsdepartement
Die letzten Platzbesetzungen, etwa die Kasernenbesetzung 2024, verliefen weitgehend friedlich. War dieser Grosseinsatz verhältnismässig – oder hätte nicht ein reduzierter Einsatz deeskalierender gewirkt?
Dieses Jahr hatte die Stadtpolizei vorher Kenntnis, dass am Freitag eine Besetzung stattfinden könnte. Deshalb konnte sie eine Besetzung des Platzspitz verhindern. Auch am Samstag war sie deshalb verstärkt in der Innenstadt präsent und konnte umgehend reagieren, als sie vom Besetzungsversuch auf dem Kasernenareal erfuhr. Letztes Jahr rückte die Polizei erst an, als die Kaserne schon besetzt war. Aus Gründen der Verhältnismässigkeit hat sie das Areal damals nicht geräumt. Das war an diesem Wochenende anders. Da haben die Besetzer:innen bewusst in Kauf genommen, dass Polizist:innen schwer verletzt werden. Das verurteile ich aufs Schärfste.
Hat die Polizei an diesem Abend das Verhindern einer Besetzung höher gewichtet als den Schutz dieser Frau?
Diesen Vorwurf weise ich zurück. Der letzte Samstag war ein Extremfall, wo viele Ereignisse zusammengekommen sind. Wenn die Polizei vorher Kenntnis hat, dass eine solche Besetzung stattfinden könnte, dann muss sie diese verhindern, wenn der Einsatz verhältnismässig ist. So steht es im Polizeigesetz. Ich mische mich bei der Einsatzplanung nicht ein – das ist auch nicht mein Job.
Die Einsatzplanung ist nicht Ihr Job, aber Sie sind die politisch Verantwortliche der Stadtpolizei. Was ist Ihnen wichtiger, die Verhinderung einer Platzbesetzung oder der physische Schutz der Stadtbevölkerung?
Wie gesagt: Es ist nicht meine Aufgabe, bei der operativen Polizeiarbeit die Prioritäten zu setzen. Mein Job ist es, dafür zu sorgen, dass die Stadtpolizei ihren Auftrag erfüllen kann. Ich habe in der Budgetdebatte im Gemeinderat mehrmals gesagt, dass wir mehr Leute brauchen, auch weil die Bevölkerung wächst. In Zürich ist rund um die Uhr etwas los, wir haben eine 24-Stunden-Gesellschaft. Im Durchschnitt findet in Zürich fast täglich eine Demonstration statt, nahezu jedes Wochenende gibt es eine Grossveranstaltung. An diesem Wochenende ist extrem viel zusammengekommen. Es tut mir sehr leid für diese Frau, dass ihr nicht geholfen werden konnte.
War die Einsatzplanung am vorletzten Samstag ein Fehler?
Nein.
Seit längerem fordern Sie 150 zusätzliche Stellen, so auch wieder letzte Woche im Gemeinderat. Die linke Mehrheit monierte, dass trotz zusätzlichem Budget die Stellen nicht besetzt werden können. Löst man das Personalproblem, indem man das Budget aufstockt, oder müsste man anderswo ansetzen?
Wir brauchen bis 2030 jährlich zusätzlich 17 Polizist:innen, so steht es in unserem Bericht «Stellenerhöhung bei der Stadtpolizei bis ins Jahr 2030». Hintergrund ist das Bevölkerungswachstum und die zunehmende Belastung, besonders an Wochenenden. Aktuell sind 89 Stellen unbesetzt, was auch am Fachkräftemangel liegt. Die Stadtpolizei gilt als sehr gute Ausbildungsstätte, weshalb unsere Absolvent:innen stark nachgefragt sind.
«Die Vereinbarkeit mit dem Privatleben ist schwierig. Und ja, dann ist es eine Herausforderung, die Leute zu halten.»
Karin Rykart (Grüne), Vorsteherin Sicherheitsdepartement
Dann ist das Problem, dass sie die Leute nicht halten können?
Intern gibt es viel Kritik: kaum freie Wochenenden, Überstunden, die nicht eingehalten werden können.
Polizeiarbeit ist belastend, besonders wegen vieler Wochenendeinsätze und Ordnungsdiensten. Die Vereinbarkeit mit dem Privatleben ist schwierig. Und ja, dann ist es eine Herausforderung, die Leute zu halten. Dafür treffen wir verschiedene Massnahmen. Teilzeit ist ein grosses Thema; dass man etwa Frauen nach dem Mutterschaftsurlaub ein Angebot machen kann, damit sie zurückkehren. Wir verfolgen verschiedene Ansätze, um eine attraktive Arbeitgeberin zu sein. Aber natürlich brauchen wir die Leute auf der Strasse und wir brauchen sie am Wochenende. Polizeiarbeit ist kein klassischer Bürojob.
Zusammenfassend kann man sagen: Mehr Budget allein reicht nicht – auch die Arbeitsbedingungen müssen verbessert werden.
Beides hängt zusammen. Wenn man mehr Personal hat, sind die Arbeitsbedingungen besser und die Belastungen kleiner. Und dann bleiben die Personen auch bei der Stadtpolizei.
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Aufgewachsen am linken Zürichseeufer, Master in Geschichte und Medienwissenschaft an der Universität Basel. Praktikum beim SRF Kassensturz, während dem Studium Journalistin bei der Zürichsee-Zeitung. Wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem SNF-Forschungsprojekt zu Innovation im Lokaljournalismus. Seit 2021 Mitglied der Geschäftsleitung von We.Publish. Seit 2023 Redaktorin bei Tsüri.ch.
An der Universität Zürich hat Simon Politikwissenschaften und Publizistik studiert. Nach einem Praktikum bei Watson machte er sich selbstständig und hat zusammen mit einer Gruppe von motivierten Journalist:innen 2015 Tsüri.ch gegründet und vorangetrieben. Seit 2023 teilt er die Geschäftsleitung mit Elio und Nina. Sein Engagement für die Branche geht über die Stadtgrenze hinaus: Er ist Gründungsmitglied und Co-Präsident des Verbands Medien mit Zukunft und macht sich dort für die Zukunft dieser Branche stark. Zudem ist er Vize-Präsident des Gönnervereins für den Presserat und Jury-Mitglied des Zürcher Journalistenpreises. 2024 wurde er zum Lokaljournalist des Jahres gewählt.